Das Fräulein von Ruckburg

Autor: Ueberlieferung
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Auf der Ruckburg lebte vor langen Jahren ein Ritterfräulein, das schönste Mädchen im Land Viele Ritter und Adelige kamen aus fernen Gegenden, ließen sich den weiten Weg nicht verdrießen und warben um sie. Aber die Jungfrau hatte einen gar ernsten, weltabgewandten Sinn, wollte von den Männern nichts wissen und wies alle Werber ab.

Eines Abends ging das Fräulein nahe der Burg auf einem Anger spazieren, und wie sie in Gedanken versunken so vor sich hin schritt, saß da eine Bettlerin am Weg, hatte ihr Strickzeug in der Hand und sprach die junge Maid an. Mit bewegten Worten schilderte sie von Not und Elend in der Welt und erzählte, was für traurige Tage sie im Leben schon mitgemacht habe. "Ihr könnt Euch nicht vorstellen, Fräulein", jammerte sie seufzend, "was ich im Leben schon gelitten habe; Ihr wißt ja gar nicht, was Kummer und Sorge heißen!"

"So sag mir doch", meinte das Fräulein betroffen und reichte der Alten eine kleine Gabe, "was Kummer und Sorge sind!"

Da hielt das Weiblein dem Fräulein ein Knäuel Garn hin und rief: "Nehmt dieses Knäuel, edles Fräulein, und geht damit in den Tannenwald hinauf; laßt den Faden abrollen, so lange, bis Ihr die Seele im Knäuel drinnen seht, dann werdet Ihr bestimmt erfahren, was Kummer und Sorge sind!"

Das Fräulein griff lächelnd nach dem Knäuel und stieg munter zum Tannenwald hinauf, vor sich her den Faden abwickelnd. Inzwischen brach langsam die Dämmerung herein, und wie es dunkler und dunkler wurde, war der Faden zu Ende, und das Fräulein hielt eine Nuß in der Hand, um die das Knäuel gewickelt war; das war die Seele des Knäuels.

Das Mädchen erfuhr aber nun wirklich, was Kummer und Sorge seien; denn die Dämmerung war der Nacht gewichen, und das zarte Mädchen stand mutterseelenallein im finsteren Tannenwald, wußte weder Weg noch Steg zum Schloß zurück, hatte Hunger und Durst, doch nichts zu essen und zu trinken, war müde und matt und hätte sich gerne schlafen gelegt, aber nirgends fand sich ein Lager. Kühl strich die Luft unter den Bäumen dahin, aber kein Haus, keine Hütte nahm sie auf, kein lustiges Feuer erwärmte die froststarren Glieder. Nie gekannten Kummer und ängstliche Sorge im Herzen, begann das arme Mädchen bitterlich zu weinen und gelobte, ins Kloster zu gehen, wenn es aus dieser Not errettet würde und wieder zu Menschen käme. Mit Tränen in den Augen ging es unter den dunklen Tannen und den unheimlich rauschenden Bäumen weiter, der Wind zerzauste ihre Locken, Zweige und Äste ritzten das zarte Gesicht

Auf einmal sah die verängstigte Jungfrau ein Lichtlein durch die Bäume schimmern und eilte mit einem Freudenschrei darauf zu. Eine kleine Hütte war's, die da mitten im Wald stand; eine alte Frau öffnete auf ihr Klopfen und trat, mit einem Licht in der Hand, auf die Schwelle.

"Laß mich bei dir Unterschlupf finden die Nacht über", rief bittend das Fräulein, "ich habe mich in der Dunkelheit verirrt und finde den Weg nach Hause nicht mehr!"

"Armes Kind, komm nur herein", sagte das alte Mütterchen und führte das Fräulein in eine bescheidene Stube. "Ich will dich gern bei mir behalten; wenn nur der Jäger heute nicht nach Hause kommt, sonst kann es dir übel ergehen! Das ist nämlich ein wilder, ungestümer Kerl, der keinen Menschen um sich sehen will, nur mir tut er nichts; denn, sagt er, ich sei schon geschlagen genug mit meinem Buckel. Oft bleibt er viele Tage lang aus, wenn er im Wald dem Hochwild nachjagt. So Gott will, kommt er heute nacht nicht mehr."

Das Mädchen horchte ängstlich auf die Worte der Alten, Kummer und Sorge machten sich aufs neue in ihrem klopfenden Herzen breit. Da hörte man auch schon Hundegebell und wütendes Rufen, und der Jäger stand schimpfend auf der Schwelle. Schreckensbleich sprang das Fräulein auf, um zu flüchten, rannte aber geradewegs dem wüsten Jäger in die Arme, der seinen Hirschfänger zog und einen Schlag gegen den Kopf des Mädchens führte. Aber nur die flatternden Locken fielen der scharfen Schneide zum Opfer; unverletzt entwischte das Mädchen dem rauhen Griff des wütenden Unholds und rannte, Gott dankend für die Errettung, blindlings in den tiefen Wald hinein.

Das hatte sich im Herbst zugetragen. Aber seit dieser Zeit ließ der Gedanke an diese Tat den Jäger, dessen Zorn bald verraucht war, nicht mehr zur Ruhe kommen. Das Bild des liebreizenden Mädchens stand immer vor seiner Seele. Oft nahm er ihre blonden Locken zur Hand, steckte wohl auch als Zier eine Blume dazwischen und dachte wehmütig, wo sie wohl sein möge. Eines Tages sagte er entschlossen zu der Alten: "Weib, mich zieht es fort von hier. Nun gehe ich und suche das Mädchen und will nicht aufhören zu suchen, bis ich sie gefunden habe; denn ohne den Engel kann ich nicht mehr leben."

So macht er sich auf den Weg, mitten im Winter, und zog allein und ohne sichere Richtung von Ort zu Ort, von Schloß zu Schloß und suchte das Fräulein. Aber nirgends fand er eine Spur des Mädchens. Endlich kam er ins Schwabenland und stand eines Abends bei einer Klosterpforte, wo er um Suppe bat. Und wer gab sie ihm? Es war das Fräulein von Ruckburg, das Mädchen, nach dem er so lange gesucht hatte. Vor Schrecken erblaßten beide, schnell schlug die Klosterfrau die Tür zu, den Jäger aber fand man am anderen Morgen erfroren vor der Klosterpforte.