Das Ministerium der kalten Tage. 1862

Als noch das ständische Prinzip in Europa blühte und die Teilung der Gewalten mit großer Schärfe aufrecht erhalten wurde, waren die Verfassungsformen nicht in unzählige Paragraphen gespalten, sondern sehr kurz und bündig, und deshalb für jedermann leicht verständlich. So huldigten die Stände von Arragonien und Katalonien ihren Fürsten mit den einfachen Worten: „Du bist nur König, wenn Du diese Gesetze hältst; wo nicht, nicht." Diese lakonische Formel, dieses „aut Caesar, aut nihil " würde heute bei einer feierlichen Thronbesteigung fast wie eine Majestätsbeleidigung klingen und den Sprecher in die Hände des Staats-Anwalts liefern, und doch wird sie in einem Kreise noch mit einer Strenge aufrecht erhalten, in einem Kreise, dem wir unsere Hingebung und Verehrung nicht versagen können. Befolgt da der Monarch nicht die alt hergebrachten Gesetze, will er absolut nach eigner Willkür regieren, so verliert er nicht nur sein göttliches Prädikat, selbst seine zahllosen Untertanen, die sonst gern seinen Ruhm verkünden und ihn auf allen Ausflügen begleiten, ziehen sich schmollend von ihm zurück; sogar die haute volée kommt nicht nach der fernen Hauptstadt, sondern bleibt ruhig auf ihren Landsitzen, und wartet so lange, bis in Folge einer natürlichen Revolution der Himmel sich aufgeklärt hat und den Menschen ihr Recht geworden ist. Dieser Monarch ist aber kein anderer, als der König der Jahreszeiten, und speziell sein Vasall, der König Lenz, mit der uralten Anciennität vom 21. März, dessen Diadem die Frühlingssonne, dessen Hermelin der grüne Wald, dessen Reichsapfel die vereinigte Blüte sämtlicher Äpfel ist. Und dieser mächtige König, wie arm und vereinsamt steht er da, wenn er willkürlich von den Gesetzen der Natur sich emanzipieren, wenn er die winterliche Vergangenheit wieder heraufbeschwören, wenn er der Stimme der Zeit, wenn er dem Kalender nicht folgen will. Die haute volée der Vögel, die sonst regelmäßig zur Huldigung eintrifft und die größten Reisen nicht scheut, wo nur eine magere Diät, aber keine fetten Diäten sie begleiten, sie bleibt ruhig in der traulichen Heimat, die Nachtigallen erscheinen nicht, selbst der Storch verschmäht es, die unglückliche Bevölkerung zu vermehren, und die Schwalben lassen aus Ärger das Ungeziefer und die kriechenden Würmer massenweise ihre Verheerungen anrichten. Dieser passive Widerstand ergreift dann alle Kreise. Naht der April heran, der seinen Namen vom Öffnen der Blüten hat, will der Fürst der Erde dann noch keine Frühlingsfreuden gestatten, so wird kein grünes Blatt sein Auge erfreuen, alle Blätter sind in eng geschlossener Opposition wie die Sinnpflanze, die bei jeder rauen Berührung ihre Blätter schließt. Die nackten Bäume seufzen, vom rauen Winde gepeitscht, die Erde vergeht vor Scham, da sie ohne Schnee- und Pflanzendecke den Blicken der Vorübergehenden ausgesetzt ist, die Ströme können ihre lang verhaltene Wut nicht verbergen und stürmen mit riesigen Eisblöcken gegen die Ufer an. Da endlich melden die aufmerksamen Beobachter der meteorologischen Stationen, dass ein Gewitter im Anzuge ist: mit Hilfe des Aufruhrs der Elemente erzwingt sich Zephyr
hör, ihm wird die Bildung eines neuen Ministeriums anheimgegeben, und Boreas entflieht, von den Verwünschungen der großen Majorität begleitet. So stürzt in einer Nacht das ganze System; am nächsten Morgen sind dieselben Orte kaum wieder zu erkennen, die nackten Bäume schlagen vor Freuden aus, die Vögel singen in den Zweigen, die Gräser schießen jubelnd in die Höhe, der Storch geht stolz, wie ein Grande von Spanien, durch die grüne Wiese. Überall hört man die lauten Ausbrüche des Entzückens; selbst diejenigen, die noch keine Sprache haben, summen in unartikulierten Tönen, und das süße Regen einer warmen Empfindung zieht sich durch die Brust jeglicher Kreatur. Die Erde ist gerettet und ihr Herrscher beugt sich vor dem Gesetz der Jahreszeiten, das mit unauslöschlichen Sonnenstrahlen geschrieben ist.

Wir haben hier das Ministerium des Frühlings, das Ministerium der neuen Jahreszeit geschildert, wenn es so glücklich ist, einen entscheidenden Sieg zu gewinnen. Aber das ist nicht immer der Fall und selbst der große Friedrich, ein Mann der entschiedensten Fortschrittspartei, musste es empfinden, dass die winterlichen Gewalten sich nicht so schnell entfernen lassen, und noch immer mächtige Anhänger zählen. Sein treuer Gärtner warnte ihn, die zarten Keime recht zu schonen, und die wohl gepflegten Pflanzen, die aus einem milderen Klima stammten, so lange in dem erwärmten Hause zu lassen, bis die rauen Stürme vollständig entfernt und auf den Aussterbe-Etat gesetzt seien. Aber der große König glaubte, dass seinem entschiedenen Wollen und seiner Macht Niemand widerstehen dürfe, und an einem schönen Tage erblickte die staunende Welt auf dem sanft emporsteigenden Hügel von Sanssouci das schöne Land: „wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn." Und der König war voller Freude, aber der treue Gärtner zitterte. Und richtig, wenige Tage waren vergangen, da zogen in einer dunklen Nacht drei gestrenge Herren auf den grünen Berg, knickten die jungen Keime, und um Früchte und Blüten war es geschehen. Und das geschah dem großen Friedrich, den wir noch immer den „Einzigen" nennen, weil kein zweiter ihn erreicht hat. Und kein gelehrter Naturkundiger hat es bis jetzt erforscht, woher die drei strengen Herren stammen, die selbst dem Philosophen von Sanssouci einen solchen Streich spielten. Stammen sie vom Nordpol, oder vom Südpol, kommen sie zu Lande oder zu Wasser? Niemand weiß es; aber sie finden sich regelmäßig ein, überall, wo es Frühling geworden, und vernichten in wenigen Stunden die lieblichsten Blumen, die vertrauensvoll und dankbar ihre Augen gen Himmel aufschlugen. Das sind die bösen Dämonen, die den Blumen und den Menschen kein harmloses Dasein gönnen, und noch im wunderschönen Monat Mai, wo wir so gern die freie Luft einatmen, uns noch den winterlichen Mantel aufzwingen. So werden wir ängstliche Seelen, die die offene, ungezwungene Hingebung gänzlich verlieren und immer den mephistophelischen Dämon sehen, der auf einen unbewachten Augenblick wartet, um uns zu überlisten und in Fesseln zu schlagen. Und diese Angst verzärtelt uns wieder und bringt uns neue Fesseln. Ach wie gefährlich, wie drückend sind diese Fesseln! die Ärzte wissen genug davon zu erzählen. Selbst vom Blumenduft soll man sich nicht einschläfern lassen, denn der Duft ist oft ein Schlaftrunk, ein Schlaftrunk für die Ewigkeit, aus der kein Erwachen mehr möglich. Und das ist noch der süßeste, der leichteste Tod. Was aber das schlimmste ist, das sind die Nadelstiche, mit denen die gestrengen Herrn die Frühlingsfreunde peinigen. Eine Erkältung kommt nach der andern, dann folgt ein Katarrh, eine bösartige Grippe, zuletzt Husten und eine solche Heiserkeit, dass wir, die wir so gern im Frühjahr unsern Gefühlen Luft machen, ganz die Stimme verlieren und uns ein Pflaster auf den Mund gelegt wird. Nun sind wir wieder wie mitten im Winter, wo wir uns den Mund zubinden ließen, um nicht die rauen Lüfte einzuatmen; jetzt steht die Sonne hoch und wir verbinden den Mund, um ihn nicht zu verbrennen. So schleichen wir denn, wie verkrüppelte Invaliden, krank und elend einher, bis uns die Gewohnheit die Fesseln wieder erträglich macht und wir zuletzt selbst unsere Ketten zu lieben anfangen. Und die Schwindsucht heuchelt dann noch ein Rot auf unsere Wangen!


So häufig aber auch diese pathologische Katastrophe eintritt, und diese Frühlingsleiden im gesamten Erdenleben uns begegnen, ebenso häufig wird ihr erster Ursprung vergessen und deshalb die Heilung so erschwert. Der Gärtner von Sanssouci sollte nur unser Vorbild sein, der offen dem mächtigen Herrn seine Meinung sagte, und sich von den einschmeichelnden Lüften nicht täuschen ließ. Oder der Beherrscher der Erde, der König der Jahreszeiten, er sollte sich, gleich dem König Darms, immer die Worte zurufen lasten: Herr, gedenke der gestrengen Herren! Denn ist es nicht wunderbar, dass bei der Teilung der Gewalten unter vier Jahreszeiten doch der Winter eine solche Macht hat, dass er drei Herren drei Tage lang mitten in des Frühlings Parlament sendet, das aus dem allgemeinen Stimmrecht der Vögel hervorgegangen, während doch der Frühling trotz der Gleichberechtigung niemals mit seinen Deputierten im Winter auftreten darf? Und was noch wunderbarer, dass diese Herren eine solche Macht besitzen, die schönsten Schöpfungen des Frühlings mit einem Hauch zu vernichten? Wie können wir nun dies winterliche Übergewicht paralysieren? Allein dadurch, dass wir vom Winter uns nicht mehr aufs Eis führen lassen. Haben wir im harten Winter unsre Kräfte so gestählt, dass er uns nichts anhaben kann, so werden wir auch drei winterliche Tage im Frühling siegreich überwinden können. Das Schlimme nur ist, dass der Winter durch seine aristokratischen Reize für manche Menschen so viel Anziehendes hat, dass sie gegen die Gefahren des Nachwinters sich nicht schützen. Der Winter ist aristokratisch und sondert die Menschen in ausgewählte Kreise, während der Sommer demokratisch ist, da für die freie Luft noch keine Steuer erhoben werden darf. Einflussreiche und reiche Leute hassen die Zeit des Hochsommers und nennen sie verächtlich die der sauren Gurken, während sie den Winter als den Schöpfer der geselligen Freuden und des Karnevals preisen. Es leben daher eine Menge Menschen vom Winter und seinen aristokratischen Genüssen, ohne doch zu bedenken, dass das, was sie von der einen Hand empfangen, ihnen die drei gestrengen Herrn doppelt und dreifach wieder wegnehmen können. So lange es daher noch Verehrer der rauen Jahreszeit und der langen Nächte gibt und solche, die sich ihrem Dienste weihen, so lange wird der Kampf ein schwerer sein und die kalten Tage werden noch immer die Früchte einer milderen Zone erstarren und verderben lassen. Im Jahre 1832 hörte plötzlich die Zensur in Kurhessen auf, weil sich kein Mensch fand, der das Amt eines geistigen Scharfrichters übernehmen wollte. Die kalten Tage fanden somit keine Werkzeuge mehr, durch die sie ihre Wirksamkeit entfalten konnten. So hatte nach einer Richtung der Frühling in Kurhessen gesiegt. Und wenn wir auch keinen Vergleich ziehen wollen mit den schweren Prüfungen, die jenes Land erduldet, so sehen wir doch, wie schwer es bei uns hält, dem Ministerium der neuen Ära, das so viele hoffnungsvolle Keime entwickelte, das „das Vertrauen des wohldenkenden Teils der Nation besessen“, ein Ministerium der kalten Tage folgen zu lassen. Nach drei Wochen war noch kein Handelsminister vorhanden, und alle Kandidaten schienen die unangenehme Temperatur zu fürchten, die sie im Hause der Volksvertreter verbreiten würden. Ist das nicht schon ein Sieg über die gestrengen Herren, den die öffentliche Meinung davon getragen? Und im Staate der Intelligenz sind es die wissenschaftlichen Korporationen, voran die Universität Berlin, die es offen erklären, dass sie als treue Gärtner und Pfleger der Jugend den vorübergehenden Stürmen sich nicht beugen, sondern, fest vertrauend auf die Macht der freien Überzeugung, „über den Wechsel und die gegenwärtige Bewegung hinaus“, das Panier der Unabhängigkeit hoch halten werden. Ein großer Staatsmann sprach das große Wort: Der Wille freier Menschen ist der unerschütterliche Pfeiler des Throns. Was hilft das zwangsweise Stimmen, dies Bekehren und Konvertiten durch Drohungen und Reskripte? Sie bringen oft gerade das Gegenteil hervor von dem, was man erwartet hatte. Schon Cicero sagt in seiner Schrift über den Staat, diese Konvertierungen betreffend: omnia nimia in contraria convertuntur, „das, was zu viel ist, schlägt in das Gegenteil um." Die Geschichte geht oft eigene Wege, um zu ihrem Ziele der geistigen und sittlichen Vervollkommnung zu gelangen, und die Freiheitslinie ist gebogen wie die Schönheitslinie. Das Samenkorn der christlichen Entwicklung und Gesittung entblühte aus düstern Katakomben, und das Dörfchen Bethlehem stürzte das römische Weltreich. Wie klein erscheinen da die gestrengen Herrn, die dem warmen Pulsschlag der Geschichte ein Halt zurufen wollen! Betrachten wir von dieser Höhe aus das Ministerium der kalten Tage, so werden wir in dieser Krisis die größte Ruhe behaupten und den alten Römern der Republik gleichen, die, nach einer Niederlage, der Besonnenheit, der „menti“, einen Tempel errichteten, um sich kein Dementi zu geben und nicht von leidenschaftlicher Erbitterung sich hinreißen zu lassen. Ein Übel, das so klar zu Tage liegt, ist der Heilung nahe, und die erkältenden Nebel werden der Sonne weichen. Fürchten wir daher nichts, schon ist das Thermometer im Steigen, eine Brieftaube bringt die besten Nachrichten. Es muss doch Frühling werden!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder