Der Jokey-Club

Obgleich das sogenannte europäische Konzert sich nur noch in Disharmonien bewegt, und die Lärmtrommel das einzige Instrument ist, das einen reinen Ton von sich gibt, so sind wir doch so militärfromm geworden, dass selbst schreiende Dissonanzen uns keinen Schrei der Entrüstung mehr entlocken, geschweige denn zu einer kräftigen Tat uns aufstacheln können. Seitdem Italien seinen Schmerzensschrei hören ließ, und in wenigen Monaten sich regenerierte, zeigen sich überall klaffende Wunden; die Ärzte stehen am Krankenbett, aber ihre Rezepte sind so teuer geworden, dass die Patienten, aus Angst die Medizin bezahlen zu müssen, noch kränker werden, und zuletzt, wenn auch geheilt, doch am Hunger sterben. Wenn die Mittel fehlen, um die Mittel herbeizuschaffen, so tritt der vollständige Bankrott ein, die Erschöpfung nach allen Seiten, deren Heilung höchstens noch durch eine Wunderkur gelingen kann. Wer mit einem Licht, das 5 Sgr. kostet, einen Silbergroschen eine Stunde lang sucht, und ihn endlich findet, hat doch mehr verloren, als gewonnen, und der ehrliche Finder erhält keine Belohnung. Als der Dichter, der neunzig Jahre lang das deutsche Vaterland vergebens suchte, auch das Lied sang: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, er wollte keine Knechte" da dachte er nicht daran, dass man auch ein Knecht des Eisens werden kann, und dass diese Fesseln noch drückender sind, als goldene. In unserer Zeit sind keine hervorragenden Dichter, Denker, Staatsmänner, die unserer Epoche den Stempel ihres Geistes verleihen; nur auf einem Felde, auf dem der Fabrikation sinnreicher Mordwerkzeuge, finden wir eine so lebhafte Tätigkeit, dass ein Chronist der Zukunft einst unsere Periode das Zeitalter der Artilleristen nennen wird. Überall wird gehämmert, geschmiedet und Probe geschossen, aus Platzpatronen sollen die Schutzpatrone des Völkerglücks hervorgehen, und nicht bis an, sondern bis über die Zähne bewaffnet, steht Europa da. Aber, wenn auch der Halbgott Achill in den Spielen bei der Leichenfeier des Patroklus ein Stück Eisen als Preis aussetzte; so wird doch das Eisen nur dann den Preis davontragen, wenn es den Künsten des Friedens sich hingibt und nicht zum tödlichen Schwert, sondern zum befruchtenden Pfluge sich schmieden lässt. Dieses so einfache und doch so wichtige Werkzeug ist der mächtige Hebel für die Gesittung der Völker geworden, alle gebildeten Völker, Griechen, Römer Ägypter kannten dieses, die harte Erde erweichende Instrument, während die rohen Völker wohl den blendenden Glanz der Waffen, aber nicht den bescheidenen der Pflugschaar zu schätzen wussten. Wie erstaunt waren die Spanier, als sie die Inselgruppen entdeckten, die den Kanarienvögeln ihren Namen verdanken, und dort die naiven Bewohner den Boden mit Ochsenhörnern aufwühlen sahen. Anstatt durch die Ochsenhörner den Pflug ziehen zu lassen, spannten diese kindlichen Seelen das Pferd hinter den Wagen und ahnten nichts von der innigen Verbindung, die der Ochs mit dem Pfluge eingeht. Es ist ein Vorzug der kaukasischen Rasse, dass die Jungfrau Europa durch einen Stier sich entführen ließ, und derselbe Gott Jupiter, der Blitz und Donner, die Kanonen des Himmels, zu seiner Disposition hatte, er sah doch ein, dass die zarte, gebildete Jungfrau leichter durch einen Stier, als durch das schwere Geschütz sich erobern lässt. Auch noch bei der letzten Tierschau, die den Namen Tiergarten wieder zu Ehren brachte, sahen wir europäische Frauen und Jungfrauen reich geschmückte Stiere mit hingebender Teilnahme betrachten, und man konnte oft in ihren leuchtenden Augen den tiefen Eindruck wohl geformter Hörner lesen. Der Gott der Schlachten, der sonst bei fühlenden Herzen leicht Anklang findet, war ganz in den Hintergrund getreten, und die Repräsentanten des alten befestigten Grundbesitzes trugen hier einen weit entschiedeneren Sieg davon, als ihre Kollegen im — Herrenhause, die abgelebten päpstlichen Bullen ein neues Leben einhauchen wollen.

