Ein Schmerzensschrei der Kleinen Herren.

Die Zeit des romantischen Rittertums, der Abenteuer, der Turniere, die Zeit in der der persönliche Mut des Einzelnen die höchsten Lorbeeren errang und der tapfere Recke der Held aller Gesänge war, ist noch immer für schwärmerische Seelen ein süßes Ideal geblieben, das alle Eroberungen der Gegenwart nicht vernichten können. Seit der Einrichtung der stehenden Heere, die das Waffenspiel von der Höhe einer freien Kunst zu einem besoldeten Handwerk herabsetzten und aus der Massenwirkung uniformierter Körper eine leicht bewegliche Maschine machten, begegnen wir nur noch dem fahrenden Ritter, der auf Eisenbahnen und Dampfschiffen fährt und die Trümmer und Ruinen zerstörter Burgen bewundert, die ihre zerrissenen steinernen Glieder emporstrecken, als wollten sie wegen der entschwundenen Herrlichkeit den Himmel verklagen. Aber der Himmel weint nur, wie die Physik lehrt, wenn zu viel Dünste aus der Erde emporsteigen, für vereinzelte melancholische Seufzer hat er kein Mitgefühl und lässt häufig die lachende Sonne scheinen, wenn düstere Wolken auf der Stirn des Menschen sich lagern. Und solche Wolken, die nicht bloß die Gegenwart, sondern noch mehr die Zukunft verfinstern, sie rücken uns immer näher, wenn wir bei der Betrachtung mittelalterlicher Burgen den großen Abstand zwischen einer kräftigen Zeit und einem schwächlichen Jahrhundert zu unserer Beschämung wahrnehmen. Ohne ein Anbeter des Faustrechts zu sein, lässt es sich doch nicht leugnen, dass in der Faust eine natürliche Waffe des Menschen liegt; die Faust vor Zorn ballen und dann sie wieder ruhig in die Tasche stecken, mag wohl sehr klug und diplomatisch sein, aber diese Selbstverleugnung entnervt und entmannt die Menschen und macht sie aus lauter Vorsicht zu Sklaven.

Wie schwach ist auch die menschliche Faust im Lauf der Jahrhunderte geworden. Wenn wir Waffensammlungen besichtigen und Rüstkammern durchwandern, da sehen wir noch Ritterschwerter und Hellebarden, für deren Wucht unser Arm nicht mehr ausreicht. Manche kühne Touristen versuchen es mit Unterstützung des Kustoden das verrostete Eisen zu heben und zu tragen, aber uns fallen die Worte des Dichters ein: Und ich hab' es doch getragen, aber fragt mich nur nicht: wie? Unsere Ritter, die jetzt Branntwein brennen, Rübenzucker fabrizieren und die Grundsteuer nicht bezahlen wollen, sie nennen sich mit Recht kleine Herren, aber wie der Herr so der Diener, auch die Diener sind klein geworden und wir haben, wenn es so fortgeht, zuletzt ein Geschlecht von Pygmäen zu erwarten, die ein starker Orkan einst von der Erde wegwehen wird. In der lesenswerten Schrift des Statistikers Professor Helwing „über die Abnahme der Kriegstüchtigkeit der ausgehobenen Mannschaften" finden wir Schrecken erregende Resultate, die mit schlagenden Zahlen den Verfall der physischen Kraft und der Leibesbeschaffenheit konstatieren. Die Gewerbe treibenden Städte und namentlich die Stadt der Intelligenz Berlin zeigt hier, wenn wir noch die günstigste Seite hervorheben, dass der Körper auf Kosten des Geistes bedeutend gelitten. In den Jahren 1858 und 1859 waren von den 14.000 Militärpflichtigen in Berlin 8.050 und 7.988 wegen Körperschwäche und sonstiger Gebrechen zeitig unbrauchbar, und 517 und 524 vollständige Invaliden. Der ganze Regierungsbezirk Potsdam, der doppelt so viel Seelen als Berlin zählt, hat nur wenig Schwächlinge mehr und wir müssen vor den Potsdamern wegen ihrer wohl konservierten Naturwüchsigkeit immer mehr Respekt bekommen. Dabei zeigt sich hier die wunderbare Erscheinung, dass die Berliner im Ganzen das richtige Maaß halten, so dass im Jahre 1859 nur 202 Zwerge waren, während der doppelt so große Potsdamer Bezirk 2639 zu kleine Herren zählte, so dass also die riesigen Eindrücke, die die berühmte Garnison machen sollte, hier gänzlich spurlos vorübergegangen sind und die oft bezweifelte Moralität der Potsdamer Flügelmänner im günstigsten Lichte erscheint. Dagegen hat sich in diesen winzigen Figuren, die im Königreich Sachsen die „Untermäßigen" heißen, oft ein Grad von Kraft gezeigt, so dass sie, wie dies bei Werken von lakonischer Kürze der Fall ist, an innerem Gehalt gewonnen haben, was ihnen an äußerer Ausdehnung mangelt.


Um so trauriger erscheint aber die Beschaffenheit der Berliner Krüppel, die das richtige Maaß halten und dennoch unbrauchbar sind, so dass selbst eine Herabsetzung des Volumens, wie kürzlich in Frankreich, wo man bis auf den fünffüßigen Pentameter herunterging, hier nicht mehr helfen kann. Die Berliner sind daher nur noch eine optische Täuschung, die ihrer Länge nach wohl die kleidsame Uniform tragen können und wie auf dem Theater Soldaten spielen, aber nicht mehr Soldaten sein können. Die Pariser Gamins sind immer noch gute Soldaten und machen in den Zuaven-Regimentern die Schule der Strapazen durch; was soll im Fall eines Krieges aus den Berliner Gamins werden, die nach den Regulativen erzogen, soviel Vaterlandskunde und Bibelsprüche wissen und doch keine Gelegenheit haben, dem Vaterlande mit eignen Armen unter die Arme zu greifen? Ja unsre Konsuln haben seit langen Jahren danach getrachtet „ne quid respublica detrimenti capiat“, ob aber die Menschen dabei an Leib und Seele Schaden nehmen und zuletzt nur ein großes Lazarath bilden, das ist ihnen nie eingefallen. Was könnte aber aus den Berlinern für eine Mustertruppe, für eine echte Garde werden? Die Waffenfähigen haben es im Kriege gegen Dänemark bewiesen, dass selbst im ärgsten Kugelregen weder ihr Muth, noch ihr Humor wankte. Obgleich als Knaben so wenig für ihre körperliche Erziehung geschehen, hat eine kräftige Minorität dieses Missgeschick besiegt und die Jünglinge wurden die besten Soldaten. Weshalb kann nicht die Majorität solche Früchte tragen? Wie lange sind die Leibesübungen verdächtigt worden, und wurden die Turner gemaßregelt, die doch nur den unwiderleglichen vernünftigen Grundsatz haben, dass ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper wohnen kann. Die Epigonen jener ängstlichen Reaktion, die nach dem Aufschwung der Freiheitskriege eintrat, haben ein Geschlecht erzeugt, das mit der Milch der Bürokratie genährt ist und den tödlichen Aktenstaub statt der belebenden reinen Luft einatmen musste. Die alten Griechen hatten ihre idealen Götter aus der Wirklichkeit entnommen; uns würde es schwer werden, die Portraits zu den Gruppen der Schlossbrücke unter den Linden zu finden. An einem gefangenen Olintier studierte der Bildhauer Parrhasius die Götterleiden des Prometheus, der bekanntlich an der Leber litt; heut zu Tage ist in den Sommermonaten die Krankheitsfamilie des Prometheus in den böhmischen Bädern versammelt, aber an diesen Staatshämorrhoidarien können nur noch die Ärzte, aber nicht die plastischen Künstler ihre Studien machen.

Soviel ist für die Veredlung der Tierrassen geschehen; Pferde, Kühe, Schafe gewannen durch die Kreuzung verschiedener Nationen an Schönheit; selbst die Ziegen haben seit der Meyerbeer'schen Oper „Dinorah" ein mehr harmonisches Äußere, und machen graziöse Sprünge, die sofort in Musik gesetzt werden. In welchen Prachtgewändern strahlen jetzt die Hühner, die durch ihre Geschwister aus Kochinchina, aus Peru, aus Tscherkessien neues Lebensblut empfangen und um einige Zoll gewachsen sind. Wie wird das Wild geschont, selbst die Schweine werden nach wissenschaftlichen Prinzipien gehegt und gepflegt, nur für die physische Veredlung der menschlichen Rasse, die doch ein Ebenbild der Gottheit sein soll, geschieht so wenig und sie verkümmert sichtbar je mehr sie in großen Städten zusammengedrängt wird. Je mächtiger und größer der Mensch als Herr der Natur wird, desto schwächer und kleiner wird der einzelne Herr, und je mehr die Kraft der Maschinen dem Menschen das Leben erleichtert, desto mehr macht ihm seine eigene Maschine zu schaffen.

Wir sind weit davon entfernt, gegen jene Errungenschaften, die mit Recht der Stolz der Gegenwart sind, anzukämpfen und einen Krieg gegen Dampfschornsteine zu führen, der von einem Krieg gegen Windmühlen sich nicht unterscheiden würde. Und doch müssen wir auf Mittel sinnen, um das Gleichgewicht zwischen Geist und Körper, das namentlich in den großen Städten gestört ist, wieder herzustellen, wenn nicht die Zentralpunkte der Bildung und Gesittung große Lazarette werden sollen. Hier muss die Schule, die Bildnerin der Menschen, ebenso wirken, wie die Sanitäts- und Baupolizei vermittelnd einschreiten. Die Gymnastik muss mehr und mehr ein Gemeingut des Volks werden und Gelegenheit zu gymnastischen Übungen an allen öffentlichen Orten geboten werden, wie man schon im Kroll'schen Garten die Kraftmesser aufgestellt hat. Die überströmende Kraft des Volkes, die sich häufig in gemeinen und gefährlichen Schlägereien in kunstlosen Püffen verpufft, würde auf diese Art in eine Bahn gelenkt werden, wo das Schöne mit dem Nützlichen sich vereinigt. Wie die alten Griechen und Römer auf allen großen Plätzen gymnastische Künste trieben, wie in den Verkehrshallen, Märkten, in den großartigen Thermen, ohne Unterschied der Altersstufen, körperliche Übungen beliebt waren, so müssten auch bei uns, wo es der Raum gestattet, die Barren und die Reck's sich erheben und sich einer lebhaften Teilnahme erfreuen. Sollte nicht auch bei der neuen Börse, dieser herrlichen Walhalla der Mammonshelden, auf solche Einrichtungen Rücksicht genommen werden? Personen, die in Folge einer misslungenen Spekulation gedrückt einherschleichen und an Silberbarren Mangel leiden, könnten durch diese hölzernen Barren aufgerichtet und ihnen der Kopf wieder auf den rechten Fleck gesetzt werden; auch ist gegen den beklagenswerten verführerischen Schwindel das Hängen in freier Luft das erfolgreichste und einzig radikale Mittel.

Wenn die Privaten mit den Behörden im Einklang sind und gegen die unterirdischen Kellerwohnungen, in denen ein lichtscheues skrophulöses Geschlecht heranwächst, ankämpfen, so kann hierin manches Gute geleistet werden; auch sollten die Väter der Stadt bei der Anlegung neuer Straßen nicht gleich jeden Fleck den Bauunternehmern einräumen, sondern immer einige Plätze reservieren, die mit Rasen belegt, und mit Bäumen bepflanzt werden nach Art der so schönen Londoner Squares, die man die Lungen der Weltstadt genannt hat. Leider aber scheinen unsere Väter der Stadt auf die Gesundheit der Einwohner gar nicht bedacht zu sein; wir haben sogar in neuster Zeit Rückschritte gemacht, und ein Fremder, der jetzt im Sommer die Straßen Berlins durchwandert, wird die Luft bei Weitem schlechter finden, als bei einem früheren Besuche. Durch das Niederreißen vieler Häuser ziehen große Staubwolken über die Stadt und nichts geschieht, um die Luft zu reinigen. Das Besprengen der Straßen, wodurch die Wasserleitung eine allgemeine segensreiche Wirkung haben könnte, geschieht viel zu mangelhaft. Beim Durchbruch von Straßen, wo Reihen von Häusern in Schutt gelegt werden, erhalten die anliegenden Quartiere einen unauslöschlichen grauen Firnis und die Bewohner und Gäste der Residenz sind der Gefahr ausgesetzt, gleich den ersten Menschen in einer Sündflut, so umgekehrt in einer Staubflut unterzugehen. Schon ist am hellen Tage ein Gefangener, ein dünner Schneider, entsprungen und seine Spur rettungslos verloren, weil er vor Staubwolken nicht sichtbar war. Es wird Berlin wie das alte Baktrien werden, von dem Curtius erzählt, dass es oft von Staubwirbeln so verdunkelt war, dass die Reisenden den Weg nicht finden konnten und die ewig leuchtenden Sterne abwarteten, um ihnen auf ihrem Pfade zu leuchten. Wollen wir uns aber von den Abendsternen führen lassen, deren Augen oft hell leuchten, so können wir leicht verführt werden und erst recht nicht den Weg nach Haus finden. Hierzu kommt die gegenwärtige Tracht der Damen, die ganz dazu geschaffen ist, um den spröden Berliner Sand jedem Vorübergehenden in die Augen zu werfen. Wenn wir auch die Frauen für Diamanten, für Kohlenstoff halten, an dem man in der angenehmsten Weise schmelzen kann, so gleichen sie doch darin nicht den Diamanten, dass sie nur in ihrem eigenen Staube geschliffen werden können. Im Gegenteil, die Krinolines lassen eine Staubwolke zurück, die für ihre Trägerinnen ebenso schädlich ist, wie für ihre Verehrer. Das Besprengen von innen auf dem Umweg des Magens, etwa mit kohlensaurem Wasser, hilft nur indirekt gegen diese Stadtplagen und ist für die ärmere Klasse ein Opfer. Wie sehr die Augen und die Lungen darunter leiden, durch das Einatmen dieser Sandteile, wird Niemand leugnen können, und das kluge Berlin, das sich ruhig so viel Sand in die Augen streuen lasst, wird bald wegen dieses grauen Firnis die Stadt der grauen Theorie heißen, in der des Lebens grüner Baum wegen Nahrungsmangel abstirbt. Man betrachte nur die wenigen Bäume innerhalb der Stadt, die bald ihren wenigen Schmuck verloren haben und im Frühling dahinsiechen. Und je mehr der Verkehr steigt, je mehr die Menschen ausgehen, desto mehr gehen die Bäume aus, die wie der Hirsch nach frischem Wasser schreien. Wir werden bald ein treues Bild der glänzenden Stadt Palmyra haben, wo mitten in der baumlosen Wüste die großartigsten Gebäude sich erhoben.

Alle diese Übelstände, die für Körper und Geist gleich unerträglich sind, lassen sich aber beseitigen, wenn nur jeder Einwohner sich zu einem kleinen Beitrag an die Wasserleitungsgesellschaft entschließt. Namentlich sollten die Ladeninhaber den Schaden berechnen, den die Staubwolken ihren ausgestellten Artikeln, die als Lockvögel dienen sollen, verursachen und mit Freuden in die Tasche greifen, um diesen lästigen Feind zu verbannen. Wenn reiche Hausbesitzer so egoistisch sind, dass sie bei einem gemeinnützigen Unternehmen, von dem Alle Nutzen ziehen, ihren Beitrag verweigern unter dem nichtigen Vorwand, dass sie im Sommer auf dem Lande wohnen, wie dies geschehen, so sollte man die Namen dieser Peiniger ihrer Mitbürger veröffentlichen und der allgemeinen Verachtung preisgeben.

Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass der benetzende Wasserstrahl eine Quelle und ein Ausfluss des Bürgersinnes werde und vertrauen dem gesunden Sinne der Mehrzahl, der seine gesunden Sinne konservieren will. Geschieht dies aber nicht, so wird die nächste Aushebung noch traurigere Resultate liefern, und aus Augen-, Lungenkranken und Pygmäen wird das Berliner Kontingent bestehen, das bei einer Besichtigung nach der Größe der — blauen Brillen aufgestellt werden muss. Die Straßen werden mitten im Frieden ambulanten Lazaretten gleichen und die degenerierten Berliner weiter nichts sein, als abschreckende Beispiele von den entsetzlichen Folgen, die die Wasserscheu auch bei Menschen herbeiführt. Kommt dann ein historisches Ereignis. wo sich die Hauptstadt wie ein Mann erheben soll, dann wird der Geist Schillers, auch wenn seine Statue bis dahin noch nicht vollendet ist, die klagenden Worte des Zornes wiederholen:

Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren;
Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder