Entschließung. Die Lage der russischen Bauernschaft vor der Novemberrevolution.
1. Die Bodenfrage wurde von der russischen Bauernschaft in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgerollt. Infolge des Mangels an politischer Führung, der damaligen Schwäche der Arbeiterklasse und der fehlenden Verbindungen mit ihr zeigte sich die Bewegung in nichtorganisierten Unruhen, die von der Regierung Alexanders des Zweiten unterdrückt wurden. Es kam zur sogenannten „Bauernbefreiung", deren wichtigster Teil die Zuteilung von Grund und Boden an die Bauern war. Sie, wurde infolge der angedeuteten Umstände von den Grundbesitzern in der Weise verwirklicht, dass in dem Schwarzerdegouvernement, wo das Land teuer war, die Bauern um ein Drittel weniger Boden erhielten, als sie vor der Reform besaßen, und dass sie ihn 25 Prozent über, den tatsächlichen Wert bezahlen mussten. In den Gebieten mit billigerem Lande war der Verlust der Bauern an Grund und Boden geringer, dafür wurde aber die Desjatine auf das Doppelte des tatsächlichen Wertes geschätzt. Nur in den westlichen Gouvernements, wo die Grundbesitzer Polen waren und daher die nationalistischen Erwägungen — Kampf gegen den polnischen Grundbesitz — über den Klassenstandpunkt die Oberhand gewannen, erhielten die Bauern etwa 30 Prozent mehr Grund und Boden und zu dem tatsächlichen Preis. Die ungenügende Versorgung der Bauernschaft mit Grund und Boden ließ in den wichtigsten landwirtschaftlichen Gebieten schnell einen großen Landhunger entstehen. Schon in den neunziger Jahren stehen wir einer Agrarkrise gegenüber und einer ununterbrochen steigenden Zuspitzung der Beziehungen zwischen der Bauernschaft und der Staatsmacht.
2. Die 50 Jahre, seit der „Bauernbefreiung" bis zur ersten Revolution 1905, sind durch die völlige Gleichgültigkeit der Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bauernschaft gekennzeichnet. Aus Angst vor dem Wissen, als der Quelle der Revolution, hielt die Regierung das Volk in Unwissenheit. Das führte dazu, dass in einem Lande, wo der größte Teil der Bevölkerung Landwirtschaft betreibt, die bäuerliche Bevölkerung jeglicher agronomischer Kenntnisse bar war.
Die landarme und mittlere Bauernschaft, die keinen Ausweg in der Intensivierung ihrer Wirtschaft finden konnte, musste versuchen, die angebaute Fläche zu erweitern. Die Bauern waren gezwungen, Grund und Boden zu pachten oder zu kaufen. Sowohl das eine wie das andere führte zu einem Steigen der Preise für Grund und Boden, der vorwiegend den Gutsbesitzern abgekauft oder abgepachtet werden musste. In einzelnen Gouvernements betrug vor dem Kriege der Pachtzins für eine Desjatine den Wert der auf dieser erzielten Ernte. Dem gleichen Ziel: der Festigung der Bodenpreise, diente die Adels- und Bauernbank. Die Bodenpreise waren für den Hauptkäufer, den Bauern, derart hoch, dass er schließlich aus der Schlinge der Schulden nicht mehr herauskommen konnte. Die Geschichte der genannten Bank ist reich an Schuldenrückständen und an Zwangsverkäufen von Grund und Boden, den die Bauern von der Bank gekauft hatten. Außerhalb des Schwarzerdegebietes gab es häufig Fälle, dass Bauern den Betrieb der Landwirtschaft aufgaben, die auf diese Weise aufhörte, ein Hauptberuf zu sein, und zu einem Aushilfs- und Nebenberuf wurde. Der Zug aus dem Dorfe in die Stadt nahm immer mehr und mehr zu.
3. Die Landgemeinde wurde von der Regierung dazu benützt, eine Intensivierung der bäuerlichen Wirtschaft zu verhindern. Die ständigen Neuverteilungen des Bodens führten zu einer außerordentlichen Zerstückelung. Diese führte ihrerseits dazu, dass sehr oft zwischen dem bäuerlichen Besitz der einzelnen Bauern fremde Grundstücke lagen.
Die Fesselung der Bauern an die Landgemeinde war eine bestimmte Taktik der Regierung. Sie hatte das Ziel, die Bauern in der Nähe der Großgrundbesitzer festzuhalten, um diese mit billiger Arbeitskraft zu versorgen. Aus gleichem Grunde war die Regierung bis zum Jahre 1905 nicht besonders geneigt, die Siedlerbewegung zu unterstützen. Diese ging deshalb spontan vor sich, und sie war mit großen Entbehrungen für die bäuerlichen Siedler verbunden. Dem gleichen Ziele — die für den Großgrundbesitz notwendigen Arbeitskräfte in der Landgemeinde festzuhalten — wie auch den Interessen der Staatskasse dienten das System der gemeinsamen Haftpflicht der Landgemeinde und das Passsystem. Wenn z. B. die Steuern nicht bezahlt waren, wurde kein Pass ausgefolgt, und die einzige Arbeitsmöglichkeit blieb das Schaffen für einen Spottpreis bei dem benachbarten Großgrundbesitzer, oder aber es mussten Darlehen bei Dorfwucherern aufgenommen werden. Die Regierung wurde zur Fesselung der Bauern an die Landgemeinden ferner bestimmt durch ihre Furcht, dass infolge der Auflösung der Landgemeinde, der Freizügigkeit der Bevölkerung und ihrer Proletarisierung die Bauernmassen unvermeidlich revolutioniert würden.
4. Die Mehrheit der kleinen und mittleren Bauern war in der alten Landgemeinde der Willkür wirtschaftlich starker Schichten (Großbauern) ausgeliefert. Diese hielten mit Unterstützung des Landeskreis-Vorstehers die Macht in ihren Händen und konnten alles tun, was ihnen beliebte. Sie konnten Mitglieder der Landgemeinde mit Ruten züchtigen lassen und ausweisen. Diese Strafen wurden vorwiegend den Ungehorsamen und Protestierenden zuteil.
Die alte Landgemeinde, die von der Gemeindeversammlung verwaltet wurde, schien äußerlich eine Gemeinschaft, die frei ihr Wirtschaftssystem wählte und ihre Angelegenheit regelte. In Wirklichkeit gab es aber neben der Landgemeinde die weit stärkere politische und bureaukratische Macht des Regierungsbeamten, wozu noch die Macht des Großgrundbesitzers, des Dorfwucherers und der Geistlichkeit kam, von denen die einen ausbeuteten und die anderen die Ausbeutung der in der Landgemeinde festgehaltenen Bevölkerung unterstützten.
5. Dank diesem System, zu dem das Analphabetentum und der Landhunger, der Mangel an rechtlichen Bürgschaften, die „Erziehungsmittel" der körperlichen Strafen und die Verbannung nach Sibirien, die Willkür der Kreispolizeiaufseher, der niederen Landespolizeibeamten und der Landeskreisvorsteher, das parteiische Kreisgericht, wo das Werkzeug des Kreisvorstehers, der Kreisschreiber, nach Lust und Laune verfuhr, und schließlich die wirtschaftliche Knechtung gehörten,, befanden sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts drei Viertel der Bevölkerung Russlands in einer außerordentlich schweren Lage. Die Verelendung der Bauernmassen war nicht lediglich eine Folge der schonungslosen Ausbeutung von Seiten der Großgrundbesitzer und der Dorfwucherer. Die imperialistische Politik aller zaristischen Regierungen, die Kriege der letzten 50 Jahre, die Kosten der militärischen Rüstungen und der strategischen Verkehrslinien, die Verwaltung der eroberten Grenzgebiete usw. — alles das erforderte riesige Aufwendungen, die hauptsächlich der Bauernschaft zur Last fielen. Besonders schlimm war der Umstand, dass als leichtes Mittel zur Sicherung der staatlichen Einkünfte die Ausbreitung der Trunksucht unter der Bevölkerung erschien. Das Alkoholmonopol, das der Regierung ein Einkommen von 800 Millionen Rubel jährlich sicherte, wirkte sich mit seinen nachteiligen Folgen vor allem ebenfalls in der Bauernschaft aus und zerstörte in steigendem Maße die Grundlagen der Bauernwirtschaft.
6. Den zweiten Versuch zur Lösung der Agrarfrage und zur Befreiung vom Joche der Rechtlosigkeit und Ausbeutung machte die Bauernschaft in den Jahren 1905 und 1916. Die Agrarunruhen dieser Jahre erfassten das Riesengebiet des gesamten Südens und des Zentrums des Landes; sie waren von einer starken Arbeiterbewegung begleitet. Da aber die Revolution für die Arbeiter mit einem Misserfolg, endete, und die Macht in den Händen der zaristischen Regierung blieb, erhielten auch die Bauern nichts. Die Agrarbewegung wurde durch schonungslose Repressalien niedergeschlagen. Die Revolution von 1905 bildete für die herrschenden Klassen eine drohende Warnung. Unter ihrem Einflusse siegte in der zaristischen Regierung die sogenannte Industriegruppe. Man fing an, unter der Bauernschaft Verbündete zu suchen, und es wurde als dringende Aufgabe erachtet, in der Bauernbevölkerung wohlhabende Schichten zu schaffen, um sich auf sie stützen zu können. Man schritt daher zu Reformen, man ging an die Zertrümmerung der Dorfgemeinde und die Schaffung bäuerlichen Privatbesitzes. Zur Befriedigung des Landhungers fing man an, die Siedlungen mit aller Kraft zu fördern. Die Agrarbewegung rief eine Panik unter dem Adel hervor, und es setzte ein Massenverkauf adeligen Grundbesitzes ein. Um den Schein einer Zuteilung von Grund und Boden an die Bauern zu schaffen, und noch mehr um die Bodenpreise vor dem Rückgang und den Adel vor dem Zugrundegehen zu retten, kauften die Agrarbanken (die Bauern- und Adelsbanken) im großen Umfange die Großgrundbesitze auf und trieben beim Verkauf dieses Grund und Bodens an die Bauern die Preise in die Höhe. Alle Reformen des Jahres 1905 konnten die Massen der Bauernschaft nicht befriedigen, da sie weit mehr den politischen Zielen der herrschenden Klassen dienten, als eine reale Hilfe für die Bauernschaft bezweckten. Dieser Umstand wirkte sich auf ihr Schicksal aus.
7. Die Periode zwischen der Revolution 1905 und dem Weltkrieg ist dadurch gekennzeichnet, dass die herrschenden Klassen eine neue revolutionäre Welle voraussahen und sie zu vermeiden trachteten. Der Zerfall der Landgemeinde wurde mit allen Mitteln beschleunigt, um so schnell als möglich bürgerliche Grundbesitzer zu schaffen und sich gegen die drohende Revolution auf sie stützen zu können. Die landwirtschaftlichen Kredite kamen hauptsächlich den Großbauern und den nun geschaffenen Meiereibesitzern zugute, da diese die Verwaltung der Kreditvereine in die Hände nahmen, und die von den Statuten geforderten Sicherheiten bieten konnten. Der Kredit wurde nicht zur Hilfe für die ärmste Bauernschaft, sondern zur Stärkung und Stützung der wohlhabenden Bauern verwendet. Man wollte die armen Bauern nicht mehr im Dorfe festhalten, war vielmehr bestrebt, sie loszuwerden. Das entsprach den Interessen der Bourgeoisie, da die sich entfaltende Industrie billige Arbeitskräfte erforderte. Es setzte ein Massenverkauf von Grund und Boden der Kleinbauern ein und der Ankauf ihrer Grundstücke durch die Großbauern. Gleichzeitig herrschte die imperialistische Politik unverändert weiter, die mit ihr verbundenen Ausgaben für Armee und Flotte stiegen während dieser Jahre auf das Doppelte, so dass demzufolge auch! die Einkünfte des Staates gesteigert werden mussten, d. h. die Steuer und die Erträgnisse des Alkoholmonopols. Dieser Stand der Dinge lastete sowohl auf den Reichen als auch auf den Armen und vereinigte sie in allgemeiner Unzufriedenheit. Gleichzeitig spitzte sich auf dem Lande der Pauperisierungsprozess zu; die nach 1905 eingetretene Zunahme der Zahl der land- und pferdelosen Bauern war ein Anzeichen dafür.
8. Nach 1905 ließen sich die Regierung und die Semstwos auch die Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse unter der bäuerlichen Bevölkerung angelegen sein; diese wurde jedoch weder zur Beteiligung an ihrer Berufsbildung herangezogen, noch zu deren Leitung. Mit der erwähnten Aufgabe wurden amtliche Agronomen betraut. Die Agronomie der Semstwos stand unter den Verhältnissen jener Zeit im Dienste einer Organisation der herrschenden Klassen, Trotz mancher guten Leistungen und der Hingebung vieler Agronomen, die oft dem Volke selbst entstammten, erschien sie der Bevölkerung als eine fremde Sache. Der Agronom selbst war im Dorfe sofort ein Gegenstand des polizeilichen Verdachtes; konnte keines entsprechende Tätigkeit entfalten und wurde häufig zu einem bloßen Beamten des Agronomiewesens. Außerdem konnte die mit Steuern, Pachtzins, Zahlungen für den gekauften Boden überbürdete mittlere und arme Bauernschaft keine Mittel zur Besserung des Betriebs aufbringen. Aus diesem Grunde führten auch die Reformen zu keiner Beruhigung. Die arme und mittlere und sogar die wohlhabende Bauernschaft hielten die Gründung selbständiger Meiereien und die Aufforderungen, nicht nach Landbesitz, sondern nach Verbesserung der Wirtschaft zu streben, für „Fallen". Sie leisteten solchen Losungen keine Gefolgschaft. Der Weltkrieg offenbarte grell alle Gegensätze, die sich im Dorfe entwickelt hatten, und führte zur Revolution. Die Februar-Revolution konnte diese Gegensätze nicht lösen. Die während dieser Zeit von der Bourgeoisie und nachher von der Koalition der Groß- und Kleinbourgeoisie unternommenen demokratischen Reformen trugen der wichtigsten und brennendsten Frage keine Rechnung: der Bodenfrage. Die Bauernschaft überzeugte sich endlich, dass sie ohne Vereinigung mit den Arbeitern keinen Grund und Boden erhalten werde. Das war es, was zum Riesenerfolg der November-Revolution führte.
2. Die 50 Jahre, seit der „Bauernbefreiung" bis zur ersten Revolution 1905, sind durch die völlige Gleichgültigkeit der Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bauernschaft gekennzeichnet. Aus Angst vor dem Wissen, als der Quelle der Revolution, hielt die Regierung das Volk in Unwissenheit. Das führte dazu, dass in einem Lande, wo der größte Teil der Bevölkerung Landwirtschaft betreibt, die bäuerliche Bevölkerung jeglicher agronomischer Kenntnisse bar war.
Die landarme und mittlere Bauernschaft, die keinen Ausweg in der Intensivierung ihrer Wirtschaft finden konnte, musste versuchen, die angebaute Fläche zu erweitern. Die Bauern waren gezwungen, Grund und Boden zu pachten oder zu kaufen. Sowohl das eine wie das andere führte zu einem Steigen der Preise für Grund und Boden, der vorwiegend den Gutsbesitzern abgekauft oder abgepachtet werden musste. In einzelnen Gouvernements betrug vor dem Kriege der Pachtzins für eine Desjatine den Wert der auf dieser erzielten Ernte. Dem gleichen Ziel: der Festigung der Bodenpreise, diente die Adels- und Bauernbank. Die Bodenpreise waren für den Hauptkäufer, den Bauern, derart hoch, dass er schließlich aus der Schlinge der Schulden nicht mehr herauskommen konnte. Die Geschichte der genannten Bank ist reich an Schuldenrückständen und an Zwangsverkäufen von Grund und Boden, den die Bauern von der Bank gekauft hatten. Außerhalb des Schwarzerdegebietes gab es häufig Fälle, dass Bauern den Betrieb der Landwirtschaft aufgaben, die auf diese Weise aufhörte, ein Hauptberuf zu sein, und zu einem Aushilfs- und Nebenberuf wurde. Der Zug aus dem Dorfe in die Stadt nahm immer mehr und mehr zu.
3. Die Landgemeinde wurde von der Regierung dazu benützt, eine Intensivierung der bäuerlichen Wirtschaft zu verhindern. Die ständigen Neuverteilungen des Bodens führten zu einer außerordentlichen Zerstückelung. Diese führte ihrerseits dazu, dass sehr oft zwischen dem bäuerlichen Besitz der einzelnen Bauern fremde Grundstücke lagen.
Die Fesselung der Bauern an die Landgemeinde war eine bestimmte Taktik der Regierung. Sie hatte das Ziel, die Bauern in der Nähe der Großgrundbesitzer festzuhalten, um diese mit billiger Arbeitskraft zu versorgen. Aus gleichem Grunde war die Regierung bis zum Jahre 1905 nicht besonders geneigt, die Siedlerbewegung zu unterstützen. Diese ging deshalb spontan vor sich, und sie war mit großen Entbehrungen für die bäuerlichen Siedler verbunden. Dem gleichen Ziele — die für den Großgrundbesitz notwendigen Arbeitskräfte in der Landgemeinde festzuhalten — wie auch den Interessen der Staatskasse dienten das System der gemeinsamen Haftpflicht der Landgemeinde und das Passsystem. Wenn z. B. die Steuern nicht bezahlt waren, wurde kein Pass ausgefolgt, und die einzige Arbeitsmöglichkeit blieb das Schaffen für einen Spottpreis bei dem benachbarten Großgrundbesitzer, oder aber es mussten Darlehen bei Dorfwucherern aufgenommen werden. Die Regierung wurde zur Fesselung der Bauern an die Landgemeinden ferner bestimmt durch ihre Furcht, dass infolge der Auflösung der Landgemeinde, der Freizügigkeit der Bevölkerung und ihrer Proletarisierung die Bauernmassen unvermeidlich revolutioniert würden.
4. Die Mehrheit der kleinen und mittleren Bauern war in der alten Landgemeinde der Willkür wirtschaftlich starker Schichten (Großbauern) ausgeliefert. Diese hielten mit Unterstützung des Landeskreis-Vorstehers die Macht in ihren Händen und konnten alles tun, was ihnen beliebte. Sie konnten Mitglieder der Landgemeinde mit Ruten züchtigen lassen und ausweisen. Diese Strafen wurden vorwiegend den Ungehorsamen und Protestierenden zuteil.
Die alte Landgemeinde, die von der Gemeindeversammlung verwaltet wurde, schien äußerlich eine Gemeinschaft, die frei ihr Wirtschaftssystem wählte und ihre Angelegenheit regelte. In Wirklichkeit gab es aber neben der Landgemeinde die weit stärkere politische und bureaukratische Macht des Regierungsbeamten, wozu noch die Macht des Großgrundbesitzers, des Dorfwucherers und der Geistlichkeit kam, von denen die einen ausbeuteten und die anderen die Ausbeutung der in der Landgemeinde festgehaltenen Bevölkerung unterstützten.
5. Dank diesem System, zu dem das Analphabetentum und der Landhunger, der Mangel an rechtlichen Bürgschaften, die „Erziehungsmittel" der körperlichen Strafen und die Verbannung nach Sibirien, die Willkür der Kreispolizeiaufseher, der niederen Landespolizeibeamten und der Landeskreisvorsteher, das parteiische Kreisgericht, wo das Werkzeug des Kreisvorstehers, der Kreisschreiber, nach Lust und Laune verfuhr, und schließlich die wirtschaftliche Knechtung gehörten,, befanden sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts drei Viertel der Bevölkerung Russlands in einer außerordentlich schweren Lage. Die Verelendung der Bauernmassen war nicht lediglich eine Folge der schonungslosen Ausbeutung von Seiten der Großgrundbesitzer und der Dorfwucherer. Die imperialistische Politik aller zaristischen Regierungen, die Kriege der letzten 50 Jahre, die Kosten der militärischen Rüstungen und der strategischen Verkehrslinien, die Verwaltung der eroberten Grenzgebiete usw. — alles das erforderte riesige Aufwendungen, die hauptsächlich der Bauernschaft zur Last fielen. Besonders schlimm war der Umstand, dass als leichtes Mittel zur Sicherung der staatlichen Einkünfte die Ausbreitung der Trunksucht unter der Bevölkerung erschien. Das Alkoholmonopol, das der Regierung ein Einkommen von 800 Millionen Rubel jährlich sicherte, wirkte sich mit seinen nachteiligen Folgen vor allem ebenfalls in der Bauernschaft aus und zerstörte in steigendem Maße die Grundlagen der Bauernwirtschaft.
6. Den zweiten Versuch zur Lösung der Agrarfrage und zur Befreiung vom Joche der Rechtlosigkeit und Ausbeutung machte die Bauernschaft in den Jahren 1905 und 1916. Die Agrarunruhen dieser Jahre erfassten das Riesengebiet des gesamten Südens und des Zentrums des Landes; sie waren von einer starken Arbeiterbewegung begleitet. Da aber die Revolution für die Arbeiter mit einem Misserfolg, endete, und die Macht in den Händen der zaristischen Regierung blieb, erhielten auch die Bauern nichts. Die Agrarbewegung wurde durch schonungslose Repressalien niedergeschlagen. Die Revolution von 1905 bildete für die herrschenden Klassen eine drohende Warnung. Unter ihrem Einflusse siegte in der zaristischen Regierung die sogenannte Industriegruppe. Man fing an, unter der Bauernschaft Verbündete zu suchen, und es wurde als dringende Aufgabe erachtet, in der Bauernbevölkerung wohlhabende Schichten zu schaffen, um sich auf sie stützen zu können. Man schritt daher zu Reformen, man ging an die Zertrümmerung der Dorfgemeinde und die Schaffung bäuerlichen Privatbesitzes. Zur Befriedigung des Landhungers fing man an, die Siedlungen mit aller Kraft zu fördern. Die Agrarbewegung rief eine Panik unter dem Adel hervor, und es setzte ein Massenverkauf adeligen Grundbesitzes ein. Um den Schein einer Zuteilung von Grund und Boden an die Bauern zu schaffen, und noch mehr um die Bodenpreise vor dem Rückgang und den Adel vor dem Zugrundegehen zu retten, kauften die Agrarbanken (die Bauern- und Adelsbanken) im großen Umfange die Großgrundbesitze auf und trieben beim Verkauf dieses Grund und Bodens an die Bauern die Preise in die Höhe. Alle Reformen des Jahres 1905 konnten die Massen der Bauernschaft nicht befriedigen, da sie weit mehr den politischen Zielen der herrschenden Klassen dienten, als eine reale Hilfe für die Bauernschaft bezweckten. Dieser Umstand wirkte sich auf ihr Schicksal aus.
7. Die Periode zwischen der Revolution 1905 und dem Weltkrieg ist dadurch gekennzeichnet, dass die herrschenden Klassen eine neue revolutionäre Welle voraussahen und sie zu vermeiden trachteten. Der Zerfall der Landgemeinde wurde mit allen Mitteln beschleunigt, um so schnell als möglich bürgerliche Grundbesitzer zu schaffen und sich gegen die drohende Revolution auf sie stützen zu können. Die landwirtschaftlichen Kredite kamen hauptsächlich den Großbauern und den nun geschaffenen Meiereibesitzern zugute, da diese die Verwaltung der Kreditvereine in die Hände nahmen, und die von den Statuten geforderten Sicherheiten bieten konnten. Der Kredit wurde nicht zur Hilfe für die ärmste Bauernschaft, sondern zur Stärkung und Stützung der wohlhabenden Bauern verwendet. Man wollte die armen Bauern nicht mehr im Dorfe festhalten, war vielmehr bestrebt, sie loszuwerden. Das entsprach den Interessen der Bourgeoisie, da die sich entfaltende Industrie billige Arbeitskräfte erforderte. Es setzte ein Massenverkauf von Grund und Boden der Kleinbauern ein und der Ankauf ihrer Grundstücke durch die Großbauern. Gleichzeitig herrschte die imperialistische Politik unverändert weiter, die mit ihr verbundenen Ausgaben für Armee und Flotte stiegen während dieser Jahre auf das Doppelte, so dass demzufolge auch! die Einkünfte des Staates gesteigert werden mussten, d. h. die Steuer und die Erträgnisse des Alkoholmonopols. Dieser Stand der Dinge lastete sowohl auf den Reichen als auch auf den Armen und vereinigte sie in allgemeiner Unzufriedenheit. Gleichzeitig spitzte sich auf dem Lande der Pauperisierungsprozess zu; die nach 1905 eingetretene Zunahme der Zahl der land- und pferdelosen Bauern war ein Anzeichen dafür.
8. Nach 1905 ließen sich die Regierung und die Semstwos auch die Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse unter der bäuerlichen Bevölkerung angelegen sein; diese wurde jedoch weder zur Beteiligung an ihrer Berufsbildung herangezogen, noch zu deren Leitung. Mit der erwähnten Aufgabe wurden amtliche Agronomen betraut. Die Agronomie der Semstwos stand unter den Verhältnissen jener Zeit im Dienste einer Organisation der herrschenden Klassen, Trotz mancher guten Leistungen und der Hingebung vieler Agronomen, die oft dem Volke selbst entstammten, erschien sie der Bevölkerung als eine fremde Sache. Der Agronom selbst war im Dorfe sofort ein Gegenstand des polizeilichen Verdachtes; konnte keines entsprechende Tätigkeit entfalten und wurde häufig zu einem bloßen Beamten des Agronomiewesens. Außerdem konnte die mit Steuern, Pachtzins, Zahlungen für den gekauften Boden überbürdete mittlere und arme Bauernschaft keine Mittel zur Besserung des Betriebs aufbringen. Aus diesem Grunde führten auch die Reformen zu keiner Beruhigung. Die arme und mittlere und sogar die wohlhabende Bauernschaft hielten die Gründung selbständiger Meiereien und die Aufforderungen, nicht nach Landbesitz, sondern nach Verbesserung der Wirtschaft zu streben, für „Fallen". Sie leisteten solchen Losungen keine Gefolgschaft. Der Weltkrieg offenbarte grell alle Gegensätze, die sich im Dorfe entwickelt hatten, und führte zur Revolution. Die Februar-Revolution konnte diese Gegensätze nicht lösen. Die während dieser Zeit von der Bourgeoisie und nachher von der Koalition der Groß- und Kleinbourgeoisie unternommenen demokratischen Reformen trugen der wichtigsten und brennendsten Frage keine Rechnung: der Bodenfrage. Die Bauernschaft überzeugte sich endlich, dass sie ohne Vereinigung mit den Arbeitern keinen Grund und Boden erhalten werde. Das war es, was zum Riesenerfolg der November-Revolution führte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Bündnis der Arbeiter und Bauern