Die Familie der Poli

Unterdessen war Venedig selbst ein Sitz blühenden Gewerbfleißes und für das mächtig aufstrebende Deutsche Reich ein Haupt - Vermittlungsplatz geworden. Nach Begründung eines allgemeinen deutschen Kaufhauses konnten aus dem nördlichen Europa unmittelbar alle jene dem Morgenlande unentbehrlichen gröberen Warengattungen bezogen werden. Konstantinopels Handelsgröße erstand nicht wieder, als Venedig an den Küsten Kleinasiens eine Menge sicherer Handelsniederlagen und in diesem Teile des Mittelmeeres die bedeutendsten Inseln und damit ein entschiedenes Übergewicht über alle nebenbuhlenden Handelsstädte gewonnen hatte. Jetzt musste der venetianischen Kaufmannschaft dringendster Wunsch dahin gehen, den reichen Erzeugungsländern Asiens ohne Vermittler die Hand zu reichen und den unerschöpften Wellhandelsstrom, der jetzt hauptsächlich durch sarazenische Vermittlung die Schiffe der Mittelmeer-Handelsleute erreichte, an der Quelle aufzufangen.

Diesem natürlichen Bestreben entsprangen auch die Reisen der Poli, welche zu einer Zeit unternommen wurden, da Konstantinopel, wiewohl noch in Gewalt Venedigs und des abendländischen Kaisers, doch in Folge der Schwäche des Letzteren bei der Unbotmäßigkeit der schwer niederzuhaltenden Griechen stets als ein bedrohter und bedrängter Besitz erschien.


Andrea Polo da St. Felice, ein Patrizier von Venedig, hatte drei Söhne, von denen die beiden jüngeren, Masseo und Nicolo, als Kaufleute eine Handelsreise nach Konstantinopel unternahmen, und bald darauf, im Jahre 1250, während der Regierung des Kaisers Balduins II. von Flandern, mit einer reichen Schiffsladung von allerlei Waren im Marmora-Meere ankamen. Nach reiflicher Überlegung, was sie von hier aus unternehmen sollten, um ihr Handelskapital rasch zu vermehren, beschlossen sie, ihre Reisen durch das Schwarze Meer nach dem Innern Asiens fortzusetzen. In dieser Absicht kauften sie so viele Edelsteine von Wert, als sie vermochten, nahmen von Konstantinopel und dem Kaiser Abschied und schifften sich nach dem Hafen Soldadia ein (Sudak am südlichen Ende der Krim). Von hier suchten sie zu Lande weiter zu kommen und begaben sich an den Hof des Barka, der als Beherrscher der westlichen Tataren in Bolgar und Sarai seinen Sitz hatte. Dieser, der freigebigste und gebildetste von allen tatarischen Fürsten, nahm die Reisenden mit großer Auszeichnung auf und vergalt die Juwelen, die sie ihm schenkten, mit Edelsteinen von doppeltem Wert und anderen reichen Gaben. Als er jedoch nach einem Jahre im Kampfe mit dem Fürsten der östlichen Tataren Alau (Hulagu, Kublai-Khans Bruder) unterlag, mussten die Reisenden, um Konstantinopel wieder zu erreichen, die östliche Richtung auf Okak einschlagen. Sie überschritten daher den Fluss Sihon und gelangten nach 17 Tagereisen durch die Wüste von Karak nach Bokhara, wo Barak-Khan herrschte. Hier trafen sie einen Gesandten Hulagus an Kublai-Khan, seinen Bruder, der am Ende des asiatischen Festlandes, in China, seinen Herrschersitz hatte.

Auf die Einladung des Gesandten, der an den weltkundigen, mit der tatarischen Sprache schon vertrauten Italienern großen Gefallen fand, begaben sie sich an das Hoflager des Khan Kublai (Kubilai), dessen Residenz sie nach einem Jahre voll Mühen und Gefahren glücklich erreichten. Der Großkhan empfing sie mit gewohnter Herablassung und gab ihnen, als den ersten Italienern, die in seinem Lande erschienen, glänzende Feste, sowie manche andere Beweise gnädigen Wohlwollens. Sie mussten ihm stundenlang erzählen von den Fürsten und Völkern des Abendlandes, von der Art ihrer Kriegsführung, besonders aber von dem Papst, den Lehren und dem Gottesdienst der christlichen Kirche. Darauf machte er ihnen den Vorschlag, dass sie als seine Gesandten nach Rom reisen und den Papst bitten möchten, ihm hundert in allen Wissenschaften wohlerfahrene Männer zu senden, welche den Gelehrten seines Reiches die Wahrheiten des Christentums offenbaren sollten, um auch seine Völker für diesen Glauben zu gewinnen. Den Reisenden wurden Briefe in tatarischer Sprache an den Papst und als Geleitsbrief eine goldene Tafel, mit dem Zeichen der kaiserlichen Hoheit, mitgegeben. Wer eine solche Tafel führte, musste von allen Statthaltern in den tatarischen Reichen geschützt und unter Darreichung alles Notwendigen weiter geleitet werden. Als nach der zweiten Tagereise der Offizier, der ihnen mitgegeben worden war, tödlich erkrankte, setzten die Poli die Reise allein fort.

Wiewohl aber ihnen überall die bereitwilligste Förderung zu Teil ward, brauchten sie doch drei volle Jahre, um den Seehafen Giazza in Kleinarmenien (Ajazza, l'Ajas, auch Lajazzo, später Avas genannt, am Meerbusen gleichen Namens) zu erreichen. Im April 1269 kamen sie nach Aere und erfuhren, dass Papst Clemens IV. am 23. November 1268 gestorben und dass sein Nachfolger noch nicht erwählt sei. Sie erstatteten nun dem Legaten zu Aere, Tebaldo de Vesconti, Bericht von dem Zweck ihrer Reife und eilten hierauf nach Venedig, ihre Familie wieder zu sehen. Nicolos Frau war unterdessen gestorben und hatte ihm einen Sohn, Marco, hinterlassen, der damals 19 Jahre alt war. Derselbe durfte sich den Brüdern anschließen, als sie nach Ablauf von zwei Jahren nach Acre zurückkehrten. Der unterdes als Papst Gregor X. auf den Stuhl Petri gelangte Legat gab ihnen Briefe an den Khan und zwei gelehrte Mönche aus dem Predigerorden mit, denen er Vollmacht erteilte, an seiner Statt Bischöfe zu ernennen, Priester zu weihen und Absolution zu erteilen. Aber schon an den Grenzen von Armenien verloren die christlichen Sendboten, denen vor den drohenden Gefahren bangte, den Mut, und sie kehrten furchtsam um, während die Poli allen Gefahren kühn die Stirn boten und nach Überwindung großer Schwierigkeiten, jedoch erst nach 3 1/2 Jahren, die vom Großkhan in der Tatarei (1256) erbaute prächtige Stadt Che-men-fu (Chamtu, d. i. kaiserliche Hauptstadt) erreichten. Der Großkhan schickte ihnen 40 Tagereisen weit seine Boten entgegen und empfing sie umgeben von seinen Fürsten und Verehrern mit den größten Ehren, hieß sie aufstehen, als sie sich vor ihm auf's Antlitz warfen, und über die Unterredung mit dem Papst berichten. Als sie geendigt und die mitgebrachten Geschenke überreicht hatten, lobte der Monarch ihre Treue und ernannte den jungen Marco zu seinem Ehrenbegleiter. In kurzer Zeit mit der Sprache und den Sitten der Tataren vertraut, wurde Marco bald darauf von Kublai-Khan in einer wichtigen Staatsangelegenheit nach Karazan geschickt. Im innern Dienst in der Eigenschaft eines Gouverneurs verwendet, sowie als Admiral einer Flottille des Khans, gelang es dem gewandten Venetianer in diesen Ämtern, sowie gelegentlich mehrfacher anderer Missionen im Interesse seines Gebieters, sich dessen Wohlwollen in hohem Grade zu verdienen.

Und so fehlte es während eines 17 jährigen Aufenthaltes Marco nicht an Gelegenheit, im fernen Ostasien die Zustände, der tatarischen Völker gründlich kennen zu lernen. Sorgfältig schrieb er alle Beobachtungen nieder, die ihm in der Heimat als Grundlage zu seinem berühmt gewordenen Reisewerke dienten.

Als ihr Gönner, der Khan, alt und schwach wurde, erfasste die drei Poli, welche mittlerweile große Schätze in Gold und Juwelen gesammelt hatten, die Sehnsucht nach ihrer Heimat: dazu traten Besorgnisse um ihr Los nach dem Tode ihres Wohltäters. Dieser wollte jedoch von der Heimkehr der Venetianer nichts wissen: unwillig hörte er sie ihren Wunsch vortragen und bot ihnen das Doppelte von alle dem, was sie schon erworben hatten, wenn sie aus Liebe zu ihm bleiben wollten. Endlich gab er ihren Bitten nach: doch mussten sie ihm das Versprechen ablegen, zurückzukehren, nachdem sie einige Zeit bei ihrer Familie zugebracht. Wieder diente ihnen die goldene Geleitstafel als Reisepass: außerdem erhielten sie Vollmacht, als des Khans Gesandte mit dem Papst und den Königen von Frankreich und Spanien zu verhandeln.

Reich beschenkt mit Rubinen und anderen köstlichen Edelsteinen, schlugen die Europäer mit einer Gesandtschaft, welche dem König Argon in Indien eine junge Gemahlin zuführen sollte, auf einer Flotte von 14 Schiffen den östlichen Wasserweg ein. Nach achtzehnmonatlichem Umherirren in den indischen Gewässern erreichten sie die indische Küste: doch war jener König unterdes gestorben und so konnte die für ihn bestimmte Gemahlin nur seinem Sohne überliefert werden. Die Poli erhielten vier neue goldene Geleitstafeln, deren jede 1 1/2 Elle lang und 5 Zollbreit war und den Befehl enthielt, die Reisenden mit sicherem Geleite und allem Nötigen überall zu fördern. Wohin sie kamen, wurde diesem Befehl aufs Pünktlichste Folge geleistet, sodass sie unsichere Gegenden oft unter Bedeckung von 200 Mann durchreisten. Über Trapezunt, Konstantinopel und Negroponte kehrten sie nach mehr als 24jähriger Abwesenheit im Jahre 1295 wieder nach Venedig zurück.

Da sie hier in groben wollenen Kleidern, mit fremd klingender Sprache und ungewohnten Sitten, in ihrem ganzen Wesen fast unkenntlich geworden, bei ihren reichen und vornehmen Verwandten erschienen, weigerten sich diese, die längst Verschollenen anzuerkennen, denn man hielt sie für Betrüger. Da veranstalteten die drei Chinafahrer ein prächtiges Gastmahl, luden samt ihren Verwandten die Edelsten der Stadt ein und erschienen dabei in den prächtigsten damastenen und samtenen Kleidern, die sie rasch nach einander wechselten und jedesmal an die Diener verschenkten. Am Schluss des Festmahls erschienen sie wieder in ihren grobwollenen Anzügen, trennten nun an denselben eine Menge künstlicher Nähte und Taschen auf und brachten eine so große Anzahl der edelsten Steine und Perlen heraus, dass allen Anwesenden Hören und Sehen verging. Nun zögerten jene nicht länger, die reichen Weltfahrer als Verwandte anzuerkennen.

Seitdem standen die drei Poli zu Venedig in höchster Achtung, und Marco erhielt, teils wegen seines Reichtums, teils weil er bei seinen Schilderungen die Schätze und Einkünfte des Großkhans stets nach Millionen maß, den Namen „Messer Marco Millioni“, d. i. der Millionär. Als Marco aber auf dem Todtenbette von den Freunden bedrängt wurde, das zu widerrufen, was man für Übertreibungen hielt, erwiderte er ruhig, er habe nur die Hälfte von allen Wundern der Welt beschrieben, die er gesehen.

Als erfahrener Seemann mit einem Kommando auf der Flotte betraut, fiel Marco, als die Venetianer den Genuesen im Golf von Ajazzo unterlagen, nach tapferster Gegenwehr in Gefangenschaft. In Genua wurde er bald als das erkannt, was er war, als ein eben so achtungswerter wie weltkundiger Mann, und es drängten sich die Vornehmsten, ihm seinen Gewahrsam zu erleichtern. Täglich im Gefängnis von den ersten Männern aufgesucht, musste er denselben von seinen Reisen erzählen, und so erwarb er sich zahlreiche Freunde. Da die Gefangenschaft sich in die Länge zog und es sogar schien, als könne sie eine lebenslängliche werden, ließ er mit Hilfe seiner Reisenotizen, welche ihm aus Venedig geschickt wurden, seine Fahrten und Beobachtungen durch einen genuesischen Freund Rustighello oder Rusta Pisan aufzeichnen, welches Manuskript schon 1298 vollendet gewesen sein soll. Rusta schrieb französisch, und ein späterer lateinischer und italienischer Text wurde aus diesem ersten französischen übersetzt. Später, im Jahre 1307, übergab Marco in Venedig dem Thiébault de Cepoy, Botschafter des Grafen von Artois (Karl von Valois), eine zweite gleichfalls französische Bearbeitung, reiner stylisiert als die erstere und mit eigenen Verbesserungen und Zusätzen. Drei handschriftliche Exemplare hiervon befinden sich in Paris. Erst im vorgerückten Alter verheiratete sich Mareo und starb, 70 Jahre alt, als ein angesehener Nobile zu Venedig nach 1323, von welchem Jahre sein Testament datieren soll. Die Reiseaufzeichnungen des Venetianers sind deswegen für uns so hochwichtig , weil sie uns Kunde über die interessantesten Länder Ostasiens aus einer Zeit überliefern, während welcher über diese entferntesten Teile der alten Welt nur Märchen und Wunderdinge umherliefen. Was Marco Polo erzählt, verdient allen Glauben, ja es hat sich im Laufe der Zeit sogar Manches als völlig glaubwürdig erwiesen, was lange und von vielen Seiten angezweifelt oder missverstanden worden war. Natürlich darf man den Reisebericht nicht mit den Augen des Zeichners der Abbildungen im „Livre des merveilles“ lesen. Dieser mittelalterliche Illustrator legte dem gewissenhaften Venetianer bisweilen Vorstellungen unter, welche im Sinne einer wundersüchtigen Zeit, nicht immer aber eines Reisenden von der Bedeutung Marco Polos waren. Also vom Standpunkte unserer heutigen Erkenntnis wollen wir diese immerhin interessanten Zeichnungen ansehen.