Ein politisches Ballett.

Wenn die Bühne, wie es Shakespeare verlangt, der Spiegel des Jahrhunderts sein soll und der wahre Dichter darin seinen Genius offenbart, dass er wirkliche Menschen zu schildern fähig ist, so ist doch dieses hohe Ziel nur in seltenen Fällen erreicht worden. In der Monarchie der Dichter gibt es leider keine legitime Erbfolge, Jahrhunderte gehen darüber hinweg, ehe ein König erscheint, und die Kärrner ernähren sich dann von den Brosamen der Tafel, von den Gedankenspänen, die von der Keule des Herkules abgefallen sind. Aber selbst diese Gedankenspäne, wertvolle Diamanten, die eine moderne Fassung erhalten, werden uns häufig entzogen; die Hoftheater müssen, gleich der offiziellen Presse, zu viel Rücksichten nehmen, und fürchten die zündende Kraft des Wortes, während die kleineren Theater nicht Mittel genug haben, um imposante, historische Gestalten in einer würdigen Darstellung erscheinen zu lassen. Um so anerkennenswerter ist es, dass die Berliner Hofbühne, unter der langen Regierung des Herrn von Hülsen, endlich den Versuch gemacht hat, an die Mauer der Rücksichten und Vorurteile eine Bresche zu legen, und auf einem Felde, in dem man bisher nur dem Genuss und der flüchtigen Unterhaltung gefrönt hat, ein dreiaktiges, fesselndes Drama uns vorzuführen, ein Drama, dessen durchsichtiger, kunstreicher Schleier nur dazu dient, die Tiefe seiner Gedanken zu erhöhen. Zwar hat man es noch nicht gewagt, dem geflügelten Wort jene Mission anzuvertrauen, man hat dem geflügelten Fuß die historische Rolle übertragen, ein Organ der bewegenden Gedanken der Gegenwart zu sein. Es gibt eine stumme Sprache, die eben so hinreißend wirkt, wie die tönende Stimme; wenn die Augen sprechen, wenn in jeder Bewegung, in jeder Geste der Gedanke versinnlicht wird, so ist dies die natürlichste Sprache, die Sprache des Paradieses, die auf eine Einheit des Menschengeschlechts deutet, und den Vorzug hat, von allen Nationen mit bewaffneten Augen verstanden zu werden. Laokoon, die Venus von Milos, Niobe, der Jupiter vom Kapitol, sie sprechen noch heute und haben doch nie gesprochen.

Unser berühmter Ballettmeister Paul Taglioni, der mit seinem eigenen Fleisch und Blut die Fahne der Intelligenz hoch empor hält, hat durch seine neuste Dichtung das corps de ballet zu jener Höhe erhoben, die die Ästhetik aller Zeiten als Ziel der Kunst hingestellt hat. Paul Taglioni, der mit seinem Arm und Fuß bis nach Mailand reicht, dem wir eine enthusiastische Anerkennung Preußens von Seiten Italiens zu verdanken haben, viel wärmer als die, die wir dem neuen Königreich zu Teil werden ließen, er war der Mann dazu, um nach seinen volkstümlichen Triumphen in Flick und Flock die Errungenschaften der politischen Bildung in bengalischer Flammenschrift vor uns leuchten zu lassen. Von dem kunstfinnigsten Volk der Erde wissen wir es, dass sie die Taten ihrer Heroen durch Tänze versinnlichten, sie tanzten den Achilles, den Alexander, den Miltiades in dem Sinne, wie man in unserm Jahrhundert von einer berühmten Priesterin der Terpsichore gesagt hat, dass sie der getanzte Goethe sei. Welchen Feldmarschall der Gegenwart könnten wir tanzen lassen, wo ist die geflügelte Muse, deren mimisch-plastische Kunst dieselben Empfindungen in uns erregt, wie ein Lied des großen Dichters, ein Lied in dem der Gedanke Dich küsst, während das Wort Dich umarmt? Und selbst wenn jene seltenen Wesen noch existierten, wer weiß, ob die Empfänglichkeit ihrer Verehrer dieselbe wäre? Unsere Zeit ist eine andere geworden, sie strebt danach, die Ideale, die große Männer als das Ziel der Gesittung erkannt haben, zu verwirklichen, sie strebt danach, die Ideen der Humanität aus der geistigen Werkstatt der Dichter und Denker in das Leben einzuführen und sie, so weit es menschlichen Schwächen möglich ist, gesetzlich und unwiderruflich zu begründen. Die legale Begründung der menschlichen Gesellschaft, die Festsetzung allgemeiner Rechte und Pflichten, diese Legitimität: das ist die Propaganda der heutigen Zeit, und wer sie erkannt hat, wird sich nicht wundern, dass heut zu Tage der Kreisrichter eine so einflussreiche Rolle spielt.


Auch in den Kreisen des corps de ballet, die sich sonst vom politischen Leben fern halten und in den Mitgliedern der beiden großen Staatskörper mehr den Menschen mit Diäten achten, als den Träger bestimmter Ideen, die über dem allgemeinen Wahlrecht nie ihr persönliches vergessen, auch in diesen Kreisen muss jetzt die Erkenntnis gereift sein, dass wohl die Kirche, nicht aber das Theater, vom Staate getrennt sein darf, dass ihre Aufgaben und Zwecke gemeinsam sind, und dass, wenn das Ohr zu empfindlich geworden ist für die streitenden Parteien, das Auge mutig den Handschuh aufnehmen muss. Auch das Ballett muss, mit einem Worte, eine moralische Anstalt sein. Und diese moralische Eroberung, die uns jenseits der Alpen Sympathien gewonnen, die einzige, die wir leider in der letzten Zeit gemacht haben, wir finden sie wieder in der neuesten Schöpfung unseres Meisters, in dem phantastischen Ballett Elektra, das mit Recht ein verfassungstreues Ballett genannt werden muss. Schon ist unser Meister auf dringendes Verlangen zum zweiten mal nach Mailand geeilt, um dort wieder dieses inhaltsreiche Tanzpoem an der Skala in Scene zu setzen. Wie edel sind die Italiener! Wir zollten ihnen nur eine kühle geographische Anerkennung, sie erwidern sie warm mit einer choreographischen!

Wir nannten Elektra ein verfassungstreues Ballett. Jeder, der in Turin war und auf der Piazza St. Carlo jenen mächtigen Obelisken gesehen hat, der mit dem Namen Sikkardi geschmückt ist, wird uns verstehen. Sikkardi war das hervorragende Mitglied des Sardinischen Parlaments, das bei der Feststellung der Verfassung die Gleichheit vor dem Gesetz als Fundament der Konstitution so siegreich gegen die Angriffe der klerikalen und reaktionären Partei verteidigte. Wie die alten Ägypter ihre geheimsten Gedanken in phantastischen, hoch aufgetürmten Steinen darstellten, so haben die Sardinier den Grundbegriff ihrer neuen Ära in den Stein eingeschrieben. Seitdem wissen es selbst die Steine, dass die Sardinier vor dem Gesetze gleich find, und sie redeten so laut davon, dass das Echo durch ganz Italien wiederhallte, und eines schönen Morgens alle Italiener vor dem Gesetze gleich wurden. Auch wir Preußen haben in unserer Verfassung jenen weltbewegenden Artikel, und hätten wir diesen an den Obelisken, der unserm Parlamentsgebäude gegenübersteht, mit goldenen Buchstaben eingeschrieben, wer weiß, ob nicht aus dem preußischen ein deutsches Parlament entstanden, und endlich Deutschland aus seiner Erniedrigung und Zerrissenheit erlöst wäre? Aber der Löwe, der den Fuß des Obelisken verunstaltet, ist kein Sikkardi, er speit nur Wasser, womit man dass Feuer löschen, aber nicht anfachen kann, er ist kein Löwenmund, sondern nur der Leumund, der jede begeisterte Erhebung durch kleinliche Bedenken, Winke und Rücksichten zu hemmen sucht. So haben sich denn auch unsere Gerichtshöfe lange darüber gestritten, ob denn auch wirklich alle Preußen nach dem Artikel 4 der Verfassung vor dem Gesetze gleich sind. Die idealen Preußen sind es von der Weichsel bis zur Mosel, darüber ist kein Zweifel, aber die wirklichen, die Preußen in einem bestimmten Verhältnis, z. B. im Verhältnis zum schönen Geschlecht, die heiratsfähigen Preußen? Diese Frage ist bis heute noch nicht gelöst, obgleich wir das Glück haben, schon zwölf Jahre lang eine Verfassung zu besitzen. Wer erinnert sich nicht noch jener Sitzung im Herrenhause, in der in Folge einer Petition von Seiten der Erbberechtigten die Heirat eines hohen Adligen mit einer Bürgerlichen zu einer langen Debatte Veranlassung gab, wobei einige Mitglieder sich nicht scheuten, solche Verbindungen überhaupt als nicht rechtsgültige Ehen zu betrachten. Damals rief der Herrenhäusler, der selige Herr Pernice, dessen Wissenschaft die ständische Gliederung war, die denkw?rdigen Worte von der Tribüne: „Ich habe mich mein ganzes Leben mit Missheiraten beschäftigt!"

Paul Taglioni, der ein feines Ohr hat für die Fragen der Zeit, hat nun in seinem Ballett dem Herrenhaus eine tüchtige Lektion gegeben. Seine talentvolle Tochter tanzt vor dem gefüllten ersten Rang, in dem oft Standesherren Platz nehmen, den Artikel 4 der Verfassung, und die klugen Herren klatschen, ohne zu merken, was ihnen hier geboten wird. Was ist der Inhalt der verfassungstreuen Elektra? Eine Hofdame der Sternenkönigin Meroe verliebt sich in einen einfachen norwegischen Landmann, und trifft die ernstlichsten Anstalten ihn zu heiraten. Sie opfert sogar aus Liebe zu dem freien Bauer — Norwegen hat bekanntlich die freiste demokratische Verfassung — ihren Stern, das Zeichen ihrer hohen Geburt, sie erfährt sogar, dass der norwegische Landmann schon verlobt ist, und dennoch will sie, die sehr hochgeborene Hofdame, die Plejade, von ihrer plebejadischen Inklination nicht ablassen und nur an der Seite ihres Erik ein idyllisches Glück. Die Aufregung ist so groß, dass mehrere Mal der Vorhang fallen muss. Die verlassene Braut jammert, ihr Vater Nelson, gleich jenem Admiral Nelson, der vor der Schlacht von Trafalgar seine Mannschaft an die Pflichten gegen England erinnerte, verlangt, dass jeder Norweger und Lappländer seine Pflicht tue. „Nelson", heißt es im Textbuch, „ruft im höchsten Zorn die Landleute herbei und fordert sie stürmisch auf, die Fremde (die Hofdame) zu entfernen. Noch zögern die Landleute, die Freunde der Nelson'schen Familie, sich Elektras zu bemächtigen, doch endlich machen sie Miene, die Dame zu ergreifen und für immer unschädlich zu machen. Erik ist indes nach dem Hintergrunde der Bühne geeilt, erklimmt in Verzweiflung einen Felsen dicht am Wasser und stürzt sich in die Wellen."

So endet dies inhaltreiche Ballett mit einem tragischen Bruch. Aber wie in jeder Tragödie ist die Versöhnung hinter den Kulissen und im Herzen jedes Zuschauers. Erik (Karl Müller) wird gerufen und zeigt, dass er keinen Bruch bekommen hat, und Elektra (Marie Taglioni) zeigt dem Beifall klatschenden Publikum, dass sie in ihrem Pas de deux keinen Faux pas getan. Der Artikel 4 der Verfassung sagt es deutlich: „Standesvorrechte finden nicht statt." Das Textbuch des Balletts und das Textbuch der Verfassung sind beide in demselben offiziellen Verlage fehlerfrei gedruckt, und beide dienen nur dazu, um sich gegenseitig zu decken. Um die Fülle der liberalen Anschauungen, die dem Tanzpoem zu Grunde liegen, noch stärker hervortreten zu lassen, wird sogar im Nachspiel des dritten Akts, die verlassene Braut, die Jungfer Nelson zu dem Rang einer Hofdame erhoben und Elektra erhält ihren Stern wieder, nachdem die verfassungstreue Sternenkönigin sich überzeugt hat, dass nach Artikel 4 der Sternkarte, die Geburtsprivilegien aufgehoben find, und jede Hofdame ihr Herz und Hand selbst einem einfachen Landmann schenken kann. So scheiden wir vollständig versöhnt und befriedigt, obgleich wir Eriks Tod vor unsern Augen sehen. Aber Erik stirbt nicht, so wenig wie Ferdinand und Louise an dem Gifte sterben, das sie in „Kabale und Liebe" nehmen, es sterben ihre Gegner davon, die Verteidiger der Privilegien, während die Ideen der todesmutigen Märtyrer fortleben. Auch Goethe schöpfte neues Leben ans der Pistole, die Werthers Leben, sein eigenes alter ego, endete. Viktor Hugo sagt: Grands hommes, voulez vous avoir raison demain? Mourez aujourd’hui. Würde man solche erschütternde, verfassungsmäßige Gedanken, die direkt gegen das sogenannte konservative Prinzip gerichtet sind, in Worte fassen; kein Hoftheater würde sich zum Organ dieser Ideen machen. Eine Kulturtragödie, die die Gegenwart malt, wie sie ist, findet in diese offiziellen Hallen keinen Eingang, sie müsste denn von einem Dichter herrühren, dessen Werke doch in aller Händen sind. Wie viel Kämpfe hat der Kaiser Napoleon mit den Poeten, und seine Minister streichen so unbarmherzig, dass er selbst oft genötigt ist, die Wunden zu heilen, die seine allzu gehorsamen Diener geschlagen. Musik und Tanz genießen mehr Freiheit, als das Wort. So gibt es viele Mütter, die ihre Töchter Dinge singen lassen, deren Deklamation sie nie gestatten würden.

Man wird nun fragen, weshalb hat der sinnige Dichter und Ballettmeister den Schauplatz seiner Handlung nicht in vaterländische Gegenden, nicht nach der Uckermark oder Hinterpommern verlegt, warum gerade nach Norwegen? Müsste nicht das Drama im Niederbarnim'schen Kreise auf einem Kartoffelfelde getanzt, eine weit mächtigere Wirkung haben? O nein! Nicht allein, dass der Dekorationsmaler eine weit schwierigere Arbeit gehabt hätte, wenn er etwa den Plötzensee bei Sonnenuntergang als eine romantische Gegend hätte darstellen wollen, nicht allein, dass die malerischen Trachten der nordischen Skalden uns entgangen wären, die wir mit den Kostümen der Weiderichen Obstfrauen vertauschen müssten: was das schlimmste ist, die handelnden Personen wären uns unwahr erschienen, nur als Ausgeburten einer Phantasie, die sich beim Tanzen bis zur völligen Gedankenlosigkeit erhitzt hat. Denn leider ist es wahr, dass die Verfassung und namentlich der Artikel 4 noch nicht so in das Fleisch und Blut unserer heimischen Kossäthen eingedrungen ist, dass etwa ein Ufermärkischer Bauer sein Auge zu einer hochgeborenen Dame erheben sollte. Er klebt noch immer an den Standesvorurteilen, so gut wie die Dame. Die Gesetzgeber haben nur den Samen ausgestreut, da dauert es noch lange, bis man das Brot an den Mund bringen kann. Norwegen dagegen hat schon seit einer Reihe von Jahren die freiste Verfassung, und der König kann durch sein Veto kein Gesetz hindern, das in drei Reichstagen angenommen worden ist. Norwegen hat keinen Adel, den es bereits im Jahre 1821 abgeschafft, es kennt keine Standesprivilegien und der norwegische Bauer Erik bleibt ganz in den Schranken der Verfassung, wenn er sein gleich berechtigtes Auge zu der Hofdame der Sternenkönigin erhebt. Der Dichter hat deshalb die Damen unter die höchsten Herrschaften, die Sterne, versetzt, um zu zeigen, wie stark das Selbstgefühl eines norwegischen Landmannes ist, und welcher Kühnheit er fähig ist. Meroe und die Plejaden die die veralteten Anschauungen repräsentieren, schnauben vor Wut, ja sie schnäuzen sich — weshalb die vielen Sternschnuppen — aber die Hofdame bleibt ihrem Geliebten treu, wie er der Verfassung. Die Sterne haben wahrscheinlich wenig von dem erfahren, wie sich die Erde in den letzten Jahrhunderten verändert, sie bleiben immer in ihren vorgeschriebenen Kreisen und lesen gewiss nur die Zeitung ihrer Kreise: die jetzt selig entschlafene Sternzeitung. Erik muss erst als Märtyrer der Verfassung sterben, da kommen sie zur Besinnung, nehmen sogar die demokratische Hofdame wieder zu Gnaden an, und geben der verlassenen Braut, der Tochter eines armen redlichen Bergmanns, eine der höchsten Hofchargen.

Dieser Sieg des moralischen Imperativs über die Schroffheit des sozialen Lebens ist aber nach beiden Seiten hin festgehalten, so dass der politische Verstand befriedigt wird, und doch das Herz nicht kalt bleibt. Erik muss sterben, weil er seiner verlobten Braut sein Wort gebrochen, weil dieser Eid, den er seiner Braut geleistet, ebenso heilig ist, wie der auf die Verfassung. Vestris sagt, ein großer Tänzer muss tugendhaft sein. Dieser tragische Konflikt zwischen Liebe und Konstitution verlangt ein Opfer, indes Elektra, die ihr Herz, ihrer Neigung folgend, verschenkt hat, ihren Stern wieder erhält und in Amt und Würden wieder eingesetzt wird. Mit seinem psychologischen Takt hat der Dichter die Heldin seines Balletts „Elektra" genannt. Schon aus diesem Namen sprüht uns der zündende Funken des Jahrhunderts entgegen. Elektra ist hier nicht die Tochter des Agamemnon und der Klytemnestra; Paul Taglioni verschmähte es, mit den Füßen des corps de ballet in die Fußtapfen des Sophokles zu treten; seine Elektra ist eine der himmlischen Plejaden, eine der sieben Mädchen im Sternenzelt, die, obgleich sie nur des Abends sichtbar sind, dennoch des besten Rufs sich erfreuen. Die Sterne sind die kunstreichsten Tänzer aller Zeiten. Luzian sagt in seiner Schrift: de satatione „die gemessene Bewegung der Gestirne, ihre Ordnung und Harmonie: das ist der Ursprung des Tanzes." Wie schön war daher der Gedanke, die Tänzerinnen wieder in die hohe Stellung zu versetzen, die sie früher einnahmen, und das Podium des Opernhauses zum leuchtenden Firmament zu erheben! Da ziehen sie an uns vorüber hoch in den Lüften die lieblichen Genossen, die die schlummernde Erde mit ihrem Strahlenkranze schmücken, da ist die Iris, der Wassermann, der große Bär, die Gefährten unserer Leiden und Freuden, so freudvoll und leidvoll, sie hangen und bangen in schwebender Pein! Und das Publikum wendet sein Auge gen Himmel, wo die luftigen Wesen gravitätisch vorüberziehen und klatscht Beifall. Die herrlichen Worte Goethes fallen uns ein: „Wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten, von Sternen und Milchstraßen, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?" Aber Elektra, so ätherisch sie ist, sie lässt doch den Sohn des neunzehnten Jahrhunderts zum Bewusstsein kommen. Elektron heißt der Bernstein, der nicht nur wegen seiner durchsichtigen Klarheit so hoch geschätzt wird, sondern auch wegen der Anziehungskraft, die er auf alle Körper ausübt. Elektra ist nun die durch die weibliche Metamorphose gesteigerte Anziehungskraft, die das ewig Weibliche mit dem Reiz Funken sprühender Blitze vereinigt. Hierdurch gelingt es der bewunderten Plejade, das Publikum drei Akte hindurch in einer elektrischen Spannung zu erhalten, die zuletzt beim Anblick des elektrischen Lichts in den lautesten Interjektionen sich entladet. Dieser elektrische Blitz ist aber, wie der Dampf, die bewegende Kraft des Jahrhunderts. Sie besiegeln beide den Artikel 4 der Verfassung und sagen beide: Standesvorrechte finden nicht statt. Kein Fürst, und wenn er den glänzendsten Marstall besitzt, kann heute schneller reisen als der geringste seiner Untertanen, und jedem ohne Unterschied des Standes steht der schnellste Botschafter, der Telegraph, zur Disposition. Die Naturwissenschaft und die Staatswissenschaft erklären: es gibt keine Privilegien mehr!

Unsere Possendichter nehmen im Interesse der freien Rede oft die Maske des höheren Blödsinns an, wie der ältere Brutus im Interesse der römischen Freiheit. Paul Taglioni wirft die Maske ab und dichtet ein politisches Ballett, eine Apotheose der Verfassung. Und Elektra lehrt uns: es gibt keine Mesalliancen mehr, indem die herrschende Macht keinem bestimmten Stande das Privilegium der Treue zuerkennen darf! Mesalliancen sind verfassungswidrig, es gibt für die strahlende Krone nur noch eine heilige Allianz: das ist die mit dem ganzen Volke.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder