Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert

Vortrag, gehalten in Hamburg am 29. Dezember 1909
Autor: Nordau, Max geb. als Maximilian Simon Südfeld (1849-1923) Arzt, Schriftsteller, Journalist und Politiker, Erscheinungsjahr: 1911
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Judenschaft, Geschichte der Juden, Geschicke des jüdischen Volkes, Antisemitismus, Fremdenrechte, Gleichstellung, Gotteskindschaft, Glaubensunterschied
... Die Juden ergaben sich in ihr Los von ewigen Fremdlingen, die viele Jahrhunderte hindurch auch äußerlich durch vorgeschriebene Merkmale an den Kleidern und durch einen besondern Haar- und Bartschnitt als solche gekennzeichnet waren. Das wohlige Behagen des Heimischseins blieb ihnen versagt. Sie kannten es höchstens als eine Sehnsucht, als einen Glückstraum, der sich auf Erden nicht verwirklichen kann. Sie fanden sich damit ab, dauernd das ägyptische Osterdasein zu leben, die Lenden gegürtet, den Wanderstab in der Hand, das hastig gedörrte Brot ohne Sauerteig im geschnürten Bündel ...
Meine Damen und Herren,

Nächst dem 1. Jahrhundert nach Christi Geburt, in das die Zerstörung des zweiten Tempels und des jüdischen Staates durch die Römer fällt, sind das 19. und das begonnene 20. Jahrhundert die wichtigsten Abschnitte der Geschichte des jüdischen Volkes, diejenigen, die für seine Erdengeschicke die entscheidendsten sind, indem ich diese Behauptung aufstelle, weiß ich mich durchaus frei von jener besonderen subjektiven Illusion, die der kürzlich verstorbene Grazer Soziologe Professor Gumplowicz mit einem glücklich geprägten Fremdworte Akrochronismus nannte und die darin besteht, dass man sich einbildet, die Zeit, in der man selbst lebt, sei die merkwürdigste und bedeutungsvollste aller Zeiten. Gestatten Sie mir, die objektiven Gründe kurz zu entwickeln, aus welchen ich dem 19. und 20. Jahrhundert die Bedeutung einer Schicksalswende für das jüdische Volk beimesse.

Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts war der Rechtsstand der Juden in den europäischen Ländern und ihr Verhältnis zu den Völkern, in deren Mitte sie lebten, weder schwankend noch zweifelhaft. Alle Welt war darin einig, sie als Fremde zu betrachten. So sahen Regierungen und Völker, so sahen sie selbst sich an. Ob man sich wohlwollend oder feindlich zu ihnen stellte, ob sie willkommen oder lästig waren, ob man sie gastlich aufnahm oder sich weigerte, sie bei sich zu dulden, als Fremde empfand man sie in jedem Falle, und alle ihre öffentlichen und privaten Beziehungen waren vom Fremdenrechte bestimmt, und zwar dem schlechtesten Fremdenrechte, demjenigen, das nicht auf Vertrag und Gegenseitigkeit beruhte und keine andere Sanktion hatte als die Bereitwilligkeit des Stärkeren, sich altem Herkommen zu fügen und einiges Mitleid walten zu lassen.

Dass die Juden dauernd und unabänderlich als Fremde angesehen wurden, auch wenn sie seit Jahrhunderten in einem Lande siedelten, auch wenn sie es weit länger bewohnten als das Volk, das sie Fremde nannte, das hat seine Erklärung in ihrer Geschichte, in der herrschenden Rechtsordnung, in der allgemeinen Weltanschauung.

Zu einer Zeit, als der Geschichtssinn ebenso unentwickelt war wie die Geschichtskenntnis und selbst die Gebildeten, oder was man damals so nannte, von der Vergangenheit ihres Volkes, so weit sie sich überhaupt um sie kümmerten, die abenteuerlichsten und fabelhaftesten Vorstellungen hatten, war das einzige Volk, dessen Geschichte in ihren großen Zügen jedermann kannte, das jüdische. Es gab nur ein Buch, das durch die ganze gesittete und halbgesittete Welt verbreitet war, und das war die Bibel. Jedermann kannte sie. Die Geistlichen und Schriftgelehrten lasen sie, das Volk erfuhr manches aus ihrem Inhalt durch die Predigt, die Mysterien, die bildlichen Darstellungen in Kirchen und Klöstern. Aus der Bibel kannte man ungefähr die äußeren Geschicke des jüdischen Volkes. Man wusste, dass es einst das auserwählte Volk Gottes gewesen war, sein eigenes Land mit der herrlichen Stadt Jerusalem und dem Wunderwerke des heiligen Tempels gehabt hatte, daraus mit dem Schwerte verjagt und in alle Welt zerstreut worden war. Es hatte dieses Unglück durch eine unerhörte und unsühnbare Missetat verdient: durch die verstockte Zurückstoßung des Heils und desjenigen, der es ihm brachte, durch einen ruchlosen Justizmord an dem Gottessohn, der als eine der Personen der Dreifaltigkeit Gott selbst war. Die Bibel erinnerte beständig an die Herkunft der Juden aus dem fernen Morgenlande, und auch daran, dass sie Besiegte, Landflüchtige, mit einem besondern Fluche Beladene waren, dass Heimatlosigkeit als ewige Strafe über sie verhängt war. Jede Wanderung, jeder Volkseinfall in ein Land wurde nach einigen Geschlechtsaltern vergessen. Die Franken waren bald keine Fremden in dem nach ihnen benannten Gallien, die Langobarden keine in dem Oberitalien, dem sie gleichfalls ihren Namen gaben; die Normannen waren keine Fremden in England, die Magyaren keine in Ungarn, die Osmanen keine in Byzanz.

Die Juden blieben immer Fremde; denn sie waren nicht als Eroberer gekommen, hatten sich auch nicht lautlos und unbemerkt eingeschlichen, sondern ihre Einwanderung war eine vergebliche Flucht vor einem unentrinnbaren Verhängnis, sie war ein denkwürdiges Ereignis, das mystische Zusammenhänge mit der Religion hatte und das die Kirche dem Volksbewusstsein beständig gegenwärtig hielt. Die Kenntnis der Ursprünge aller anderen Klassen und Stämme eines Volkes verdämmerte rasch. Bloß den Juden gegenüber konnte dieser Vorgang nicht Platz greifen. Die Bibel hielt das Gedächtnis der Völker frisch. Der zweite Grund, weshalb die Juden von den Völkern dauernd als Fremde aufgefasst werden mussten, war, dass sie nie förmlich in ihre Rechtsgemeinschaft aufgenommen worden waren. Im ganzen Mittelalter und noch weit darüber hinaus war der Begriff natürlicher Rechte, die dem Menschen angeboren sind und nie verjähren, gänzlich unbekannt. Ein jeder besaß nur die Rechte, die ihm ausdrücklich in bestimmter gültiger Form verliehen wurden, und keine anderen. Die Quelle alles Rechts war das Schwert, war die Macht. Der Landesherr allein zog jedem seiner Untertanen den Rechtskreis, in dem er leben musste und sich bewegen durfte. Er konnte seine Vollmacht auf andere übertragen, aber in letzter Reihe ging jedes Recht auf ihn zurück und musste von ihm erworben, sei es in Gnaden erlangt, sei es ihm abgetrotzt werden. Jedes Recht musste sich mit Brief und Siegel ausweisen. Was sich nicht auf eine Verleihungsurkunde oder eine wohlbezeugte rechtssymbolische Handlung berufen konnte, das bestand nicht. Alle Rechte der Stände, der Gilden, Zünfte und Innungen, der Städte und Gemeinden, mussten ihre ordnungsmäßigen Standespapiere besitzen, was ihre Nutznießer allerdings nicht der Notwendigkeit enthob, jederzeit zu ihrer Verteidigung mit bewaffneter Faust bereit zu sein. Was kein Pergament besaß, das war rechtlos, das war vogelfrei. Aber dieser Zustand der Ausgeschlossenheit aus dem Gefüge der verbrieften Rechte schien dem mittelalterlichen Denken so ungeheuerlich, dass es sich ihn kaum vorstellen konnte und z. B. selbst den fahrenden Leuten, den fremden Marktfahrern von unbekannter Herkunft, den forenses, die grundsätzlich keinen Rechtsstand hatten, wenigstens ein Gewohnheitsrecht zubilligte, das eine Art Parodie des wirklichen Rechtes war. Bettler und Gaukler bildeten eine Zunft nach dem Muster der ehrbaren Zünfte sässiger bürgerlicher Handwerker, Possenreißer und Taschendiebe hatten ihre Vorsteher und Könige, die von den Behörden anerkannt wurden, und wir kennen aus den mittelalterlichen Urkunden sogar die Einrichtung der Abbatessa mulierum levium, „Äbtissin der leichtfertigen Frauenzimmer“. Die Juden allein standen außerhalb dieser festgefügten Rechtsordnung, in die alle anderen Landesbewohner eingeschachtelt waren. Für sie war in keiner der Zellen des ständischen Gemeinwesens Raum. Sie hatten keinen Anteil an den Vorrechten einer Klasse oder an dem Freibrief einer Stadt. Sie wurden in keine Zunft aufgenommen. Sie konnten sich auf keine verliehenen Gerechtsame berufen. Die Urkunden, die über sie ausgestellt wurden, erteilten ihnen keine Rechte, sondern schlossen sie ausdrücklich aus dem gemeinen Rechte aus. Sie erhielten höchstens Schutzbriefe, die im besten Fall auf eine bestimmte Frist lauteten, in der Regel aber nach Willkür zurückgenommen werden konnten und oft genug unbedenklich gebrochen wurden. Man duldete sie, so weit sie nötig oder nützlich schienen, und verjagte sie, wenn man ihrer Dienste nicht zu bedürfen glaubte. Diese Rechtlosigkeit drückte den Juden für eine mittelalterliche Anschauung den unverwischbaren Stempel der Fremdheit auf und ließ die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit mit den christlichen Landsleuten nicht aufkommen.

Der dritte und überragendste Grund aber, aus dem sie immer als fremd empfunden werden mussten, war der Unterschied der Religion. Diese war damals das einzige einigende Band nicht materieller Natur zwischen den Menschen. Ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl als das der Glaubensgemeinschaft kannten sie nicht. Der Begriff der Menschheit und der Brüderlichkeit im Menschentum, zu dem die edelsten Hellenen und die großen Propheten Israels sich erhoben hatten, war der feudalen Welt verloren gegangen. Vaterlandsliebe und Nationalgefühl sollten erst später erwachen. Ganz vereinzelt mochten sich einige Geister der Auslese zu einer gewissen Duldung gegen Andersgläubige durchringen, die mit einer starken Beimischung von mitleidiger Geringschätzung versetzt war, doch im allgemeinen betrachtete man in den Jahrhunderten des Glaubens den Bekenner einer andern als der herrschenden Religion als im Grunde gar nicht zur Menschheit gehörig. Er hatte keinen Anspruch auf die Würde der Gotteskindschaft. Man schuldete ihm keine Rücksicht. Er war ein Heide, das heißt ein Untermensch, kaum mehr als ein Tier. In dieser Anschauung begegnete der Moslem sich mit dem Christen. Bei der überragenden Bedeutung, der Religion im Leben der Einzelnen wie der Gesamtheiten jener Zeiten musste der Glaubensunterschied zwischen den Juden und den Völkern, in deren Mitte sie lebten, eine unübersteigbare Scheidewand aufrichten. Über Verschiedenheiten der Sprache, der Sitten und Bräuche, selbst der Hautfarbe, kam das Bewusstsein der früheren Jahrhunderte leicht hinweg, über solche der Religion niemals.

Die Juden ergaben sich in ihr Los von ewigen Fremdlingen, die viele Jahrhunderte hindurch auch äußerlich durch vorgeschriebene Merkmale an den Kleidern und durch einen besondern Haar- und Bartschnitt als solche gekennzeichnet waren. Das wohlige Behagen des Heimischseins blieb ihnen versagt. Sie kannten es höchstens als eine Sehnsucht, als einen Glückstraum, der sich auf Erden nicht verwirklichen kann. Sie fanden sich damit ab, dauernd das ägyptische Osterdasein zu leben, die Lenden gegürtet, den Wanderstab in der Hand, das hastig gedörrte Brot ohne Sauerteig im geschnürten Bündel.

Es ist ein Gemeinplatz, es ein Wunder zu nennen, dass die Juden sich inmitten der sie umgebenden Widerwärtigkeiten erhalten konnten, dass das Judentum die schrecklichen Jahrhunderte der Verfolgung überdauerte. Vielleicht ist dies weniger wunderbar als es scheint. Es erklärt sich, glaube ich, natürlich genug.

Einmal waren die Verfolgungen keine planmäßigen Veranstaltungen, die in allen christlichen Ländern auf Verabredung gleichzeitig stattfanden. Sie brachen bald hier, bald dort aus, suchten bald diesen, bald jenen Teil der Judenschaft heim, konnten aber das jüdische Volk nicht in seiner Gesamtheit treffen, da es durch die ganze Weh zerstreut und niemals ganz und gar der Gnade eines einzigen Volkes ausgeliefert war. Das jüdische Volk war nicht organisiert. Es hatte keinen Mittelpunkt. Es hatte kein Haupt und Hirn. Es war unmöglich, es durch einen einzigen Streich tödlich zu treffen. Es zerfiel in unzählige Zellen, deren jede ihr besonderes Dasein führte. Es hatte tausend Leben und jedes hätte für sich vernichtet werden müssen, damit das jüdische Volk zu leben aufhöre. Der Mangel einer nationalen Organisation, einer einheitlichen Zusammenfassung seiner materiellen und geistigen Kräfte hatte den ungeheueren Nachteil, es zu jeder höhern Volksleistung unfähig zu machen. Er hatte den einen Vorteil, ihm die Unzerstörbarkeit zu sichern. Sie kennen ohne Zweifel alle den häufig wiederholten Versuch an gewissen wenig differenzierten Organismen, in denen das Leben durch den ganzen Leib nahezu gleichmäßig verteilt ist. Man kann beispielsweise den Süßwasserpolypen in unzählige kleine Stückchen zerschneiden. Diese Zerstückelung tötet ihn nicht. Jedes winzige Stückchen ist der Träger seines eigenen dumpfen, niedrigen, trägen Lebens, es überdauert die Zerschneidung, es lebt weiter und wächst sich allmählich zu einem ganzen Polypen heraus. Eine Operation, die den Süßwasserpolypen zerstören sollte, hat nur die Folge gehabt, so viel neue vollständige Exemplare zu schaffen, als man Stücke aus dem ersten geschnitten hat. Ähnlich hatte jede Zerreißung und Zersprengung der jüdischen Gemeinden, so weit sie nicht Mann für Mann hingeschlachtet wurden, nur die Wirkung, an anderen Stellen zahllose neue kleine Zentren zu schaffen, die sich, wenn ihnen dazu die Zeit gelassen wurde, zu ebenso vielen Vollgemeinden auswuchsen.

Den Feinden des jüdischen Volkes hat es nie an dem guten Willen gefehlt, ganze Arbeit zu tun. Hätten König Richard Löwenherz von England, Philipp der Schöne von Frankreich, die Kirchenfürsten, weltlichen Herren und Reichsstädte des Rheinlandes zur Zeit der schwärzen Pest, Ferdinand und Isabella von Spanien nach der Eroberung von Granada das ganze jüdische Volk in ihrem Machtbereich gehabt, sie würden es wahrscheinlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben. Sie konnten aber nur Bruchteile erreichen. Gegen diese wüteten sie ohne Erbarmen. Sie vergossen Ströme jüdischen Blutes. Sie schonten das Kind im Mutterleibe nicht. Aber die Grenze ihres Landes setzte ihrem Würgen ein Ziel und ihre Gewalttaten berührten die Judenschaft der Nachbarländer nur insofern, als sie die wenigen Flüchtlinge, die dem Verderben entronnen waren, aufzunehmen hatte und durch ihr Erscheinen aus einem etwaigen Gefühle der Sicherheit aufgeschreckt und mit banger Sorge um das eigene Los erfüllt wurde.

Aber wenn die Zerstreuung des jüdischer. Volkes durch die ganze Welt und der Mangel an Gleichzeitigkeit seiner Verjagung, Verfolgung oder Hinmordung an seinen verschiedenen Aufenthaltsorten einfach genug erklären, dass es diese Heimsuchungen materiell überdauern konnte, so bleibt es immer noch erstaunlich, dass es ein derartiges Dasein der äußersten Unsicherheit, des ewigen Bangens und Zagens vor der nächsten Stunde zu ertragen im stände und bereit war. Mit Wundern ging indes auch dies nicht zu. In den Jahrhunderten ihres äußersten Elends lebten die Juden in einem eigentümlichen halluzinatorischen Traumzustand, der sie für die grauenhafte Wirklichkeit wohltuend unempfindlich machte. Sie widmeten ihrer augenblicklichen Lage kaum einen Gedanken, sie versuchten nicht einmal, sich von ihm klare Rechenschaft zu geben. Wenn sie sich aus der dumpfen Ergebung in das Unabänderliche erhoben und den Blick über die engste Gegenwart hinausschweifen ließen, um einen etwas entferntem Gesichtskreis zu befragen, dann stellte die Zukunft sich ihnen als ein blauer Nebel dar, hinter dem sie trotz ihrer Verschleierung eine strahlende Sonne errieten: die Sonne der Messiasverheißung. Die Zuversicht der Erlösung durch den Messias hielt sie aufrecht, wenn das Ungemach sie zermalmen wollte. Ihre unüberwindliche Hoffnung, die nie ein Zweifel anfocht, ließ sie das Unerträgliche ertragen. So sehr der Jude das Leben zu schätzen wusste, so schien es ihm doch weder das höchste noch namentlich das einzige Gut. Er war ganz sicher, dass das Grab die Pforte eines ewigen Daseins der Freude und Seligkeit war, und darum hatte der Tod für ihn keine Schrecken, auch nicht in der grauenhaften Gestalt der Folterbank und des Scheiterhaufens. Für sich rechnete der Jude auf die Auferstehung und das neue, glückliche Leben ohne Ende, für sein Volk rechnete er auf die Befreiung durch den Messias, auf die Rückkehr aus der Zerstreuung, auf die Erhöhung aus der Niedrigkeit, auf die Wiedereinsetzung in die Macht und den Ruhm und die Herrlichkeit. So war der Jenseitsglaube des Individuums und der Diesseitsglaube der Volksgemeinschaft der ausreichende Trost der Juden im Mittelalter, der ohne Wunder ihre zähe Ausdauer in den entsetzlichsten Leiden erklärt und der begreifen lässt, dass sie ein Leben hinnahmen, aus dem selbst das unentbehrliche Mindestmaß von Lustgefühlen anderer als rein geistiger Ordnung abwesend war.

Die Geistesströmungen der europäischen Welt blieben alle diese Jahrhunderte hindurch ohne Einfluss auf das Verhältnis der Juden zu den Völkern. Ein neuer Morgen dämmerte am Gesichtskreis Europas während der Renaissance. „Es ist eine Lust zu leben“, jauchzte Ulrich von Hütten. Die Juden merkten nichts von einer Änderung ihrer Lage. Ein Reuchlin, der sich redlich bemühte, seine Vorurteile gegen das jüdische Volk zu überwinden, war eine ganz vereinzelte Erscheinung;. Die Reformation erschütterte die Herrschaft der römischen Kirche über den Westen und die Mitte unseres Weltteils, die Gegenreformation befestigte sie nach anderthalb Jahrhunderten gewaltigen Ringens wieder, den Juden brachte weder der siegreiche Vorstoß Luthers, Calvins, Zwinglis, noch die erfolgreiche Verteidigung Karls V. und Philipps II., Ignaz von Loyolas und Capistrans irgendeinen Vorteil. Rechtlose Fremde waren, rechtlose Fremde blieben sie, und das Auftreten Sabbatai Zewis wühlte sie weit tiefer auf als alles, was sich in Europa in den 130 Jahren zwischen der Anheftung der 95 Thesen an der Schlosskirchentür von Wittenberg und dem Abschluss des westfälischen Friedens zutrug.

Wir müssen bis zum 18. Jahrhundert gelangen, um ein erstes schüchternes Heraustreten der Juden aus ihrer geistigen Absonderung von den Völkern zu beobachten. Im Mittelalter bestand zwischen der Judenschaft und ihrer nichtjüdischen, genauer: ihrer christlichen Umgebung gar kein innerer Zusammenhang, wie die Juden ihn in den Ländern des Islam mit der maurischen Kultur immer aufrecht hielten. Zwischen den Geistern fand kein Gedankenaustausch statt. Die Quellen, die in dem einen und dem andern Volke sprudelten, mischten ihre Wasser nicht. Die Juden waren immer nur Gebende, niemals Empfangende. Sie schenkten der christlichen Welt Übersetzungen griechischer Philosophen und Mediziner und arabischer Naturkundiger, blieben aber selbst von der Theologie und scholastischen Philosophie, in der sich alle wissenschaftliche Tätigkeit des christlichen Mittelalters erschöpfte, völlig unberührt. Der heilige Thomas von Aquino konnte Maimons „Führer der Verirrten“ tiefsinnige Argumente für die Ewigkeit der Weltmaterie unbeschadet der Schöpfertätigkeit Gottes entlehnen, eine Gegenseitigkeit zwischen christlichen und jüdischen Theologen ist nicht festzustellen. Kein einziger jüdischer Denker des Mittelalters hat sich bei gleichzeitigen christlichen Schriftstellern auch nur die kleinste nachweisbare Anregung geholt. An der Dichtung ihrer Zeit suchten die Juden allerdings mitunter teilzunehmen, aber in der Regel bekam es ihnen schlecht, wie, um nur ein Beispiel anzuführen, dem armen Süßkind von Trimberg, der nach einem Ausflug in die sonnigen Gefilde des Minnegesanges verbittert, enttäuscht und reumütig in die Schatten der Judengasse und zu den frommen übersinnlichen Träumereien der Seinigen heimkehrte.

Doch nun brach das Zeitalter der Aufklärung an. Neue Lichter gingen der europäischen Menschheit auf. Descartes hatte zuerst nach fast zweitausend Jahren robusten Glaubens wieder systematisch zweifeln gelehrt, Spinoza Gott die Persönlichkeit genommen, aber die Welt vergöttlicht und der Sittlichkeit eine andere als die Offenbarungsgrundlage gegeben. Locke die menschlichen Sinne als Quelle aller Erkenntnis gezeigt. Die Enzyklopädie von Bayle fasste alle diese neuen und erneuten Anschauungen übersichtlich zusammen und machte sie verhältnismäßig weiten Kreisen zugänglich. Kant vertiefte Descartes' Skepsis, spitzte Spinozas Ethik zum kategorischen Imperativ zu und baute Lockes Erkenntnistheorie aus. Die Dichtung setzte die neuen Gedankenerträge der Philosophie in Gefühl und künstlerische Schönheit um. Rousseaus Vikar von Savoyen bekannte sich zu einem reinen Gottesglauben ohne dogmatische Kirchlichkeit, der eigentlich ein Glaube an die Großartigkeit der Weltordnung und an die Grundgüte der Menschennatur war. Lessings Nathan erzählte dem mohamedanischen Herrscher seine Parabel von den drei Ringen, die so mild und weise die Gleichwertigkeit aller transzendentalen Überzeugungen predigte und aus der das Gebot der Duldung mit überwältigender Beweiskraft herausklang. Schiller schrieb auf eine Votivtafel mit griechischem Geist und in griechischem Tonfall: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen — die du mir nennst. — Und warum keine? Aus Religion“. Friedrich der Große ließ das geflügelte Wort in die Welt hinausflattern, das man zum erstenmal aus dem Mund eines rechtmäßigen europäischen Königs vernahm:

„In meinen Staaten mag jeder nach seiner Fasson selig werden“.

Josef II. von Österreich suchte rührend ernst und rührend unbeholfen in seinen weiten Reichen die Ideologien eines Aufklärungsapostels zu verwirklichen. Die gewaltige Brandung des neuen Denkens schlug auch an die Mauern des Ghettos und drang wie ferner Donner in die still verborgenen Klausen. Da erhoben sich jüdische Stirnen, die tief über die Folianten des Talmuds gebeugt waren. Da lauschten jüdische Ohren, die sich sonst feindselig oder mindestens gleichgültig gegen die Geräusche der profanen Welt verschlossen. Eine Sehnsucht erwachte in vielen Judenseelen, die neuen Stimmen zu hören und zu verstehen. Wagemutige junge Juden schwärmten entschlossen aus dem Judenviertel hervor und erkühnten sich zu einer Abenteuerfahrt in das Jahrhundert. Der reiche Kaufmannssohn Gomperz aus Berlin schreibt dem damals berühmtesten Weltweisen und geistigen Führer Deutschlands Gottsched in Leipzig einen in seiner Demut ergreifenden Brief, um ihn anzuflehen, ihn, wäre es auch unter den erniedrigendsten Bedingungen, als Schüler zu seinem Kreise zuzulassen, einen Brief, den antisemitische Verständnislosigkeit als kriecherisch und aufdringlich verhöhnen konnte. Moses Mendelssohn schenkt den Juden Deutschlands eine vornehme lebende Umgangs- und Bildungssprache, und zwar mit demselben Mittel, wie Luther zweihundert Jahre vorher dem deutschen Volke: durch die Bibelübersetzung, und erhält, von Lessing als Paten eingeführt, als erster Jude Aufnahme im deutschen Schrifttum. Salomon Maimon taucht tiefer als irgend ein anderer Zeitgenosse in Kants Kritik der reinen Vernunft und übt an der Philosophie des Königsberger Genies die erste Kritik, die zugleich die gründlichste und scharfsinnigste geblieben ist. Ein anderer Jude, der Dr. Hertz, setzt sich als Jünger zu den Füßen Kants und wird der begeistertste Verkünder seiner Lehre. Wenn die Juden sich bisher zu anderen Zwecken als denen des Handels und Broterwerbes in die christliche Welt hinausgewagt hatten, waren sie durch ein lakonisches: ,,Hep! Hep!“ oder ein ausführlicheres: ,,Jude, mach' Mores!“ in das Ghetto zurückgescheucht worden. Jetzt hörten sie froh erstaunt zum erstenmal andere Laute. Herder, nicht nur ein edler Dichter, sondern auch ein hoher Geistlicher der protestantischen Landeskirche, rühmte in den schwungvollsten Ausdrücken der Bewunderung den „Geist der hebräischen Poesie“. Schiller wusste tiefe und starke Worte von der ,,Sendung Mosis“ zu sagen. Der Fürst von Ligne, der geistsprühende Hofmann und Liebling der römischen Kaiser Franz von Lothringen und Josef II., verfasste eine Denkschrift zur Verteidigung der Juden, in der er, der erste christliche Zionist der Neuzeit, die Überlassung des Königreichs Judäa an sie forderte und als Lösung der Judenfrage die Rückkehr der Menge nach Palästina und die rückhaltlose Aufnahme einer Auslese in die europäische Gesellschaft vorschlug. Ein protestantischer Theologe und Jurist wie der Professor Christian von Dohm, ein katholischer Geistlicher wie der Abbe Gregoire, ein Sprössling des französischen Feudaladels wie der Graf Mirabeau forderten mit verschiedenem Talent, doch gleicher Wärme die bürgerliche Gleichstellung der Juden — es hatte sich entschieden etwas in der Welt geändert. Bei den besten Söhnen der Zeit war der Konfessionalismus zu Religiosität geläutert, die Klassen- und Stammesausschließlichkeit zu Humanität erweitert. Humanität und Religiosität aber waren Kategorien, die auch die Juden in sich begriffen oder begreifen konnten. Neue Gefühle zogen in jüdische Herzen ein. Zum erstenmal durften Juden glauben, dass sie in ihren Wohnländern keine Fremden waren. Sie gewannen bisher unbekannte Beziehungen zu ihrer Zeit und ihrer nichtjüdischen Umgebung, Gedankenfaden knüpften sich zwischen den Geistern, Wärmewellen schlugen einander aus den Gemütern entgegen, die Juden nahmen die allgemeine Kultur in sich auf, sie bemühten sich um die Naturalisierung als Europäer und erlangten sie viele Jahre vor ihrer Naturalisierung als Bürger ihrer Geburtsländer.

Der kritische Augenblick für die jüdische Entwicklung nahte heran. Die Aufklärung hatte die undurchlässigen Scheidewände zwischen Juden und Christen mancherorten gänzlich abgetragen, überall mindestens durchbrochen. Die Juden, die es sich angelegen sein ließen, weltliche Bildung zu erwerben, wurden in die Gemeinschaft der Gesitteten aufgenommen. Die französische Umwälzung ging einen Schritt weiter, einen großen, entscheidenden Schritt: sie verlieh den Juden Frankreichs die vollen Bürgerrechte, sie löschte jeden gesetzlichen Unterschied zwischen ihnen und den anderen Landeskindern aus. Bis dahin hatte niemand an dem Bestände des jüdischen Volkes gezweifelt. In allen amtlichen Schriften, ob feindlichen oder freundlichen, die sich mit den Juden beschäftigten, war unabänderlich von der ,,jüdischen Nation“ die Rede gewesen, und die Juden selbst hatten sich immer als „das jüdische Volk“ oder „die jüdische Nation“ bezeichnet. Die französische Umwälzung tat, was an ihr lag, um die jüdische Nation, die wenigstens als Begriff ihren politischen Untergang um 17 Jahrhunderte überdauert hatte, endgültig aufzulösen. Indem sie die Juden gesetzlich allen anderen Bürgern gleichstellte, trennte sie sie mit einem entschlossenen Schnitt von ihrer Vergangenheit, die zugleich ihr stolzes Erbe und ihre schwere Bürde war, und machte aus den Palästinensern von unvordenklichem Alter Franzosen von heute, denen man ihre Herkunft aus dem Jordanlande so wenig mehr vorhielt wie den Bretonen die ihrige aus England, den Burgundern, Franken, Westgoten die Abstammung aus Deutschland, den Normannen die ihrige aus Dänemark und Norwegen.

Durch die Pforte der französischen Revolutionsgesetzgebung trat das westliche Judentum in das Europäertum ein. Die Juden waren nicht länger widerwillig geduldete unstete Fremde oder Landsassen auf Kündigung. Sie hatten ein Vaterland. Sie waren sässige, vollberechtigte Bürger. Sie waren mit einem mächtigen Volkskörper durch Aufpfropfung vereinigt und sie zogen diese neue politisch-biologische Verbindung weitaus der tief in die Jahrtausende reichenden natürlichen Wurzel vor, von der sie getrennt worden waren.

Getreu ihrer bald zweitausendjährigen Gewohnheit unterließen sie es, über den Augenblick hinauszusehen und aus ihrem geänderten Verhältnisse seine logischen Folgerungen und Schlüsse zu ziehen. Napoleon aber tat, was sie zu tun vermieden, er dachte für sie den Gedanken der Emanzipation zu Ende. Er verstand die Gleichberechtigung so, dass die Juden Franzosen ohne Vorbehalt werden mussten. Ohne Vorbehalt, das heißt ohne den Wunsch und ohne die Hoffnung einer einstigen Änderung der Beziehungen zum Vaterlande, ohne ein außerhalb des französischen Staatsgedankens liegendes Ideal, ohne die Pflege des Zusammenhanges mit Stammverwandten jenseits der Landesgrenze, ohne die Aufrechterhaltung irgendeiner Scheidewand zwischen ihnen und ihren christlichen Landsleuten, ohne auch nur den uneingestandenen, geheimen Wunsch der Weiterführung eines Sonderdaseins inmitten der Gleichheitsnation. Misstrauisch und rücksichtslos stellte der große Realist die Juden vor das Problem, das sie nicht gesehen hatten oder nicht hatten sehen wollen, und forderte gebieterisch eine eindeutige Lösung. Er berief das Synhedrion nach Paris ein und stellte an es klare Fragen, darunter diese: „3. Frage: Darf eine Jüdin einen Christen, darf ein Jude eine christliche Frau heiraten, oder gebietet das jüdische Gesetz, dass die Juden sich nur untereinander verheiraten dürfen? 4. Sind Franzosen nichtjüdischer Religion in den Augen der Juden Brüder oder Fremde? 6. Erkennen in Frankreich geborene und vom Gesetz als französische Bürger behandelte Juden Frankreich als ihr Vaterland an? Sind sie verpflichtet, es zu verteidigen? Sind sie verpflichtet, seinen Gesetzen zu gehorchen und den Geboten des bürgerlichen Gesetzbuches zu folgen?“ Die 4. und 6. Frage konnte die Versammlung in voller Aufrichtigkeit und redlichsten Herzens freudig bejahen. Aber die 3. Frage brachte den gesetzestreuen Sinzheim, der die Antwort abzufassen hatte, in die grausamste Verlegenheit. Vielleicht erst bei dieser Frage wurde das Synhedrion sich des tiefsten Sinnes und der letzten Bedeutung der französischen Judengesetzgebung bewusst.

Männer wie Sinzheim begriffen, was man von ihnen verlangte, und suchten sich unter qualvollen Gewissensnöten durch die Klemme zu winden.

Was man von ihnen forderte, das war, dass sie der neuen Gegenwart zuliebe auf Vergangenheit und Zukunft verzichteten. Sie sollten sich nicht mehr erinnern, dass sie am Fuße des Sinai gestanden hatten, sie sollten nicht mehr hoffen, dass ihnen eine Erneuerung großer Geschicke vorbehalten war. Sie sollten aufhören, an den Messias zu glauben und seine Ankunft zu ersehnen. Sie hatten sich geweigert, Jesus von Nazareth als den Messias anzuerkennen und dafür willig 18 Jahrhunderte des Höllenaufenthalts ertragen. Jetzt sollten sie in der Revolution und im Kaiserreich die Erfüllung der Messiasverheißung sehen und zugestehen, dass sie entweder 18 Jahrhunderte lang in mystischer Verzückung dieses politische Ereignis erwartet hatten oder 18 Jahrhunderte lang von einer Wahnvorstellung genarrt worden waren.

Der Messiasglaube ist zwar nicht der ethische und metaphysische, aber der historische Kern der jüdischen Religion. Ist ihr dieser Inhalt genommen, so ist sie ausgeweidet, und es bleibt nur eine schlappe Hülle übrig, die man je nach Temperament und persönlicher Weltanschauung entweder als unbestimmten Theismus von unitarischer Färbung oder als dogmenlosen, mystisch herausgeputzten Spiritualismus deuten kann. Die frommen und schriftgelehrten Juden wollten sich nicht eingestehen, dass die Emanzipation in der Absicht der christlichen Gesetzgeber die Entwurzelung der Messiashoffnung aus ihrem Herzen bedeutete. Sie vermieden es, sich diesen Sinn ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung zu vergegenwärtigen. Sie willigten ein, Frankreich für jetzt und alle Ewigkeit als ihr endgültiges Vaterland anzunehmen, über dessen Grenzen kein Wunsch und keine Hoffnung hinausschweifte, sich selbst für Franzosen und nichts als Franzosen zu erklären, fuhren aber gleichzeitig fort, in ihren Gebeten den Messias herbeizuwünschen und herbeizuflehen, den Messias, der, wenn er seine Aufgabe erfüllte, sie aus Frankreich nach Palästina führen musste, wo sie nicht länger Franzosen, oder wo sie höchstens Kolonialfranzosen sein konnten. Diesen Widerspruch gestanden sie sich wahrscheinlich nicht ein; jedenfalls litten sie anscheinend nicht unter dem Zwiespalt.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Frankreichs Beispiel von allen Ländern der Gesittung nachgeahmt. Hier früher, dort später, doch zuletzt überall in Europa und Amerika, mit Ausnahme von Russland und Rumänien, gewährte man den eingeborenen Juden ein Vaterland und überall machte der Gesetzgeber dieses Zugeständnis unter der stillschweigenden oder ausdrücklichen Voraussetzung, dass dieses Vaterland ein vorbehaltloses und endgültiges sein müsse, dass es bei den Neubürgern zentrifugale Bestrebungen oder auch nur Träumereien nicht dulde. Die Menge ist gedankenlos. Das ist bei uns Juden nicht anders als bei allen anderen Gesamtheiten. Die Menge vergegenwärtigte sich die Bedingungen nicht. Sie war glücklich, nach 18 Jahrhunderten der Unstätigkeit, während welcher ihr Leben einer ziellosen Meerfahrt im gespenstischen Schiffe des fliegenden Holländers geglichen hatte, endlich festen Grund unter den Füßen zu haben, und gab sich ganz dem unbekannten Frohgefühl der Bodenständigkeit hin. Aus alter Gewohnheit behielt sie jedoch ihre Feste bei, die alle nationaljüdischen Sinn in sich schließen, die alle auf die alte palästinensische Heimat hinweisen, nur feierte sie sie routinemäßig, ohne sich um ihre Bedeutung zu kümmern. Sie betete auch ruhig weiter um die Rückkehr nach Jerusalem, doch auch das störte sie nicht, den sie verrichtete ihre Gebete, wenn überhaupt noch, dann immer seltener und ihr Inhalt konnte sie nicht mehr stutzig machen, da sie allmählich zu einer beruhigenden Unkenntnis der hebräischen Sprache gelangte, in der sie abgefasst sind.

Die Minderheit der Juden von hoher Bildung und feinfühliger Sittlichkeit freilich konnte nicht so leichtfüßig über die Schwierigkeit hinweghüpfen. Diese Juden wollten ein festes Verhältnis zu Welt und Leben gewinnen. Sie strebten nach Aufrichtigkeit gegen sich selbst, nach innerer Einheit, nach einer Philosophie, die den Verstand und das Gemüt befriedigt, dem Bedürfnis nach Logik genügt, einen tragischen Konflikt der Ideale verhütet. Sie fanden verschiedene Lösungen des Problems, dessen hohen Ernst sie voll erfassten. Die Radikalsten oder Leichtblütigsten wählten die einfachste: sie ließen sich taufen. Sie gaben mit dem Messias auch das Judentum selbst auf. Sie nahmen mit der Staatsbürgerschaft die herrschende Religion an. So bestand für sie kein Zwiespalt mehr. Zehntausende von Juden, darunter viele der geistig hervorragendsten, sind im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Ländern der Gleichberechtigung diesen Weg gegangen, den zu vermeiden ihre Väter lieber den Dornenpfad der stets erneuten Verbannung beschritten oder den Scheiterhaufen bestiegen haben. Andere verschmähten die Taufe als eine andere Unehrlichkeit gegen sich selbst und gegen die christlichen Landsleute, bekannten sich jedoch zu einem Indifferentismus, in den mystische Gewissensbedenken keinen Eingang fanden. Dem Judentum waren offenbar auch diese verloren, selbst wenn sie nicht förmlich auftraten und sich für konfessionslos erklärten, wo dies gesetzlich zulässig ist. Sie waren noch weh zahlreicher als die Taufjuden, so zahlreich, dass Spötter sagen konnten: ,,Das Judentum ist heutzutage eine Religionsgemeinschaft von Atheisten“. Ihre Hoffnung war, die Aufklärung werde auch unter den Christen genug rasche Fortschritte machen, dass sie bald nicht mehr auffallen, sondern in der Menge der Freidenker jeder Herkunft unkenntlich verschwinden würden. Eine dritte Gruppe entschied sich weder für die Taufe, noch für die Konfessionslosigkeit, sondern für einen Opportunismus, der nicht sehr heroisch, auch nicht sehr ästhetisch war. Diese Juden ließen sich leutselig herab, Juden zu bleiben, brachten ihr Judentum aber in Einklang mit ihrer Verleugnung jeder messianischen Hoffnung, indem sie es reformierten, das heißt seine uralte, ehrwürdig morgenländische Tracht durch ein Moderöckchen von flottem Zuschnitt und Aufputz ersetzten. Sie machten die Synagoge zu einer Kirche ohne Kreuz und nannten sie Tempel. Sie verbannten die ihnen unverständlich gewordene hebräische Sprache aus dem Gebetbuch und warfen aus den Gebeten jeden Hinweis auf den Messias und eine einstige Rückkehr in die alte Heimat hinaus. Das Reformjudentum brach bewusst mit dem geschichtlichen Judentum. Es schied förmlich aus der jüdischen Volkseinheit aus, indem es alles Nationale im Gottesdienst und in den Festen unterdrückte oder es zu Symbolen ohne Wirklichkeitsinhalt verflüchtigte, die es willkürlich von ihrem eigentlichen Sinn weit wegdeutete. Theoretisch war das Reformjudentum das Bestreben nach einer vollständigen und vorbehaltlosen Anpassung an die neue staatsrechtliche Lage der emanzipierten Juden, praktisch war es eine Methode, den endgültigen Übertritt zum Christentum allmählich vorzubereiten und zu erleichtern.

Aber neben den Taufjuden, den konfessionslosen Juden und den Reformjuden entstand noch eine vierte Richtung, die sich in anderer Weise mit dem Messiasgedanken philosophisch auseinander zusetzen suchte. Die Rabbiner, die diese Richtung vertraten, erfanden nämlich die berühmte Theorie von der Mission des jüdischen Volkes. Wenn ich sage: sie erfanden sie, so erweise ich ihnen übrigens zu viel Ehre. Tatsächlich erfanden sie gar nichts. Sie übernahmen einfach die Lehre, welche die christliche Kirche seit 17 Jahrhunderten verkündet hatte, und suchten sie dreist umzuwerten. Was lehrte die Kirche? Sie lehrte, dass das jüdische Volk von der Vorsehung verurteilt ist, durch die ganze Welt zerstreut zu bleiben, dass es in der Verbannung und Erniedrigung leben muss, um an allen Orten als lebendige Zeugen der Wahrheit der Bibel und ihrer Weissagungen zu dienen, und dass seine Strafe erst am Ende der Zeiten abgebüßt sein wird, wenn der Heiland als Paraklet auf Erden wiedererscheint, auch die letzten Widerspenstigen sich zum Glauben an ihn bekehren und nur noch ein Hirt und eine Herde sein wird. Was lehrten die Verkünder des jüdischen Missionsgedankens? Sie lehrten, dass das jüdische Volk von der Vorsehung bestimmt ist, durch die ganze Welt zerstreut zu bleiben, dass es in dieser Zerstreuung leben muss, um an allen Orten als lebendige Zeugen der Wahrheit der Bibel und ihrer Weissagungen zu dienen, und dass seine Sendung erst erfüllt sein wird, wenn auch die letzten Widerspenstigen sich zum Glauben an den einig-einzigen Gott und zur allgemeinen Bruderliebe unter den Menschen bekehren und nur noch ein Hirt und eine Herde sein wird. Sie sehen, es ist Punkt für Punkt dasselbe, nur dass die Worte, die Werturteile in sich schließen, durch andere ersetzt sind. Wo die Kirche von Verurteilung spricht, da sprechen die Rabbiner von Bestimmung, wo jene sagt: dann ist die Strafe abgebüßt, da sagen diese: dann ist die Sendung erfüllt usw.

Ein morgenländisches Geschichtchen erzählt, ein Schach von Persien habe eines Morgens äußerst missgestimmt seinen ersten Traumdeuter rufen lassen und ihm gesagt: „Ich habe einen sonderbaren Traum gehabt, der mich beunruhigt. Mir träumte, meine sämtlichen Zähne seien mir ausgefallen. Deute mir diesen bösen Traum!“ „In der Tat, ein böser Traum“, erwiderte der Traumdeuter bestürzt, „er kündigt dir an, hoher Herr, dass du den Schmerz haben wirst, alle deine Verwandten sterben zu sehen“. „Hinweg mit dem Dummkopf und verabreicht ihm 50 Hiebe auf die Fußsohlen!“ rief der Schach aufgebracht, „schafft mir meinen zweiten Traumdeuter herbei“. Dieser Mann kam. Der Herrscher erzählte ihm seinen bösen Traum. ,,Ein böser Traum?“ rief der kluge Mann frohlockend. „Ein herrlicher Traum! Ein Glückstraum! Freue dich, hoher Herr, denn dir wird verkündet, dass du das Glück haben wirst, alle deine Verwandten glorreich zu überleben“. „Das ist recht“, sprach der Schach befriedigt, „Schatzmeister, bezahle meinem treuen Traumdeuter 50 Goldtomans“.

Nach dieser Formel haben die Missionsrabbiner aus der kirchlichen Brandmarkung eine Bekränzung gemacht, ohne an dem Gedankengang der Kirche etwas zu ändern, und mit Hilfe der dem unerbittlichen Feinde entlehnten Lehre dem Judentum seinen Nationalcharakter, seine Hoffnung auf eine künftige Wiedervereinigung und auf ein Weiterleben als normales Geschichtsvolk genommen oder zu nehmen gesucht.

Das Opfer war gebracht, der Mittelpunktgedanke, der es fast zweitausend Jahre lang zusammengehalten hatte, aus dem Judentum herausgezogen, seine Zerbröckelung eingeleitet. Die östliche Judenschaft allerdings war vom Zerfall nicht berührt und blieb ein nationaler Block. Aber die westlichen Juden rückten demonstrativ von ihr ab und affektierten, die Bezeichnung „polnischer Jude“ nur noch als Schmähwort zu gebrauchen. Zum Lohne für solche Geschmeidigkeit nach so langer Starrheit erwarteten sie, dass die christliche Welt alle alten Vorurteile gegen sie vergessen und sie als wirkliche Volksgenossen und Brüder anerkennen werde. Ein kurzes Menschenalter hindurch, etwa im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, schien dieses Ziel tatsächlich erreicht. Während einiger halkyonischer Jahre, sagen wir etwa zwischen 1860 und 1875, gab es in den Ländern des Westens anscheinend keine Judenfrage. Wo der alte Judenhass noch etwa hie und da unter der Asche glomm, da erregte er bei den Juden nur noch Mitleid, ja Heiterkeit. Sie sahen ihn als wunderliches Überlebsel an, ungefähr wie in unsere Zeit verirrte Hexenfurcht oder Teufelsglauben. Aber das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts brachte eine jähe und tiefe Änderung. An allen Enden Europas flammte ein lodernder Antisemitismus auf, wie er im Mittelalter nicht heftiger gewütet hatte. Mit fassungsloser Bestürzung mussten die jüdischen Staatsbürger feststellen, dass ihre christlichen Landsleute als Individuen und Gesellschaft die Gleichberechtigung zurücknahmen, die sie als politischer Körper, als Staat gewährt hatten. Man sprach ihnen namentlich die Fähigkeit vaterländischer Gesinnung ab, man bezeichnete und behandelte sie wieder als Fremde. Das war die allerschwerste Kränkung, die man ihnen zufügen konnte. Sie hatten eifrig, ja zornig geleugnet, dass es ein jüdisches Volk gibt, sie hatten jede Zusammengehörigkeit mit jüdischen Ausländern heftig zurückgewiesen, sie hatten leichten Herzens jede Hoffnung auf eine nationale Zukunft des Judentums, auch jeden Wunsch nach ihr abgeschworen, und nun dennoch Fremde! Und was ihnen besonders ins Herz schnitt, das war, dass der Antisemitismus auch die jüdischen Freidenker nicht schonte, dass er die Reformjuden besonders rau anfasste, dass er zuletzt sogar den Taufjuden kein Quartier gab und wenn er überhaupt mit einer Kategorie von Juden etwas glimpflicher umsprang, dies gerade die verspotteten und geringgeschätzten, rückständigen, altgläubigen Juden mit ihrem Nationalgefühl und ihrer Messiaszuversicht waren.

Ein neues Prinzip war in die Kulturwelt eingezogen: das Nationalitätenprinzip. Es nahm im Bewusstsein gerade der gebildeten Volksklassen den Platz ein, den in früheren Jahrhunderten die Religion ausgefüllt hatte. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen erwuchs nur noch aus der nationalen Gemeinschaft und diese sollte nicht durch die gleiche Staatsangehörigkeit, nicht durch die gleiche Sprache und Gesittung, nicht durch gemeinsame Erlebnisse und Ideale, sondern einzig durch gleiche Abstammung, durch Blutsverwandtschaft bedingt sein. Das derart auf die Spitze getriebene neue Nationalitätenprinzip, das in Rassenwahnwitz umschlug, hatte dieselbe Ausschließlichkeit und Selbstüberhebung, denselben Fanatismus, dieselbe Feindseligkeit gegen Außenstehende wie die Religion im Mittelalter. Die Juden fanden sich wieder vor einer Mauer ohne Pforte, sie wurden wieder im gesetzlichen Vaterlande von ihren gesetzlichen Mitbürgern als ewig Fremde empfunden und behandelt, sie waren wieder aus Europa moralisch hinausgeworfen.

Die Wirkung dieser geistigen Umwälzung auf das gelockerte, stellenweise in voller Auflösung begriffene Westjudentum war verschieden. Bei den einen beschleunigte sie die Abfallsbewegung, die seit Beginn der Emanzipationsepoche eingesetzt hatte, und verwandele sie stellenweise in eine Massenfahnenflucht. Bei den anderen erzeugte sie eine eigentümliche Seelenblindheit. Sie behaupteten, den Antisemitismus nicht zu sehen, der ringsum die Faust gegen sie erhob, und sie sahen ihn vielleicht wirklich nicht. Noch andere warfen sich in eine Kämpferpose, rüsteten sich zu einem todesmutigen Feldzug gegen die Antisemiten und erhoben mit unüberwindlicher Tapferkeit Beschwerde bei hochmögenden Ministern und hohen Obrigkeiten, so oft ein kleiner Gymnasiallehrer einen jüdischen Schüler vor versammelter Klasse einen faulen Judenbengel schalt. Wieder andere verfielen auf eine sinnige Anwendungsweise der homöopathischen Methode, sie wurden nämlich selbst Antisemiten, und zwar die allerschlimmsten, allergiftigsten und waren auf diese Art gegen jede Verletzung durch die Antisemiten gefeit, da diese ihnen keine Beschimpfung, keine Verleumdung, keine Besudelung zufügen konnten, die sie sich nicht schon selbst weit heftiger zugefügt hatten.

Aber die neue moralische Ausstoßung aus ihrem Vaterlande und der europäischen Gesittung hatte doch auch noch eine andere Wirkung auf einen Teil der westlichen Judenschaft; allerdings bisher nur auf einen kleinen Teil, der jedoch deswegen wichtig ist, weil er hauptsächlich die intellektuelle, charakterfeste Jugend in sich begreift: sie führte Zehntausende junger Westjuden von hoher Bildung und idealer Gesinnung zu den geschichtlichen Überlieferungen ihres Stammes zurück, frischte ihr Gedächtnis für die jüdische Vergangenheit auf und weckte in ihnen eine Zuversicht auf eine jüdische Zukunft, die sie zu kräftigem Handeln drängte. Diese jungen Juden gingen mit ruhigem Stolz auf den Nationalitäts- und Rassengedanken der Zeit ein, ohne sich seine grotesken Übertreibungen und tollen Folgerungen anzueignen und bekannten sich selbstbewusst zu ihrer eignen jüdischen Nationalität und Rasse. Sie begegneten sich mit den Ostjuden, denen dieses Bekenntnis nicht erst durch neue Verfolgungen abgerungen zu werden brauchte, in dem gemeinsamen Vorsatz einer Sammlung und Gliederung des jüdischen Volkes, das sich neben den anderen vom Schicksal mehr begünstigten Völkern national ausleben will und als gleichberechtigter Mitarbeiter an der allgemeinen Kultur betätigen soll.

Das 19. Jahrhundert war die Epoche der Zersetzung des Judentums, das bereit war, zum Dank für seine Scheinaufnahme in die europäische Völkerfamilie seine Vergangenheit und Zukunft und damit sich selbst aufzugeben. Das 20. Jahrhundert kündigt sich als die Epoche der Sammlung aller lebenskräftigen und lebenswürdigen Elemente des Judentums an, die entschlossen sind, die Geschichte ihres alten Volkes im Sinne seiner unabänderlichen Ideale der Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Nächstenliebe und Erkenntnis weiterzuführen. In diesem Jahrhundert wird sich entscheiden müssen, ob im Judentum das Leben den Tod besiegt oder umgekehrt.

Ich für meinen Teil bin der Hoffnung voll. Der Oberprokurator des heiligen Synods, Pobjedonoszeff, der zwanzig Jahre lang nach dem Zaren der mächtigste Mann Russlands war, sagte einmal, er stelle sich die Lösung der Judenfrage in Russland so vor: ein Drittel der Juden werde sich taufen lassen, ein Drittel werde verhungern, ein Drittel werde auswandern.

An seiner Weissagung mag etwas Richtiges sein. Vielleicht wird im 20. Jahrhundert ein Teil des jüdischen Volkes sich taufen lassen, wenn es auch schwerlich ein Drittel sein dürfte; ein anderer Teil wird zwar nicht verhungern, aber proletarisiert, sozial-demokratisiert und seinem Stamm bis zum gänzlichen Vergessen der Zusammengehörigkeit entfremdet werden. Ein Teil aber wird sich zu einem lebendigen Judentum der schöpferischen Tat sammeln, und dieser Teil, dessen mögen Freunde und Feinde versichert sein, wird ein schöner, würdiger, vornehmer Teil des verjüngten alten Volkes sein.

Autor: Nordau, Max geb. als Maximilian Simon Südfeld (1849-1923) Arzt, Schriftsteller, Journalist und Politiker

Autor: Nordau, Max geb. als Maximilian Simon Südfeld (1849-1923) Arzt, Schriftsteller, Journalist und Politiker