Das häusliche Leben des Deputierten.

Es ist das Zeichen geordneter, staatlicher Zustände, dass gewisse Erscheinungen mit derselben Regelmäßigkeit wiederkehren, wie tellurische, dass der gesellschaftliche Organismus, gleich dem der Natur, in bestimmten Perioden neue Triebkräfte verlangt, die zu seiner Entwicklung erforderlich sind. So gewiss es ist, dass die Gestirne auf- und niedergehen, so gewiss der Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, so gewiss, dass das Wasser bei 80 Gr. Wärme in den Siedepunkt übergeht und der Magnet unter allen Umständen das Eisen anzieht, so gewiss ist es, oder müsste es sein, dass die Vertreter des Volkes alljährlich in die Hauptstadt berufen werden, um neue Lebenssäfte dem großen Staatskörper zuzuführen. Um die Zeit, wenn die Sonne bereits in den Wendekreis des Steinbocks getreten ist und auf ihrer glorreichen Bahn unaufhaltsam dem Wassermann sich nähert, wenn der Katzenjammer des Sylvester mit allen seinen herzbrechenden Folgen bereits überstanden, die Poesie der Neujahrswünsche überwunden, wenn die vortragenden Größen mit Instrumenten und Manuskripten die weißen Kravatten noch mehr stärken, als ihr Auditorium, dann treffen auch die Deputierten ein, um hier ihre Winterquartiere zu beziehen und mit entschiedener Majorität für das Wohl des Landes zu wirken. Schon hat die Physiognomie der Hauptstadt sich geändert, die Stagnation der letzten Monate ist vorüber und die Fremdenliste schwillt an wie ein Strom, der aus seinen Ufern tritt. Aber dieser Strom ist nicht Gefahr drohend, sondern wohltätig wie der Nil, wenn er das Delta befruchtet. Zahlreiche Klassen des Volks, ganze Familienkreise nehmen den innigsten Anteil, nicht bloß an der Entwicklung des Staates, sondern an den Diäten, die täglich den Deputierten zu Teil werden. Die Verfassung ist bereits eine Erwerbsquelle geworden und in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen. Ein stehender Artikel in den Zeitungen und Anzeigeblättern ist: „für die Herren Abgeordneten, und wer nur ein Plätzchen übrig hat und ein möbliertes Zimmer versorgt wissen will, der beeilt sich eins der notwendigsten menschlichen Bedürfnisse, die Wohnung, gegen monatliche Diäten, dem Landtagsmitglied zu überlassen. Für die Herren Abgeordneten ist die Wahl einer Wohnung eine weit schwierigere Aufgabe als für die einfachen „Herren“, die Mitglieder der ersten Kammer, die, gewöhnlich zur glücklich situierten Minderheit gehörend, und selbst keiner Wahl unterworfen, größere Räume, an denen kein Mangel ist, schon im Voraus in Beschlag nehmen. Wie die chambre des deputés so bedarf auch die chambre garnie einer jährlichen Revision. Schon seit einigen Wochen werden möblierte Zimmer gelüftet, gereinigt und bis auf die Türschlösser in allen Teilen geputzt. Der Tapezier heilt die Furchen und Senkgruben der Kanapés, die Narben der Wände, der Tischler die Beinbrüche der Stühle. Aus den Schubladen der Kommoden wird der zurückgelassene Geruch aufgespeicherter Naturalien sorgfältig entfernt, während die Toilette, in der eine Hand die andre wäscht, eben so blank ist, wie der darüber hängende Spiegel. Gegen die kleinen Blutsauger, die unter dem Schutz der Wuchergesetze ihr Wesen treiben, wird ein unbarmherziger Krieg geführt, in dem kein Pardon gegeben wird und das Bett strahlt endlich nach vielen Mühen in schneeweißer Unschuld. Nach allen diesen Vorbereitungen zeigt die sorgsame Zimmervermieterin ihre chambre garnie „unweit der zweiten Kammer" an; indem sie einen in jeder Beziehung konservativen Deputierten, vorzugsweise ihrer Möbel wegen, wünscht, macht sie die Anzeige nur in dem alten festbegründeten Intelligenzblatt, und siehe da, schon nach einem Tage hält ein Gesetzgeber mit Koffer, Hutschachtel und einer Schreibmappe seinen feierlichen Einzug. Der Deputierte ist als harmloser Junggeselle bei allen Hauswirten sehr beliebt; er hat seine Kinder in der Heimat gelassen und das ist jetzt, wo „ein Kind im Hause" zu sein keine große Annehmlichkeit ist, seine beste Empfehlung. Augenblicklich ohne Deszendenz wird er, wie der Vater der Stadt, nur der Vater von Gesetzen, für die er wenigstens bei seinen Wirtsleuten nicht verantwortlich ist. La recherche de la paternite est interdite, dies ist ein konstitutioneller Satz, der aus dem bedingungslosen Vertrauen der Zimmervermieter sich notwendig ergibt.

Hat nun der Deputierte einen Ort gefunden, wo er sein Haupt niederlegt, so ist die körperliche Nahrung für den Provinzialen, der an einen regelmäßigen Lebenswandel gewöhnt ist, eine der brennendsten Fragen. Wir kommen hier zu dem interessanten Kapitel der politischen Gastronomie, das erst in der Gegenwart eine wichtige Bedeutung erlangt hat. Zwar hat schon Aristoteles gesagt, dass der Mensch ein politisches Tier, und dass daher auch seine tierischen Bedürfnisse innig mit der Politik verwandt sind, aber unmöglich konnte der große Weise die Zeiten der ruhmreichen Staatsmänner ahnen, die selbst einem Aktienbudiker nur dann die Verabreichung von Speisen und Getränken gestatten wollten, wenn er aufrichtig dem Ministerium der rettenden Tat ergeben war. Zu solcher Höhe der politischen Anschauung hat sich erst diese längste, bereits überwundene Vergangenheit erhoben, so dass die ganze Staffel der Kochkunst, vom sogenannten „kleinen Jagor" bis zum großen, eine geistige Grundlage erhielt, an die selbst Rumehr, dieser Mann von feinem Geschmack, niemals gedacht hat. Dem entsprechend ist nun der höhere Restaurant zugleich die Fahne einer politischen Partei, und wenn wir bisher von einer Fraktion Arnim hörten, so wussten wir nie, ob der ehemalige Minister des Jahres 1848 damit gemeint ist, der stets der Bewegung um einen Schritt voraus sein wollte, oder der Gasthofbesitzer Arnim, bei dem die Karte wirklich eine Wahrheit ist. Durch diese eigentümliche Verkettung von Umständen kam es, dass man auf dem Platz, den ein Deputierter bei Tische einnahm, auf seinen Platz im Abgeordnetenhause schließen konnte, so dass der Liebig'sche Satz, dass der Mensch das wird, was er ist, hier eine siegreiche Anerkennung fand. Dieser treffende Satz, den der berühmte Münchener Gelehrte vielleicht mit einem ironischen Blick auf die Bier trinkende sechste Großmacht in so präziser Form gefasst hat, erklärt uns selbst den großen Umschwung, der jetzt in Russland stattgefunden hat. Jahrhunderte lang haben die Russen das Talg in großen Massen verschlungen: seitdem sie im orientalischen Kriege mit zivilisierten Völkern in Berührung gekommen und gleichsam von ihnen „angesteckt" worden sind, brennt das Talg von innen heraus als die Leuchte der Aufklärung und wirft seinen Glanz auf mehr denn 60 Millionen. Wer weiß es auch nicht, dass sich am gedeckten Tisch noch leichter klug sprechen lässt, als am grünen? Aber brauchen wir heut zu Tage noch so viele gedeckte Tische unsern parlamentarischen Gästen anzubieten? Die Partei des Fortschritts hat eine so imposante Majorität im Lande und in den Kammern, dass alle Zersplitterungen in Fraktionen und Fraktiönchen nur dazu beitragen werden, den Gang der Geschäfte unnötig zu erschweren und dem Lande Kosten zu verursachen. Leider besitzt Berlin kein so großartiges Café, wie Hamburg, Wien, Paris, das bescheidenen Ansprüchen genügt und zugleich eine große Kopfzahl fassen und restaurieren kann. In einem solchen Lokale, das noch eine Aufgabe der Zukunft ist, könnte die große Majorität ihre Gedanken in harmloser Weise austauschen, und zugleich durch die gegenseitige Bekanntschaft allen persönlichen Bemerkungen, die für die Wähler kein Interesse haben, die Spitze abbrechen. Diese großartige Tafelrunde würde uns vor manchen langen Reden, Stilübungen und Aufsätzen bewahren, die weiter nichts als polierte Tafelaufsätze sind, die der Eitelkeit des Gastgebers dienen. Auch lässt sich in großer Gesellschaft weit besser verdauen und unverdaute Sentenzen werden sogleich mit dem Getränk heruntergespült. Justinian nannte seine Pandekten „digesta", was zugleich wohl gesammelt und verdaut bedeutet. Nur aus Indigestionen kommen Kongestionen, doch haben wir zu den gegenwärtigen Deputierten das volle Vertrauen, dass der Mangel eines gemeinsamen Lokals „außer dem Hause", sie nicht „im Hause" zersplittern wird, und sehen auch ohne kompakte Speisung einer kompakten Majorität mit Freuden entgegen.


Aber wir haben die häuslichen Verhältnisse des Deputierten noch nicht nach allen Seiten beleuchtet. In den Mußestunden, nach genossener Mahlzeit, finden wir unter den Linden und in den angrenzenden Straßen die Vertreter des Volks, wo sie sich im heitern Flanieren die Füße vertreten. Aber mit diesem Ministerium sind auch die Physiognomien der Deputierten ganz andere geworden. Das ist nicht mehr das stolze Präfekten-Bewusstsein, das die Lippen umspielt und ein „nicht räsonniert" uns entgegendonnert. Ein mehr sanfterer Gesichtsausdruck deutet auf kontemplative Naturen, denen jedes Überstürzen verhasst ist. Da kommt der bescheidene, richterliche Beamte, von dem Alpdruck der Akten und der büreaukratischen Pyramide befreit, und betrachtet stillvergnügt die Kuriositäten der Industrie, die in den Schaufenstern ausgestellt sind. Mit sichtbarem Behagen verweilt er bei jenem Magazin, das einen ganzen Olymp bronzener Götter versammelt hat, und die Venus von Milos, treu nach dem Pariser Original, erinnert ihn an seine klassischen Studien, als noch die alma mater in den ersten Semestern ihm gestattete, den Honig aus allen Blumen zu saugen. Doch in demselben Augenblick trifft unsern juristischen Deputierten der zündende Blick einer Venus, und er, der sonst kraft seines Amtes ohne Ansehen der Person den entscheidenden Spruch fällt, hätte beinahe mit Ansehen der „Person" die Ruhe seines Herzens verloren. Da ermannt er sich schnell, er denkt an die 40.000 Seelen, die er vertritt, und an das Liebste, das er in der Heimat gelassen, sein Weib und sein Kind. Wie schwer war ihm der Abschied geworden, da seine Gattin den jungen Ehemann nicht den Gefahren und Fallstricken der Residenz preisgeben wollte und mit der bloßen „Verfassungstreue" sich nicht begnügen wollte! Die Frauen der Berliner Deputierten genießen in dieser Beziehung eine Ausnahmestellung, die eigentlich mit der Gleichheit vor dem Gesetz nicht erträglich ist. Der Deputierte aus der Provinz wird im Interesse des Staates Monate lang zum Zölibat verurteilt, während der Deputierte aus der Hauptstadt ruhig am häuslichen Herde bleibt und mit seiner Gattin die wichtigsten Fragen besprechen kann. Nun darf aber nur aus den Gesichtspunkten beider Geschlechter die Wahrheit hervorgehen, wie auch Venus und Mars die Harmonia erzeugten, während der einzelne, verlassene Mann nur die Welt einseitig mit kaltem Kopfe betrachtet und das warme Herz in der Provinz gelassen hat. Dadurch, dass die Frauen weder das aktive, noch das passive Wahlrecht haben und außerdem noch Meilen weit von dem legislativen Körper getrennt sind, ist ihnen jede direkte Wirkung auf die Gesetzgebung genommen, und es ist ein immer sich erneuernder Irrtum, dass im konstitutionellen Staat die Kopfzahl vertreten sei, man müsste denn das gesamte schöne Geschlecht um einen Kopf kürzer machen.

Wie ist nun eine Rettung aus diesem Dilemma zu finden, wenn man nicht die Fundamente der Konstitution umstürzen will? Allein dadurch, dass sämtliche Berlinerinnen, die Frauen der hauptstädtischen Vertreter an der Spitze, sich wie ein Mann erheben und die verletzte Ehre des Geschlechts zu retten suchen. Was ihnen die Verfassung nicht verliehen hat, das müssen sie durch List wieder zu gewinnen suchen, und Gastfreundschaft den Deputierten gegenüber muss die erste Regel der Familien sein. Hätte man es gewagt die Frauen aus den religiösen Vereinen der Dissidenten zu verbannen, wenn jeder Deputierte nur ein Mann, der Mann seiner gegenwärtigen Frau oder nur der Verehrer einer Berlinerin gewesen wäre? Das ideale Element, das, wie Goethe sagt, in den Herzenskammern edler Frauen schlummert und den Mann veredelt, würde dann auch in der Abgeordnetenkammer pulsieren und man würde den Herzschlag Preußens hören, selbst wenn nicht gesprochen wird. Die verlassenen Frauen in der Provinz, die das unerbittliche parlamentarische Schicksal von ihren Männern getrennt hat, würden dann nicht mehr so viel Sehnsuchtstränen vergießen. Was der Strohwitwe an Familienfreuden entzogen wird, würde sie an Rechten wieder gewinnen und aus dem Stroh- ein Lorbeerkranz wachsen, den ihr tapferer Gatte in der Hauptstadt für sie erkämpfte. Und jetzt, wo so viel Fragen vorliegen, die beide Geschlechter so nahe berühren, Religionsübung, Erziehung, Ehescheidung und Zivilehe, sollte da nicht dem „mulier taceat" ein Ende gemacht werden?

Wir könnten unser Gemälde noch weiter ausführen, wäre nicht unser Deputierter, in dessen Fußtapfen wir traten, bereits ermüdet, da der Lärm der Hauptstadt mit der bisher gewohnten idyllischen Ruhe zu sehr kontrastiert. Der Deputierte schlägt den Weg nach seiner Wohnung ein, unterwegs genießt er noch zur Stärkung ein Glas Wein in einem glänzend erleuchteten Lokale, aber schon bei den ersten Zügen denkt er an das Wort des Dichters: „Der Götter ungemischte Freude ward keinem Sterblichen zu Teil." Aber trotz dieser Täuschung kehrt die Bitterkeit nur in seinen Magen, nicht in sein Herz ein. Froh, dass der Nachtwächter noch nicht sein Haus verschlossen, tritt er in sein behagliches Zimmer. Bald umfängt ihn ein süßer Schlaf und er träumt von seiner Gattin, von der Majorität seiner Wahlmänner, von seinen parlamentarischen Triumphen und vom Justizminister. Dieser letzte Traum, der nicht so süß war, und der anbrechende Morgen treiben ihn aus seinem Bette. Er prüft bei einer Tasse Kaffee die Vorlagen und ist pünktlich um 10 Uhr im Abgeordneten-Hause auf seinem Platze zur Linken der Minister, da er nicht eine Null sein wollte, die rechts gesetzt werden muss, wenn sie mitzählen soll.

Mögen alle Deputierten diesem hier geschilderten Muster gleichen und ihr Privatleben so einrichten, dass das öffentliche nicht darunter leidet! Immer früh auf dem Posten und niemals bei Abstimmungen durch Abwesenheit glänzen, das stärkt das Vertrauen der Wähler, diese schönste Krone des Abgeordneten. Adolph von Nassau verlor das Vertrauen seiner Wähler, der Kurfürsten, und die Kaiserkrone auch aus dem Grunde, weil er erst nach 9 Uhr Morgens aufstand. Die Morgenstunde hat Gold im Munde!

Ein so gewissenhafter Deputierter kann dann auf die ganze Periode seiner legislatorischen Wirksamkeit mit Stolz zurückblicken. Ja beneidenswert sind seine letzten Stunden, selbst wenn er keines natürlichen Todes gestorben und das Opfer einer gewaltsamen Auflösung wurde. Da fährt er dahin sinnend und nachdenklich in einer von der Morgenluft angehauchten Droschke, die außer seinem Koffer noch ein Konvolut stenographischer Berichte auf schwellendem Polster in sich aufgenommen. Es ist ein trüber finsterer Morgen. Der Nebel lag auf der Stadt und umhüllte mit seinem dichten Dunstschleier die breiten Straßen und Plätze. Ein kalter Wind zerriss unbarmherzig und stoßweise dies feuchte Gewebe, machte mühsam eine Bresche in die Wolken und verhalf der frostigen Maisonne zu ihrem Recht, schlaftrunkene Maikäfer zu bescheinen. Auch die Menschen waren noch schlaftrunken und nur sehr wenige und sorgenvolle Exemplare bewegten sich selbstständig auf dem schlüpfrigen Boden der Trottoirs. Und doch waren Droschken und Gasthoffuhrwerke tätiger denn je, und brachten große und kleine Herren mit großen und kleinen Koffern und Kisten nach den entgegengesetzten Richtungen, nach den äußersten Grenzen, wo die Eisenbahnhöfe den letzten Wachposten der Zivilisation bilden. Oft fuhren die Droschken hart an einander vorüber, Freunde erkannten sich, tauschten im Fluge Grüße und Glückwünsche aus, die letzten Grüße „bis zur nächsten Session“, nachdem sie sechs Monate lang sich täglich Stundenlang ins Antlitz geschaut und oft gelächelt hatten, wie die römischen Auguren. Draußen aber auf den Bahnhöfen des Westends, da entfaltete sich das regste Leben. Gutsbesitzer, deren Wangen in Folge der parlamentarischen Tätigkeit etwas ausgebleicht waren, während die Nasenspitzen hell in der Morgensonne funkelten, Pfarrer in langen fadenscheinigen Röcken, die um ein Jahrhundert zurück den modischen Firnis verachteten, alte Militärs, kurze Pfeifen im Munde, bis auf die Pedale von Gesundheit strotzend, die militärische Gradheit mehr im Gesicht, als in den Beinen, Fabrikbesitzer, die mit den duftendsten Zigarren die Atmosphäre erfüllten, umgürtet mit allen möglichen Reise-Requisiten und dem ganzen Stolz der Geldaristokratie, der sich selbst in dem modern gekleideten Diener mit Tressenhut aussprach. Zuletzt kamen noch einige Autonomen im vollen Galopp dahergefahren; der alte und befestigte Grundsitz zeigte sich gleich in dem reich galonnierten Jäger, dessen mächtigen Federbusch der Wind bewegte. Es fehlten nur noch wenige Minuten, die demokratische Maschine fing schon an vor Ungeduld zu schnauben — denn vor der Lokomotive sind alle Preußen gleich — da entwickelten sich noch so herzzerbrechende Abschiedsszenen, dass wir fast für das Bestehen der Verfassung fürchteten; denn es hatte den Anschein, als sollten die Bleibenden und die Fahrenden nie mehr in diesem Leben zusammen kommen. Ein Wirt, der ein böses Gewissen zu haben schien, schüttelte seinem Chambregarnisten, einem Seelenhirten, so derb die Hand, dass wenn wir nicht an die Unverletzlichkeit der Deputierten bis zur jüngsten Stunde glaubten, wir eher einen absichtlichen Knochenbruch, als eine zärtliche Freundschaftsbezeugung vermutet haben würden. In den billigsten Wohnungen schien noch die meiste Herzlichkeit vorhanden zu sein, wie denn ganze Familien der kleinen Aftermieter, die wieder in der dritten Hand vermieten, wie zu einer Landpartie mit hinausgewandert waren. Was an Diäten gespart war, das war an Liebe gewonnen. Unser „Deportierte," so nennt ihn die Wirtin, die seit ihrer politischen Infektion die Fremdwörter besonders deutlich aussprechen will, ist hier wie ein Kind des Hauses und gehört mit zur Familie. Deshalb floss auch auf dem Perron des Bahnhofs, auf dieser mit Tränen reich gedüngten Statte, eine so salzige Flut, dass selbst hartherzige Verteidiger einer erhöhten Salzsteuer darüber erweicht wurden. Denn manchen Leuten gehen die Augen nicht eher auf, als bis sie ihnen übergehen. In dem dichten Gedränge von Menschen, Paketen und Reisetaschen entdeckten wir auch zwei Amazonen-Hüte, die einer Fraktion anzugehören schienen. Um die schönen Trägerinnen hatten sich die Parteigenossen versammelt und spendeten ihnen Trost; denn obgleich die Frauen kein politisches Wahlrecht besitzen und öffentlich keinen Deputierten wählen dürfen, so geschieht es doch heimlich desto häufiger. Sagt doch schon Tassos Eleonore: „Ein edler Mensch zieht edle Menschen an." Und wenn immer unter Strohdächern die süßesten Idyllen spielen, warum nicht unter dem Strohdach eines Amazonen-Hutes? Und sind nicht die Frauen die besten, von denen man am Wenigsten spricht? Aus diesem herzbrechenden, fraktionsmäßigen Abschied müssen wir schließen, dass gleiche politische Ansichten auch auf das Privatleben influieren und eine ganze Fraktion auch privatim unter einen Hut gebracht werden kann, dessen Form übrigens dafür wie geschaffen ist. Warum übrigens der Abschied diesmal so schmerzlich war und in allen Kreisen der Restaurants und Chambregarnisten so tief gefühlt wurde, das haben die grausamen Deputierten selbst zu verantworten. Nach dem neuen Gesetz werden siewahrscheinlich nicht mehr in diesem Jahr, sondern erst im nächsten zusammenberufen werden, und manche leibliche Restauratoren werden ihre Diätarien schmerzlich vermissen. Dies drakonische Gesetz schien sogar der Amazonen-Hut zu kennen und er seufzte darüber, wie über jenes andre, dass das Kreditgeben an Minderjährige nicht mehr erlaubt ist.

Doch jetzt wurden unsere Amazonen-Hüte und sämtliche hier Ansässige von den Wagen durch die Kondukteure entfernt. Man läutete zum dritten Mal und die Deputierten und die — Redefreiheit flogen wie auf Sturmesflügeln davon.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder