Das Ghetto und der alte Juden-Friedhof in Prag

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1878
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Judenhass, Mittelalter, Judengemeinden, Christen, Judengassen, Ghetto, Volkswut, Judenhetze
Der Hass, welcher im frühen Mittelalter die Bekenner der mosaischen Religion von Seiten der Christen traf, wurde die Veranlassung, dass man die Judengemeinden in den orientalischen und italienischen Städten zwang, in eigenen Gassen oder Stadtvierteln beisammen zu wohnen, wo sie über Nacht abgesperrt und vielfachen Beschränkungen unterworfen wurden. Ein solches Quartier nannte man Ghetto, von dem talmudischen Ghet, Absperrung. Später verbreitete sich der Brauch dieser Absonderung von Italien ans auch nach Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, und so finden wir in allen größeren Städten noch ans den Zeiten des Mittelalters solche Judengassen und Judenviertel. Eines der interessantesten dieser Ghettos oder Judenviertel ist die auf dem rechten Moldauufer liegende Judenstadt zu Prag, seit 1850 Josephsstadt genannt.

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Prag hat eine der ältesten und zahlreichsten Judengemeinden von Zentral-Europa, die angeblich schon mehr als tausend Jahre besteht, und worin noch bis zum Jahre 1848 die 7—8.000 ärmeren jüdischen Einwohner vom Abend bis zum Morgen streng von der übrigen Einwohnerschaft abgesperrt wurden und im Allgemeinen nur auf den Trödelhandel und einzelne Gewerbe angewiesen waren, aber unter allen Verfolgungen strenger als sonst irgendwo Charakter, Sitten und Bräuche der Vorzeit sich bewahrt haben. Diese Judenstadt mit ihren engen, dumpfigen und schmutzigen Gassen gehört zu den interessantesten Sehenswürdigkeiten Prags, und kein denkender und beobachtender Fremder versäumt es, die mehr als tausendjährigen Gassen der Judenstadt zu besuchen. Hier herrschen noch Armut und Verwahrlosung neben mächtigem Ringen nach sozialem Aufschwung und all' den Tugenden des Familienlebens, freundnachbarlicher Dienstfertigkeit und treuen Zusammenhaltens, welche die Glanzpunkte des jüdischen Lebens sind. Hier bemerkt inan den echten Altjuden oder Aschkenazim im Feilschen und Handeln begriffen hinter ganzen Gehegen von übelriechenden, mottenumschwirrten Kleidern, hinter Tischen, welche hochauf beladen und umstellt sind von Trödelware, die alle Gegenstände des menschlichen Bedarfs in unendlicher Mannigfaltigkeit umfasst, und hier pflegen die unteren Volksklassen und das Landvolk ihre Bedürfnisse von allen möglichen Dingen einzukaufen. Hier herrscht daher vom Morgen bis zum Abend jene lärmende Geschäftigkeit des Ausbietens und Feilschens, das solche Trödelmärkte charakterisiert und wovon unser erstes Bild S. 17 eine treue Darstellung gibt. Noch interessanter aber als das Treiben der Lebenden in diesen! Ghetto ist der berühmte alte Juden-Friedhof von Prag, welcher mitten zwischen diesen engen Gassen und uralten Gebäuden in der Nähe der Altneuschule, einer düsteren alten Synagoge aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, liegt und seit 1780 nicht mehr als Beerdigungsplatz benützt wird. Tausende und Abertausende von schwarzgrau bemoosten alten Grabsteinen mit verwitterten hebräischen Inschriften stehen hier dicht gedrängt neben einander, von Gebüschen aller Art, von Holunderbäumen und spanischem Flieder beschattet und von Schlingpflanzen umrankt und überwuchert. Dieser Totenacker, auf dem die Gebeine unzähliger Generationen unberührt und ungestört im Frieden ruhen, macht mit seinem stimmungsvollen Halbdunkel, seiner tiefen, nur von Vogelgezwitscher und Insektensummen unterbrochenen Stille und seinen teilweisemerkwürdigen Denkmälern, von denen unser zweites Bild S. 17 eine Ansicht darbietet, einen unbeschreiblich tiefen und ernsten Eindruck. Wie viele Hunderte von Opfern der Willkür und der Volksrohheit ruhen hier erschlagen in den zahllosen Judenhetzen der vergangenen Zeit! Am meisten Teilnahme erweckt das Grab der Märtyrerin Lea, auf welches jeder israelitische Besucher des Friedhofs nach altem mosaischem Brauch ein Steinchen legt, weil sie, die schönste Jungfrau der damaligen Judengemeinde, einst bei einer solchen Judenhetze sich freiwillig zum Opfer der Volkswut hingab, um ihren Glaubensgenossen dadurch Schonung zu erkaufen, und auch wirtlich von dem wilden Haufen erschlagen ward, so dass nur ihre verstümmelte Leiche ihren Angehörigen zurückgegeben werden konnte.

Das Ghetto - Judenviertel zu Prag

Das Ghetto - Judenviertel zu Prag

Der alte Judenfriedhof zu Prag

Der alte Judenfriedhof zu Prag