Das Geisterschiff

Autor: Ueberlieferung
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Als noch die Ems unmittelbar unter der Stadtmauer von Emden floß und der Delft jeden Abend abgeschlossen wurde, begab es sich einmal, daß ein gewaltiger Nordweststurm losbrach. Bei diesem Wetter wurde ein großes Kauffahrteischiff, das lange auf fremden Meeren geschwalkt hatte, sehnlichst zurückerwartet. Bei der Einfahrt in die Ems war es bereits gesichtet und gemeldet worden und erschien des Nachts mit vollen Segeln vor der Stadt. Schon war es dem schützenden Delft nahe, und man sah bei dem trüben Lampenschein die Seeleute sich tummeln, um die Landung vorzubereiten, und man hörte die Stimme des Kapitäns, dessen Kommandorufe den Sturm übertönten, als plötzlich das Schiff von einer Windsbraut erfaßt wurde. Mit einem Ruck wurde es emporgehoben, niedergetaucht, wieder aufgehoben, herumgewirbelt und dann in die Tiefe hinabgestampft. Vierzig brave Emdener Seeleute riefen durch die Nacht um Hilfe, und die Leute am Ufer erfaßte Grauen und Mitleid mit ihren Vätern und Brüdern, die im Angesicht ihrer Vaterstadt so jämmerlich zugrunde gehen sollten. Man verlangte vom Hafenschließer das Wachtboot, um die Seeleute zu retten, unter denen sein eigener Sohn war; aber er weigerte sich, es herzugeben, weil er den Schiffskapitän auf den Tod haßte, und sprach: „Die Barke bleibt hier! Es wäre nutzlos, sie ausgehen zu lassen, auch hat der Kapitän es nicht besser verdient, als es ihm jetzt da draußen geschenkt wird!“ Endlich zwang man ihn den Schlüssel herzugeben, aber da war es längst zu spät, das Schiff war mit Mann und Maus versunken.

Aber noch immer, wenn der Nordweststurm die Wellen aufpeitscht, sieht man in dunkler Mitternacht ein Geisterschiff heranstürmen, in bläulichen Lichtschimmer eingehüllt. Man hört das Klappern der Rahen, das Rasseln der Ketten, die Kommandorufe des Kapitäns und den Todesschrei der ertrinkenden Matrosen.