Das Ausrufen in den Straßen von Paris

Autor: Schorn, Johann Karl Ludwig von Dr. (1793-1842) deutscher Kunsthistoriker, Redakteur und Publizist, Erscheinungsjahr: 1836
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hausgebräuche, Sittengeschichte, Sittenbild, Landessitte, Paris, Marktschreier
Aus: Morgenblatt für gebildete Stände. 30. Jahrgang. Freitag, den 1. Januar 1836
Wenn jedes Jahrhundert uns die Chronik seiner Stadt- und Hausgebräuche überliefert hätte, würden wir heutzutage wenig Mühe haben, die für uns dunkel gewordenen Anspielungen auf Landessitte und Landessprache zu verstehen, welche wir in den älteren Schauspielen und Romanen antreffen. Aber die vornehmen Schriftsteller unseres Jahrhunderts halten diese Kleinigkeiten und Nebensachen ihres Nachforschens für unwert. Nehmen wir einmal an, dass bei dem Wechsel, dem alle irdischen und menschlichen Dinge unterworfen sind, das laute Ausrufen auf den Straßen ganz abgeschafft würde — eine für die heutige allgemeine Ruhe vielleicht wünschenswerte Verbesserung — wie sollten sich unsere Nachkommen einen Begriff davon machen? Es möge einmal Jemand, der diese Sitte kennen zu lernen wünscht, auf ein Jahr nach Paris kommen und die nomadisierenden Kaufleute aus vollem Halse ihre Waren ausschreien hören, wie sie Einem in unmenschlichen Tönen die Ohren zerreißen, wie die unverständlichen Ankündigungen ihrer täglichen Handelsartikel die erprobteste Geduld ermüden; fürwahr, wenn er auch schon Ähnliches in Wien oder anderswo gehört hat, diese ägyptische Plage in Paris wird ihn in Staunen setzen.

So lange ich in Paris lebe, ist es mir mitunter in den Sinn gekommen, diesen lärmenden Aufenthalt für mehrere Monate mit einem ruhigen, stillen Landsitz zu vertauschen, und ich muss gestehen, dass mir dann keine Stunde des Tags so viel Überraschungen und Genüsse bereitete, als der Morgen, wenigstens in den ersten Tagen meiner Zurückgezogenheit. Der Sonnenaufgang an einem freien Firmament, welches vor Kurzem noch die Dächer von tausend Häusern meinen Augen verdeckten, jene ländliche Ruhe, kaum von dem schwachen Gemurmel aus den Feldern und Wäldern her unterbrochen, gleichsam nur um anzudeuten, dass diese Ruhe nicht die starre Ruhe der Einöde sei — Alles das war mir wieder neu, ungewöhnlich und brachte mich auf ganz andere Gedanken; ich war erstaunt über diese schweigsamen Umgebungen, bevor ich darüber entzückt wurde; es war mir, als ob ich einen meiner Sinne verloren und die andern dadurch doppelte Kraft bekommen hätten. Der rasche, schleunige Übergang von einer unruhigen Geschäftigkeit, von einem betriebsamen, stürmischen Leben zu einer vollkommenen Seelen- und Köperruhe und zur Betrachtung einer friedlichen Natur mochte vielleicht nicht die einzige Ursache dieses Eindrucks sein; ich bin nicht abgeneigt, eine andere, gemeinere und rein physische Quelle dieser Erscheinung anzunehmen, nämlich die Abwesenheit der vielen Schreier in Paris, und das plötzliche Verstummen jenes ewigen, unablässigen Ausrufens, welches täglich mit der Morgenröte in den noch leeren Straßen der Hauptstadt erwacht, dieselben Anfangs allein erfüllt, sich später mit dem allgemeinen Tumult vermählt und sich endlich unter das ewige Getrampel der Pferde, das Rollen der Wagen und das unaufhörliche Geräusch der Füße, Hände und Zungen verliert.

Unter den charakteristischen Merkmalen der Hauptstadt ist diese Sitte des öffentlichen Ausrufens sicher eines der hervorstechendsten, wenn auch keines der liebenswürdigsten; von Morgen bis Abend hört man hier nichts als ein Chaos von tausend und aber tausend disharmonischen Stimmen, welche alle Stufen der Tonleiter hinauf und hinabsteigen, mit den tiefsten und höchsten Noten abwechseln und aus den hüpfendsten, fröhlichsten Rouladen in das schleppendste, kläglichste Rezitativ übergehen; brummende männliche Bassstimmen, durchdringende weibliche Diskantstimmen und kreischende Kinderstimmen, welche durch die verschlossensten Türen und dichtesten Fenster dringen und den friedlichen Bürgersmann in seinem Alkoven aufwecken, um die Litaneien ganzer Schwärme von ambulierenden Verkäufern anzuhören. Diese Proletarier, Scythen und Beduinen des Kaufmannstandes sind unverschämt genug, den Schlaf des gnädigen Kaufherrn zu unterbrechen und als ungebetene Gäste an seine Tür zu pochen.

Wenn hohes Altertum immer adelsfähig gemacht hätte, so würde so leicht kein Stand dieser bescheidenen Bürgerklasse den Vorrang abgewonnen haben; denn sie stammt wahrscheinlich schon aus den Zeiten der alten berühmten Pariser Hansa. Die öffentlichen Ausrufer kamen ohne Zweifel mit der berüchtigten Lutetia selbst zum Vorschein; sie taten den ersten Kinderschrei, den diese geschwätzige und lärmende Stadt in ihrer Wiege ausstieß. Das Mittelalter war das goldene Zeitalter der „Ausschreiereien“; obschon sie heutiges Tages eine bei weitem größere Ausdehnung, als sich mit dem Wohle unseres Trommelfells verträgt, gewonnen haben, so sind sie doch weniger zahlreich und mannigfaltig, als unter dem guten Könige Ludwig IX.; der Fortschritt der Zivilisation hat mehr als einen Handelszweig, der ehemals den herumwandernden Ausschreiern überlassen war, in den Bereich der ansässigen und patentieren Kaufleute hineingezogen.

Ein alter französischer Dichter aus dem dreizehnten Jahrhundert erzählt, auf welche Art und Weise die Landbewohner ihre Lebensmittel in der Stadt verkauften, indem sie nämlich nichts Besseres zu tun wussten, als bis spät in die Nacht hinein auf den Straßen von Paris herumzubrüllen. Mit Tagesanbruch fange man schon an zu schreien: Seignor, qu’or vous alez baigner et estuver sans delaier. (Gnädiger Herr, kommt doch ohne Verzug ins Bad und in die Schwitzstube.) Es gibt so viel Lebensmittel zu verkaufen, fügt derselbe Dichter hinzu, dass ich nicht umhin kann, mein Geld auszugeben, aber selbst wenn ich auch ein groß Vermögen hätte und ich nur jedem Kaufmann einen Gegenstand seiner Ware abkaufen wollte, so würde ich doch bald das Ende meiner Habe erleben. — Der langgedehnte Ruf: des harengs frais verkündete damals den Anfang der vierzigtägigen Fasten; wenn aber dann die glücklichen Ostertage herbeikamen, schrie man fröhlich singend oisons, pigeons, chair salée und chair fraiche in allen Straßen aus. Der gute fromage de Champaigne und de Brie, die warmen Kuchen, die Fische aus dem Teich von Bondy, die Milchwecken (les échaudés) und die später unter der Regierung Ludwigs XIV. so beliebten Eisenkuchcn (oublies), der gute Wein zu 32, 16, 12 und 8 Heller lockten damals von allen Seiten die Käufer herbei. Aber diese einladende, freundliche Aufforderung der Tausende von öffentlichen Ausrufern erstarb unter dem eintönigen und unermüdlichen Wehklagen, welches Einem wohl etwas abforderte, aber nichts anbot, außer Ave Marias und Paternosters. „Du pain, du pain aux frères de Saint-Jacques, aux frères mineurs, aux frères de Saint-Augustin, aux frères a Sacs, aux prisonniers, aux écoliers, aux Filles-Dieu, aux Sachettes!“ Mit den zerlumpten Chorschülern und Bettelorden ist auch diese Trauerklage aus den Straßen von Paris verschwunden. Die Rifodés, die Narquois, die Marcandiers, die Mioches und die übrigen scheußlichen Bewohner aus allen Provinzen des Königreichs Argot, wovon Viktor Hugo in seiner Notre-Dame uns ein so anschauliches und lebhaftes Bild gegeben, haben gleichfalls aufgehört, an den Straßenecken der Hauptstadt zu betteln, zu quémander, wie es in damaliger Sprache hieß; jedoch haben sich die mit den gegenwärtigen Sitten im Einklang stehenden Ausrufe noch zahlreich genug bis ins neunzehnte Jahrhundert fortgepflanzt, und ohne einen einzigen Tag zu schweigen und zu rasten, sich durch alle dazwischenliegenden Zeiten siegreich hindurchgeschlagen.

Ich werde es nie vergessen, als ich am Morgen deck ersten Tages nach meiner Ankunft in Paris erwachte und jene tausend verschiedenen Tonarten hörte, welche die Aufmerksamkeit durch ihre erkünstelte Absonderheit fesseln und oft dem eintönigen Brummen eines Wahnsinnigen gleichen, auf den Hörer aber zum ersten Mal einen Eindruck hervorbringen, den der geborene Pariser, welchen diese befremdenden Stimmen von Kindheit an in den Schlaf lullen, sich gar nicht träumen lässt. Manche dieser Schreier donnern das ganze Jahr hindurch, und ermangeln selten, den Aufgang der Sonne zu begrüßen, sei es nun, dass dieses Gestirn an einem klaren Junihimmel erglänzt, sich in graue Novembernebel oder in die kalten, rötlichen Januardüfte einhüllt. So trifft hier zu jeder Zeit der Ruf: à l’eau unser Ohr, und zwar zur Stunde, wenn die Portiers mit verschlafenen Augen die Haustüren öffnen. Fast alle Pariser Wasserträger sind Kinder der Auvergner Gebirge und haben eine tiefe, raue Tenorstimme. Dann kommt der Tintenverkäufer, welcher seinen Karren unter unserm Fenster vorüberrollt und seinen Kunden de la bonne encre, première qualité anzeigt. Diesem folgt das Heer der Trödler und Alte-Kleiderhändler mit dem ewigen Refrain: Vieux habits, vieux galons! welcher an die spöttischen Strophen des unsterblichen französischen Nationaldichters Béranger erinnert, und uns unwillkührlich so viele alte, zierlich gewandte Kleider und königliche Livreen ins Gedächtnis ruft, woran man oft nichts als die Tressen gewechselt hat. Die Marchands d’habits sind meistens Hebräer, und ihr verdächtiger Tenor hat oft viel Ähnlichkeit mit dem Miauen eines alten Katers. Ein wenig weiter stimmt der Marchand de peaux de lapins ein trauriges Lied an; ihm folgt auf dem Fuße ein Mann mit scharlachroter Weste und viereckiger Mütze, der den Ruhm seiner französischen Glanzwichse verkündet und das ausländische Fabrikat seines Nebenbuhlers Hunt, jenes mächtigen Demokraten und berühmten Wichsverkäufers jenseits der Meerenge, schlecht macht. Weiterhin verkündet einem der Ruf: A ramoner les cheminées! die Nähe des kleinen Savoyarden, jenes armen Auswanderers, der einst ebenso arm wieder in sein Vaterland zurückkehren wird, welches er nie verlassen hätte, wenn nur Brod und Geld dort zu verdienen wäre. Jene kindliche Stimme wird sofort von der eines mächtigen Kerls mit breitem Rücken und eisernem Magen überschrieen; es ist die eines Kohlenträgers, der mit einer Stentorstimme brüllt; der Ton, welchen er hervorstößt, langausgehaltenen Note, die gar kein Ende nehmen zu wollen scheint: Ch-a-r-b-o-ns-de-t-r-r-e! Man meint, er könne unmöglich seinen herkulischen Athen, weiter ausdehnen und die Höhlen seiner Lunge noch ferner ausleeren; aber man irrt sich, wenn man glaubt, er werde mit einem vollen Tone aufhören; wenn er seine unermessliche Silbe vollendet hat, lässt er seine Note auf eine so brutale Weise in die Oktave übergehen, dass man in Versuchung gerathen möchte, zu glauben, seine höllische Kehle sei zerplatzt. Während man diesen noch schreien hört, kommt ein elender Glaser mit seinem Glaskasten daher; er setzt den Leuten die zerbrochenen Fensterscheiben ein und verkündet das auf folgende Art: mit einer ernsten und tiefen Stimme ruft er: Voilà le marchand, und schließt mit einem gellenden, kreischenden Ton: vitrier. Jene Glocke kündet uns einen Verkäufer von allerlei Wirtschaftsgeräten an. Da seine Boutike eine Art von Bazar ist, meint er wahrscheinlich, dass die Ankündigung derselben sich nach dieser Mannigfaltigkeit richten müsse; er ruft daher mit sanfter Stimme: tasses, glaces; mit gerührter Stimme: épingles, aiguilliers; mit steigender Bewegung: assiettes, fourchettes; mit wütendem Tone endlich: casseroles, paravents, soufflets! Auf den Gipfel seiner Leidenschaft gelangt, hält er einen Augenblick inne, um Atem zu holen und sich umzusehen, ob nicht irgend ein Kunde ans Fenster oder vor die Haustüre gekommen ist; dann fängt er von vorne wieder. Bald kommt ein anderer in seine Fußstapfen, welcher in einem sauersüßen Tone schreit: A raccomoder les fayences; diesen löst ein Besenverkäufer mit seinem Achelez des balais! ab, und hintendrein kommt ein dritter, heiserer Schreier, welcher in einem unverständlichen Rothwelsch etwas noch Unverständlicheres ausruft. — Jenes trockene, fortdauernde Geräusch macht der Marchand de baguettes, der seine langen Weidenruten wider einander schlägt und von Zeit zu Zeit dazwischen ruft: Battez vos canapés, vos habits, vos f... Ehemals vollendete der arme Teufel seine Phrase auf eine wohltönende Weise, aber an einem Unglückstage, da er sich in die Nähe der Halle gewagt hatte, gerieten die bekannten Damen dieses Orts, welche rücksichtlich des Artikels über die dem schönen Geschlecht gebührende Achtung sehr feinfühlend und empfindlich sind, in Feuer und Aufruhr, als sie diesen unverschämten Ratgeber der Männer hörten, und belohnten den kühnen Ausrufer mit einer dem Gegenstand durchaus angemessenen Lektion. Seit jener Zeit bleibt ihm die verhängnisvolle Silbe immer in der Kehle stecken, so weit er auch vom Theater, wo diese Katastrophe ihm begegnete, entfernt sein mag. Am meisten hat mich diesen Sommer eine Weiberstimme erschreckt, welche, wenn ich nicht irre, Wallnüsse ausschrie. Ihr Ruf glich dem Angstgeschrei eines auf der See Verunglückten, welcher sich in den obersten Mastkorb des Schiffes geflüchtet, und nun plötzlich seine letzte Hoffnung von der erbarmungslosen Welle verschlingen sieht; der Schrei durchdrang das innerste Mark.

Gehen wir hier über die Quais, Brücken oder Boulevards, so ruft uns der vor seine Bank hingekniete Stiefelputzer in die Ohren: Messieurs, faites cirer vos bottes! Der Straßenjuwelier bietet uns im Vorbeigehen mit salbungsreicher Emphase seine Edelsteine zu fünf Sous, seine Rubine, Smaragden und Topase für zehn Sous an; ein Marchand de cannes, bestürmt uns hartnäckig, ihm einen eleganten Spazierstock von Elfenbein, oder Eisenholz abzukaufen; fünf Schritte weiter mutet uns ein anderer zu, eine seidene Quaste für den Spazierstock einzuhandeln; endlich kommt die Frau, welche das Papier Weynen verkauft, geschmückt mit dem glänzenden Wachstaffethut, blautuchenem Mieder und rotem Rocke, und ruft mit freundlicher Stimme: Voyes, messieurs, le cahier de papier à lettres, 2 sous! la boite de pains-à-cacheter transparens, 10 sous!

Nicht zufrieden damit, uns auf Spazier- und andern Gängen zu ärgern und zu peinigen, verfolgen uns die Pariser Ausrufer bis an die Treppe oder auf den Hof des Hauses, welches wir bewohnen; ja sie schlagen sogar öfter in unserer Hausflur ihr Quartier auf. A repasser les ciseaux, les couteaux meckert der Scherenschleifer ins Haus hinein, und zwar mit einer eben so kratzenden Stimme, als das Schnarren des Stahls auf seinem Schleifsteine; dann schallt in jedes Stockwerk der Ruf des Kupferschmieds und Kesselflickers hinauf, und die Köchinnen bringen die schadhaften Kasserolen, Pfannen und ihre ganze Familie von lärmenden Küchengeschirren herunter, welche der unsaubere Koboldsgeist in den Provinzen Frankreichs mitunter zu Ehren gewisser heimkehrender ehrenwerter Deputierten missbraucht. Früher war ein solches Charivari nur bei Stadt- und Familienangelegenheiten in der Provinz üblich, z. B. wenn eine reiche, hässliche, bejahrte Witwe einen armen, schönen, jungen Mann zu zweiter Ehe nahm. In neuesten Zeiten hat der industrielle Geist unseres Jahrhunderts diese Sitte zu seinem Vorteil ausgebeutet; die karlistischen und republikanischen Kupferschmiede, welche sahen, dass bei solchen Gelegenheiten viel Küchengeschirr abgenutzt wurde, haben ihr Möglichstes getan, das Charivari als eine provinzielle Meinungsäußerung bei wichtigen Staatsfragen einzuführen. Ihre Kollegen der Hauptstadt sind ohne Zweifel nicht abgeneigt, diesen dem Handel so günstigen Brauch aus der Provinz nach der Hauptstadt zu verpflanzen; jedoch ist es unwahrscheinlich, dass die Interessen dieser ehrenwerten Bürgersleute den entgegengesetzten Wünschen der zahlreichen Pariser Gastronomen vorgehen sollten, welch Letztere darüber ganz in Harnisch geraten sind, dass die heiligen Gefäße ihres Gottesdienstes zum Dienste eines fremden Götzen missbraucht werden.

In den kleinen Städten Norddeutschlands, wo man überhaupt so wenig von den Pariser Leiden und Freuden weiß, kennt man auch die Plagen des grässlichen Ausschreiens in den Straßen nicht. So besorgte in meiner Vaterstadt ein einziger Ausrufer die Bekanntmachung aller Waren und Lebensmittel, welche auf den Markt gebracht wurden. Er war von Jedermann gern gesehen und gehört; er half so mancher Hausfrau aus der Verlegenheit und erfreute Vielen das Herz. Meine gute Tante ließ jedes Mal das Strickzeug ruhen, der kupfernasige Apotheker an der Marktecke öffnete das Fenster und der Herr Senator, der mit den Händen auf dem Rücken nach dem Ratskeller ging, hielt den Schritt an, um auf die Worte des Ausrufers zu horchen. Wie Vielen dagegen reizen die Pariser Ausschreier das Nervensystem auf den höchsten Grad, wie manchen Dichter entreißen sie seiner Traumwelt, wie manchen Kaufmann stören sie bei seiner Regeldetri! Doch der Mensch verfluche diese seine Quälgeister nicht! — sie sind die Vorsehung des Volks; jene rauen Töne sind die Lust des fleißigen Arbeiters, wenn sie ihm um die Frühstückzeit la soupe et les pommes de terre toutes chaudes verkünden, wenn am. Pont Saint-Michel oder unter der Siegessäule auf dem Place du Chatelet seine Restaurants unter freiem Himmel zu ihm kommen, sofern es nur einigermaßen die Witterung gestattet. Um seine Brust am Morgen zu erwärmen, dampft gegenwärtig der Kaffee mit Milch, à trois sous Ia tasse, unter den Schoppen der Halle; die ambulierenden Boutiken à trois sous et demi, à cinq sous et demi, à treize sous et demi bieten ihm ohne Unterlass eine Menge von kleinen, unentbehrlichen Gegenständen, welche er ehemals von den hausierenden Kaufleuten erwarten musste. Die moderne Zivilisation fängt endlich an, einige Brosamen für den Armen von ihrer reichbesetzten Tafel fallen zu lassen; das ist der erste annähernde Schritt zu jener glücklichen Zeit, wo sie Allen Alles sein wird, wofern anders die Vervollkommnungsfähigkeit unseres Geschlechts dieses Resultat jemals zu erreichen vermag.

Außer der oben angeführten Menge von so ziemlich stereotyp gewordenen Ausrufen, lassen sich vielleicht noch zahlreichere vernehmen, welche je nach der Jahreszeit abwechseln und, den Zugvögeln ähnlich, nur während einiger Monate laut werden. Jede Jahreszeit bringt die ihrigen mit sich. Einige kommen mit den ersten Blumen zum Vorschein. Diese klingen süß und freundlich in unsere Ohren und scheinen nach den Wohlgerüchen des Frühlings zu duften. Die Blumenmädchen bieten ihre Sträuße an: Fleurissez vous, mesdames! — Tout ca de muguet pour un sou! — Les beaux bouquets de violettes! — So oft ich diesen Ruf am Pont-neuf oder auf den Boulevards höre, empfinde ich eine geheime Freude, denn ich weiß nun sicher, dass der Himmel blau, die Luft rein und die Schwalben wieder da sind. Diesen angenehmen Stimmen folgen bald andere: Cerises de Montmorency! — Fraise et Framboise! Péches et abricots! — de la bonne Angleterre! — welche alle Genüsse anderer Art verheißen. — In den heißen Sommertagen, wenn die Menge in den Champs-Elysées oder auf den Boulevards auf und ab wogt, hört sie oft nicht ungern den bekannten Refrain des Marchand de coco: A la fraiche, qui veut boire? — Die beaux chasselas à la livre, die cerneaux, und der noch häufigere Ruf: noix vertes cassées kehren mir dem sich zu Ende neigenden Jahre wieder. Der traurige Winter und die Kälte ermangeln nicht, den marrons de Lyon, und den mottes à brûler (Lohkäse) auf dem Fuße nachzufolgen.

Kurz, wie gesagt, an allen Orten und in jedem Augenblick hört man das Rufen in den Straßen; geht man Abends ins Schauspiel, war es schon vor einem da; im Parterre oder in der Loge spricht es unsere Börse in Gestalt eines alten Weibes an, welches Blumensträuße oder schöne Apfelsinen verkauft, oder wird zum Manne, der uns auf die Füße tritt und über die Bänke klettert, um unserem Nachbar die Abendblätter, den Vert-vert zu verkaufen oder eine Lorgnette auf den Abend zu vermieten.

Und wie lange ist es denn her, dass das Ausrufen der politischen Blätter in den Straßen der Hauptstadt verstummte? Die Crieurs publics stimmten gewöhnlich Sonntags ihr Conzert in den verschiedenen Stadtteilen an, so dass man selbst an diesem Tage, wo die meisten der übrigen Ausrufer rasteten, keinen ruhigen Augenblick hatte; besonders mögen der Polizeipräfekt und die Sergeans de ville oft diesen Tag verwünscht haben. Unter der Regierung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. hatten diese politischen Ausrufer ein eigenes Privilegium und bildeten sonach gleichsam einen eigenen Stand, was auch die Medaille, die sie im Knopfloch trugen, andeutete; sie verkauften die königlichen Edikte in der Stadt. Diese königlich privilegierten Schreier, welche die Regierungsordonnanzen und die superbes discours du roi feil bieten, tragen seit Kurzem auch ein offizielles Zeichen, und die plebejischen, unprivilegierten Ausrufer sind wie unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. verschwunden. Sie scheinen jedoch in der alten Stadt der Ligue, der Fronde und der beiden lezten Revolutionen das Bürgerrecht erworben zu haben, und ihr Ruf ließ sich in allen stürmischen Perioden der französischen Geschichte vernehmen, gleich dem Seevogel, welcher auf Sturm deutet, oder gleich dem Hahne, welcher die Morgenröte verkündigt. Vor dem Gesetze über die Crieurs publics bemerkte man unter den Ausrufern, welche im Dienste der Republikaner standen, die Träger mit dem breiten, dreifarbigen Hut und mit der blauen, von roten Schnüren eingefassten Blouse, welche in ernstem Tone ihr Journal auf folgende Weise ausriefen: Le populaire, journal rédigé dans l’intérét du pouple français, par M. Cabet, député. Unmittelbar hinter den Ausrufern des Populaire gingen die des des Bon sens einher, an ihren roten Blousen kenntlich, welche ihnen von Seiten eines ministeriellen Deputaten das barsche Epithel von „Satansemissären“ zugezogen. Beim Ausgang aus den Passagen, auf den Boulevards und in den volkreichsten Straßen schrie man damals außerdem noch das Supplement zur Tribüne und andere revolutionäre Druckschriften aus. Heute sind nur noch die größeren Abendjournale, wie der Messager und die Gazette de France, aus dem Schiffbruch des politischen Ausschreiens übrig geblieben; die Straßenliteratur der Polizei und des Ministeriums erfreut sich dagegen nach wie vor eines hohen Wohlseins. In der Woche schreien Männer und Weiber fürchterliche Mordgeschichten aus: Voilà, Messieurs et Mesdames, ce qui vient de paraitre: tous les détails de l’horrible attentat, qui a été commis dans la Rue Richelieu sur la personne de ... le voilà pour 1 sou! Jeden Sonntag durchrufen klagende Stimmen meine Straße: le journal d’aujourd’hui, gleichsam um das Publikum über die Beschaffenheit der Ware in Ungewissheit zu lassen: das sind die Träger des Sens commun und des Dimanche, ministerieller Sonntagsblätter. Die Ausrufer Bons sens, mit ihren roten Blousen haben zwar aufgehört, ihre Stimmen zu üben und unsere Ohren zu belästigen, erscheinen aber dafür desto häufiger unseren Augen, wenn sie schweigsam über die Straße gehen und an die Haustüren klopfen, um die geistige Nahrung anzubieten.

Somit hätten wir denn versucht, den Lesern dieser Blätter die Art und Weise des früheren und gegenwärtigen Ausrufens in den Straßen von Paris anzudeuten; wie sich dieselbe morgen gestalten werde, vermag Niemand in der Welt anzugeben; denn dieser seinem Grunde nach unwandelbare Gegenstand ist doch ewig zahllosen Wechselfällen unterworfen. Ich zweifle sehr, ob es mir gelungen, einige Züge aus diesem verworrenen Bilde lebhaft und klar vor dem Auge des Lesers zu fixieren. Ich habe einmal ein kleines Winkeltheater gesehen, wo man in einer Farce die Ausrufer in den italienischen Städten auf der Bühne vorzustellen suchte; aber die Schauspieler richteten unter sich einen solchen Wirrwarr an, dass die einem Jeden zugeteilte Rolle durchaus verloren ging. Mit bessern, Erfolg hat man in der Stummen von Portici die malerischen Gruppen und eine Übersicht des neapolitanischen Jahrmarktes wiedergegeben; aber die ganze Macht der musikalischen und theatralischen Kunst vermochte doch nicht eine richtige Idee von jener reichen disharmonischen Ernte, wie sie in der Wirklichkeit gehalten wird, vor die Seele zu führen. Dramatisch ist das Interesse allerdings, welches sich an die Mannigfaltigkeit des öffentlichen Ausschreiens knüpft; doch möchte es vielleicht auch Manchen wünschenswert scheinen, dass in unseren Tagen einige Gesetzgeber diesen Gegenstand in ernsthafte Erwägung zögen, und der Deputiertenkummer ein Gesetz für die öffentliche Straßenruhe vorlegten, welches allen jenen peripathetischen Verkäufern anbeföhle, ihre Waren durch selbstgewählte Embleme oder Schriftzüge anzukündigen. Wie es indes auch kommen mag, sei es, dass das öffentliche Ausrufen in den Straßen einzelne Beschränkungen erleiden, oder sogar ganz verboten werden sollte, so glaube ich dennoch fest, dass die Pariser diese Sitte ihren spätesten Urenkeln überliefern werden, wie sie dieselbe von ihren ersten Ahnen überkommen haben; an dem Tage, wo die Ausrufer in den Straßen der Hauptstadt verstummen, kann man ein de profundis für die Riesenstadt anstimmen lassen; Paris wird dann in seinem Grabe schlummern, wie Theben und Babylon.

Paris, Alexander III. - Brücke

Paris, Alexander III. - Brücke

Pariser Blumenmarkt

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Pariser Brotverkäuferin

Pariser Brotverkäuferin

Paris, Champs-Elysée und Arc de Triomphe

Paris, Champs-Elysée und Arc de Triomphe

Paris, die Seine

Paris, die Seine

Ein Paar in Paris

Ein Paar in Paris

Eine Straße im alten Paris

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Paris in den Tuilerien

Paris in den Tuilerien

Pariser-Kiosk

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Pariser Luxembourg-Garten

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Paris Notre-Dame

Paris Notre-Dame

Pariser

Pariser

Pariser Politiker

Pariser Politiker

Pariser Sommerfrische

Pariser Sommerfrische

Pariser Straßenjunge

Pariser Straßenjunge