Einleitung

Das Leben der Vergangenheit ist der Gegenwart völlig fremd geworden, und alle wissenschaftlichen Untersuchungen werden nicht imstande sein, uns ein der Wahrheit wirklich entsprechendes Bild alter Zeiten zu entwerfen. Nur den Äußerlichkeiten nach lernen wir jene längst vergangenen Jahre kennen, und mit dieser Einsicht werden wir uns begnügen müssen. Allein auch diese Äußerlichkeiten sind nicht ohne Interesse; wir sehen da, dass vieles, was die heutige Zeit als ihre Schöpfung betrachtet hat, schon längst bekannt aber wieder vergessen war, und so gelangen wir zu einer gerechteren Wertschätzung der alten Zeit, die weder so vortrefflich noch so gering war, wie uns das manche Autoren einzureden versuchen. Die Leute der Vergangenheit haben alle die Tugenden gehabt, deren sich die Jetztzeit rühmt, aber auch alle die Leidenschaften und schlechten Neigungen, die wir in der Gegenwart antreffen. Nur die Form, in der sich diese allgemein menschlichen Bestrebungen äußerten, ist zum Teil eine andere geworden. Sie zu schildern, ist die Aufgabe, die diesem Buche gestellt wurde.

Die zur Zeit der römischen Herrschaft vortrefflich angelegten und erhaltenen Heerstraßen waren schon bald nach dem Sturze des römischen Kaiserreiches vernachlässigt worden. Wohl kann man auch heute noch hie und da die Überreste dieser Straßenanlagen wahrnehmen, und sie mögen auch ungepflegt lange noch der Zerstörung Widerstand geleistet haben, allein durchschnittlich befanden sich während des Mittelalters und weit über dasselbe hinaus die Straßen in einem sehr traurigen Zustande. Die großen Heeres- und Handelsstraßen *) wurden immerhin noch einigermaßen ausgebessert und erhalten, jedoch waren auch sie voller Löcher, ausgefahren, kotreich in der nassen, staubig in der trockenen Jahreszeit, und noch viel schlimmer war es mit den Nebenwegen bestellt. Zwar wurden Zölle erhoben, deren Ertrag zur Erhaltung der Straßen und Brücken verwendet werden sollte, indessen hören wir noch im 16. Jahrhundert laute Klagen. So schrieb z. B. Paumgartner über den „überunflattigen bösen“ Weg von Lucca nach Florenz (1582 22./XII — Briefe S. 11), über den „überboes mordweg, der alher (nach Frankfurt a/M.) von aller ortten ist“ (1591 20./III und 1594 14./111 — ib. 108, 191), über den bösen Weg zwischen Eger und Schlackenwald (1591 5./VI — ib. 112) n. s. w. Alle Reisebeichte sind voll von Klagen über den schlechten Zustand der Straßen.


*) Gaßner, Zum deutschen Straßenwesen von der ältesten Zeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1889.

Doch bat man schon im 13. Jahrhundert den Versuch gemacht, durch Pflasterung einzelner Wege, durch Belegen derselben mit Steinplatten die in Kalk gebettet wurden — deshalb hießen diese Straßen calciatae, chaussées — mit einem Worte durch einen Kunststraßenbau, wie ihn die Römer so vortrefflich anzulegen verstanden hatten, der Not einigermaßen Abhilfe zu schaffen, es blieb aber bei belanglosen Versuchen. Erst das 18. Jahrhundert brachte eine durchgreifende Besserung: die französischen Kunststraßen, für die seit 1716 eigene Baumeister „des ponts et chaussées:“ vorgebildet wurden. Die Anweisungen des Schotten John Loudon Mac Adam (1756 — 1836) wirkten auch auf Deutschland ein. Wenigstens die Staatschausséen wurden jetzt sachverständig in gutem Zustande erhalten, mit Baumreihen, Pappeln oder Obstbäumen eingefasst; desto kläglicher war der Zustand der Nebenstraßen.

Während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters dürfen wir uns das Land nicht besonders kultiviert vorstellen. In den von den Römern einst beherrschten Landstrichen ist die Bevölkerung auch nach den Stürmen der Völkerwanderung eine dichtere, die Bebauung der Felder eine ausgedehntere, allein in den Gegenden, wo die Römer nie festen Fuß gefasst hatten, da gibt es noch ausgedehnte Wälder, unbebaute Strecken; da waren Sümpfe und Moräste noch in dem Zustand, wie sie von Anbeginn her sich gebildet hatten. In diesen Wüsteneien siedelten sich die Klöster an; die Landesherren, die ihnen bereitwillig umfangreichen Grundbesitz schenkten, wussten sehr wohl, dass diese Klostergemeinden die Wälder ausroden, die Sümpfe austrocknen, einen geordneten Feld- und Gartenbau einführen und auf wirtschaftlichem Gebiete der ganzen Landbevölkerung ein segensreiches, zur Nachahmung reizendes Beispiel bieten würden. Und damit waren, abgesehen von allem sonstigen Nutzen, die großen Strecken Unlandes reichlich bezahlt. Man mag mit Recht bezweifeln, ob die Mönche bei der Auswahl des Bauplatzes für ihre Kirche und Wohngebäude von einem lebendigen Sinn für landschaftliche Schönheit geleitet worden sind, Tatsache aber ist es, dass sie immer mit sicherem Verständnis die schönsten Punkte in ihrem Besitze ausfindig machten und ihre Bauten da errichteten, wo weite Aussicht und landschaftliche Anmut auch heute noch unseren modernen Ansprüchen genügen.

Durch diese Landstrecken führten die Straßenzüge von einer Handelsstadt zur anderen; die Burgen und Schlösser des Adels und der Fürsten waren in ihrer Nähe angelegt, kleine Orte und Dörfer durch Nebenwege mit ihnen verbunden; auf ihnen bewegte sich der gesamte festländische Verkehr der damaligen zivilisierten Welt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Häusliche Leben der europäischen Kulturvölker