Diese so festlichen Tage, an denen die Eisenbahnen uns weit mehr Gäste zuführten, wie je zu einem Manöver oder einer Parade, sie geben uns den besten Beweis, dass trotz der martialischen Lärmtrommel die Künste des Friedens immer fortschreiten und wir zuletzt so an den kriegerischen Lärm gewöhnt werden, dass wir nur seine Kosten, aber nicht mehr seine Melodien fürchten. Für uns war die Nachricht erhebend, dass Preußen allein 60 beneidenswerte Böcke geliefert hatte, die mit ihren Nachkommen nur darauf warten, geschoren zu werden, und ihre weiche Wolle flößte uns weit mehr Bewunderung ein, als die Schießbaumwolle Entsetzen. Ja wir entdeckten auf dieser idyllischen, durch ein Jagdnetz eingezäunten Arena einer Uniform, die die wahre Uniform des Friedens ist, und die Arbeit der Menschen zu schützen, zu vermitteln, zu erleichtern den Beruf hat. Das waren die Mitglieder des Berliner Jokey-Clubs, die uns hier zum ersten mal in einzelnen tätigen Exemplaren begegneten. Während der Pariser Jokey-Club nur noblen Passionen huldigt, dem Hazardspiel sich hingibt, Pferde lahm reitet, und mit Jagdpfeifen den Tannhäuser auspfeift, ist der Berliner Jokey-Club eine Gesellschaft, die nur die Form der Kopfbedeckung mit den Parisern gemein hat, sonst aber diesem Vereine von Müßiggängern diametral entgegengesetzt ist. Schon die blaue Blouse, dieses Kleid des Volkes, das für robuste Formen so passend ist, zeigt uns, dass diese Männer mit den arbeitenden Klassen sympathisieren, und dass sie nie jenen aristokratischen Marotten sich hingeben, die gewöhnlich aus Standesvorurteilen hervorgehen. Kein Komponist, kein Dichter hat ihre blinde Parteinahme zu fürchten, obgleich die Jagdtasche aus Seehundsfell, die sie nie ablegen, leicht zu der Annahme uns bewegen könnte, dass auch eine demonstrierende Jagdpfeife darin verborgen sei. Aber weit gefehlt; werfen wir einen Blick auf die kleidsame Jokey-Mütze, die mit einem sprechenden Blechschild geziert ist, so sehen wir, dass jene Herren im Dienste einer ewigen, unsterblichen Idee stehen, der die Menschheit ihre Kultur zu verdanken hat. Wir meinen die Idee der Teilung der Arbeit, ohne deren Verwirklichung, die indem in einander Greifen der Kräfte sich kundgibt, das menschliche Geschlecht in lauter unfruchtbare Atome zerfallen würde. Das ist die große Bedeutung der Berliner Jokeys, die sich die ersten Diener der Gesellschaft nennen können, gleich dem großen Monarchen, der sich den ersten Diener des Staats nannte. Was dich bedrückt, was dich belästigt, was dich quält, so lange es sichtbar und mit den Händen zu greifen ist: das gib voller Vertrauen dem Dienstmann mit der Jokey-Mütze, der dich gegen eine Quittung liebreich von allen Drangsalen und Lasten befreit, und sie richtig an Ort und Stelle befördert. Sonst warst du gezwungen, eins jener Fahrzeuge zu nehmen, die dir nicht nur „nach der Uhr" die Zeit rauben, sondern noch für 5 Sgr. dein Innerstes so gewaltsam erschüttern, wie es keinem Drama der Gegenwart mehr möglich ist. Und wie häufig tragen diese Sitzbänke der Droschken noch die deutlichsten Spuren früherer Besitzer, die leicht deiner hellen Sommer-Toilette gefährlich werden können, und einen ganz unbefleckten Ausgang in den seltensten Fällen gestatten! Zu welch einem furchtbaren Verbrechen ließ sich einst ein Schimmel, das Symbol der Unschuld, von dem Rosselenker verleiten, ein Verbrechen das bis heute noch nicht entdeckt ist. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt und die Unglückliche, die im Dunkel der Nacht abgeschlachtet werden sollte, kam noch mit dem Verlust eines skalpierten Koffers davon. Jetzt bist du all dieser Sorgen überhoben, die der eifrige Dienstmann mit einem kühnen Griff dir abnimmt; seine Uniform ist zweckmäßig, sauber, und kann selbst vor der Kritik der reinen Vernunft die Probe bestehen, sein Arm ist stark und groß sein Mut, der vor keiner Schwierigkeit zurückbebt und sein Selbstgefühl so mächtig, dass er in der richtigen Erkenntnis seiner Kräfte sich doch nie „überheben" wird.


So wird das ehrenwerte Mitglied des Berliner Jokey-Club, der Dienstmann, zugleich als Hermes, als leicht beschwingter Götterbote in den Dienststunden fungieren, wie auch, wenn es sein muss, als Atlas, der bei einem Wohnungswechsel einen ganzen Globus auf seine Schultern nimmt, und für jede Beschädigung der Weltteile bis zu zehn Thalern aufkommt. Übernimmt er aber die Rolle des Hermes, der oft zu vertraulichen Missionen benutzt wird, und manchmal, wie ein junger Attaché, die wichtigsten Briefe bei sich führt, in denen es sich um ein zärtliches Attachement handelt, so ist die erste Pflicht des Dienstmannes die höchste Diskretion. In solchen delikaten Fällen muss der Apostel hören, sehen und schweigen, selbst den reizenden Verlockungen eines Trinkgeldes widerstehen, noch weniger von schönen Augen sich blenden lassen, er muss wie ein treuer Soldat, oder ein Ordensritter, ein willenloses Werkzeug seiner Oberen sein, ein corpus exanime, ein seelenloser Körper, wie es Ignaz von Loyola von der Armee des Glaubens verlangte. Während der Pariser Jokey allen seinen Launen sich hingibt und nur dem Genuss der ererbten Güter lebt, muss der Berliner ein Bild der Enthaltsamkeit sein, der selbst einer Kleopatra gegenüber ein Stoiker bleibt, „unbewusst der Freuden, die sie schenket, nie entzückt von ihrer Herrlichkeit!" Wenn das Auge den Himmel offen sieht und das Herz in Seligkeit schwelgt, darf doch der Dienstmann niemals von dem Pfade der Tugend und der strengen Pflichterfüllung abweichen, und muss immer des Spruches eingedenk sein, dass Herrendienst vor Gottesdienst geht; er muss seinen überströmenden Empfindungen Schweigen gebieten, er muss nur die Nummer sein, die auf seinem Blechschild steht, er muss gefühllos, ja fast geschlechtslos sein.

Stellen wir an den dienenden Bruder diese strengen Forderungen des kategorischen Imperativ, so versteht es sich von selbst, dass das Mitglied des Berliner Jokey-Club niemals niedrigen Leidenschaften frönen darf; auch das muss er dem Pariser überlassen, der sonst weiter nichts zu tun hat. Der Berliner Jokey, ein echter Spartaner, der mit allen seinen Kräften dem Staat und der Gesellschaft sich hingibt, darf niemals gefährliche Stimulationen anwenden, um seine Kräfte zu erhöhen, und nie mit berauschenden Getränken seinen Gaumen kitzeln. Während seine Ahnen, die Standespersonen, an jeder Ecke dies taten, soll der geflügelte Dienstmann der Gegenwart mit der Vergangenheit brechen, und muss als Mitglied einer Corporation die Standesehre, den esprit de corps, aufrecht erhalten, der aber leicht durch den Genuss des esprit de vin gefährdet wird. Wie der Prinz von Wales in seinem Wappen die Worte „ich dien'" führt, so muss dieser Wahlspruch immer dem Dienstmann eingedenk bleiben; dies schöne Bewusstsein, der Träger der Gegenwart zu sein, muss ihn stets bei der oft schweren Erfüllung seiner Pflichten zu erneuertem Eifer anspornen, und wie das Reglement ihm befiehlt, müssen „Nüchternheit, Zuverlässigkeit und Höflichkeit" sein unumstößliches Glaubensbekenntnis sein. Nur auf diese Art wird es der ehrenwerten Körperschaft gelingen, das Vertrauen ihrer Mitbürger zu gewinnen, die in der Begründung des Instituts ein lang gehegtes Bedürfnis befriedigt sehen. Auch in entfernteren Stadtteilen müssen die dienenden Brüder ihre Stationen haben, so dass es dem Publikum leicht sein wird, in jedem Augenblick einen Jokey zu finden, der mit Schnelligkeit und Pünktlichkeit den ihm gewordenen Auftrag ausführt. Es heißt in dem Reglement, dass die Dienstmänner auch zur zeitweiligen Übernahme häuslicher Dienstleistungen engagiert werden können, so weit solche mit dem Erfordernis anständiger und sauberer Kleidung verträglich sind, wie „Wassertragen, Packen, Ausklopfen." Wird dieser Paragraph streng innegehalten, so kann auch der ambulante Dienstmann, ein Muster der Reinlichkeit, in wenigen Minuten den Vorübergehenden einen nützlichen Dienst leisten, und wir möchten daher den Vorschlag machen, dass während der Pariser Jokey mit der unnützen Hetzpeitsche sich brüstet, der Berliner immer eine Bürste bei sich trägt, mit der er in unserer staubgeborenen Residenz den unvermeidlichen grauen Firnis der Kleider und Stiefel leicht entfernen und der Toilette einen neuen Nimbus verleihen kann.

Der Abgeordnete Schulze (Berlin), der sich um die arbeitenden Klassen so große Verdienste erworben, sagte in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 3. Mai 1861 bei der Beratung des Gewerbegesetzes: „Ich habe mich schon früher dagegen verwahrt, dass man den Menschen nackt auffasse, ich sehe in demselben einen Träger der sozialen Interessen. In diesen wenigen Worten finden wir den ehrenvollen und wichtigen Beruf der Dienstmannschaft auf das Treffendste charakterisiert. Der Mensch kann nichts Höheres sein, noch werden, als ein Diener der Gesellschaft, ein Träger der sozialen Interessen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist ein jeder Bürger entweder ein Dienstmann, der Arbeit erzeugt und vermittelt, oder ein Schutzmann, der das freie Spiel der Kräfte, die Rechte und die Pflichten der Einzelnen schützt. Nur der Pariser Jokey-Club ist mit seinen gleich gesinnten Anhängern eine Schmarotzerpflanze am Baum der Gesellschaft, während der Berliner auf der Höhe des Jahrhunderts steht, dessen Richtung dahin geht, in jedem Menschen einen Pfeiler des sozialen Gebäudes zu sehen und ihm dadurch eine gleiche Berechtigung zu sichern. So ist der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts teils ein Dienstmann, teils ein Bedienter, und dieser Gedanke der gegenseitigen Notwendigkeit muss dazu beitragen, endlich die Bedientenseelen auszurotten. Der Dienstmann kann daher mit Stolz auf seine soziale Tätigkeit blicken, die Lasten seiner Mitbürger zu erleichtern und zugleich zu den Lasten des Staats beizutragen. Wem dieses Los zugefallen, der wird selbst bei der schwersten Last den Kopf noch oben tragen und niemals verzagen. Schenken wir daher unserm jüngsten Mitbürger das vollste Vertrauen, und kränken wir nie seinen Bürgerstolz dadurch, dass wir ihn mit dem Auftrag zugleich an seine Pflichten erinnern. Stellen wir ihm eine Aufgabe, so verlassen wir uns darauf, dass er sie lösen wird, ohne nach dem ob und wie zu fragen. Der gebildete Dienstmann des neunzehnten Jahrhunderts, dieser aktive Repräsentant der Hebung der arbeitenden Klassen, wird alles, was ihm auferlegt ist, an die richtige Adresse bringen, und immer der Heine'schen Verse eingedenk sind:

Anfangs wollt' ich fast verzagen
Und ich glaubt' ich trüg es nie,
Und ich Hab' es doch getragen
Aber fragt mich nur nicht: Wie?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder
Berlin, Auf dem Rennplatz 1

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Berlin, Auf dem Rennplatz 2

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Berlin, Rennbahn

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Berlin, Renntag in Charlottenburg (2)

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