Berliner Schattenseiten

Berliner Schattenseiten.

Wenn Frau v. Staël in ihrem Buche über Deutschland behauptet, dass hauptsächlich drei Faktoren es seien, welche die Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit der germanischen Rasse hervorbringen, nämlich das Bier, der Tabak und der Ofen, so ahnte sie wohl nicht, dass hundert Jahre später grade diese drei Artikel eine solche Verbreitung bei unsern Nachbarn jenseits des Rheins finden würden, dass sie fast zu den unentbehrlichen Lebensbedürfnissen gehören. Während das Bier und der Tabak seit der Zeit der Eisenbahnen mit unwiderstehlicher Schnelligkeit von Straßburg bis Marseille vordrangen und Baiern in den Augen der Franzosen eine Großmacht wurde, deren Gewicht mit dem Flaschenzug zu messen ist, hat der Ofen nur langsam, aber desto sicherer Propaganda gemacht, und ein kalter Winter hat ihm so warme Anhänger in Paris verschafft, dass selbst seine nicht zierliche Gestalt in Eisen oder Ton über die malerischen Reize des Kamins den Sieg davontrug. Es scheint aber, als ob die Deutschen, nachdem sie so viel Dunst exportiert haben, wie ihn Bier, Tabak und Ofenhitze erzeugen, wirklich durch diesen Verlust an Stickstoff leichter geworden sind und jetzt mit den Franzosen, die den größten Windbeutel, den Luftballon, erfunden haben, in graziöser Beweglichkeit und leichter Auffassung wetteifern können. Werfen wir nur einen Blick in unsere Zeitungen und Anzeigenblätter, so sehen wir sogleich, dass der Glaube jetzt so federleicht geworden ist, dass er im Galopp durchgeht und die Vernunft, die sonst mit ihm unterhandelte, ihn nicht mehr zurückhalten kann. Die Leichtgläubigkeit ist aber der Gegensatz der Zähigkeit und ihre Propheten sind Scharlatane, die jeden Tag neue Wunder entdecken und durch Atteste sie bescheinigen lassen. Friedrich der Große gab im Jahre 1783 der Berliner Akademie die Preis-Aufgabe: est il permis de tromper le peuple? Aber heut zu Tage fragt kein Mensch mehr um die Erlaubnis an, und das mundus vult decipi bringt den sogenannten Intelligenzblättern und den Verfertigern der Geheimmittel den größten Gewinn ein. Es hilft nichts, wenn amtlich nachgewiesen wird, dass etwa die Revalenta arabica aus Linsen- und Erbsenmehl bestehe, zwei Nahrungsstoffe, die gewiss dem Stoffwechsel sehr wohltätig sind, wenn sie einmal in der Woche am Donnerstag genossen werden; die Chemie kann nur die sichtbare Wirkung dieser Substanzen nachweisen, aber ist sie fähig, die unsichtbare Wirkung dieser geriebenen Faktoren darzutun? Der Glaube macht selig und das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. Wer sich gesund glaubt, ist es schon zur Hälfte, und warum soll unsere Zeit so nüchtern sein, dass keine Wunder mehr geschehen? Die Leichtgläubigkeit, wie sie jetzt in den zahlreichen Krankheitsgeschichten sich kundgibt, ist vielleicht noch die letzte Staffel der Naivität, die, wie dies häufig im Leben der Fall ist, wo die Gegensätze sich begegnen, durch die raffinierteste Spekulation an das Tageslicht kam. Ein Mensch traut jetzt kaum dem andern, das organisierte Misstrauen, wie ihre Gegner die konstitutionelle Regierung nennen, ist epidemisch geworden, riesige Schlösser, Sicherheitsketten, eiserne Geldschränke, ausforschende Portiers, das ist vorhanden, um jedes zufällige Begegnen und jedes romantische Abenteuer schon im Keime zu vernichten. Tritt ein Mensch in ein offen stehendes Haus, so soll er durchaus keine andern Gelüste haben als Diebesgelüste, kein anderes Bedürfnis, als das nach fremdem Eigentum. Und doch sagt Goethe: Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst. Misstrauisch beobachten ihn die Dienstboten hinter dem sichern Versteck der Hoffenster, er tappt, um unbemerkt zu sein, nach den dunkelsten Stellen, aber dieses Suchen nach einem Schlupfwinkel vermehrt noch das Misstrauen der Hausbewohner, die jetzt mit Geräusch die Fenster öffnen und den Unglücklichen, der einem natürlichen Gefühl der Schamhaftigkeit folgt, unbarmherzig zwingen, gesenkten Hauptes durch den breiten Torweg die Retirade aus einem Hause anzutreten, das ungastlich dem bedrängten Mitbürger auch nicht den kleinsten Raum zur Erleichterung bietet. Wo ist die Intoleranz und die Lieblosigkeit größer? Bei den Arabern ist jeder Fremdling, der unter das Dach tritt, ein Genosse der Familie, bei den zivilisierten Nationen ist schon das Untertreten ein verdächtiges Zeichen, das, wenn nicht der Ton und die Kleidung besonders fein sind, gleich die Ausrufe „Bummler, Vagabund" von symbolischen Injurien begleitet, zur Folge hat. Auf italienisch heißt Berlina ein offener Wagen und mettere alla Berlina sehr bezeichnend an den Pranger stellen.


So kalt stehen sich die Menschen alltäglich gegenüber, wahrend in den Zeitungen mit den Gefühlen der Dankbarkeit, der Teilnahme, der Nächstenliebe, ein einträglicher Handel getrieben wird, der wirklich eine Menge leichtgläubiger Gimpel in das Netz lockt. So viele Wohltäter der leidenden Menschheit haben noch nie existiert, die stets auf neue Essenzen und Extrakte sinnen, um ihren Mitbrüdern statt der Blässe des Gedankens die roten Wangen der Gesundheit zu geben. Da legt einer den armen Samariter in Ketten um ihn vom Rheumatismus zu befreien, während der andre ihm stärkendes Malz in die Kehle schüttet, und ein dritter ihm den kahlen Kopf mit einer Pomade einreibt, die bei einem Haar geholfen hat. Das Erfindungstalent, das sich in Pflastern, Heilkissen, Zahnbändern, Tinkturen ausspricht, und das sich oft bis zu einer schwindelnden Höhe erhebt, zeugt von einer geistigen Beweglichkeit, die die nordische Hauptstadt würdig der französischen zur Seite stellt. Berlin ist die Stadt der Schönfärber und der Surrogate. Es wird nirgends so viel und so echt gefärbt und keine Stadt kann sich rühmen, so viel täuschende Surrogate erfunden zu haben. Für die Verzierungen von Sandstein haben wir die Ornamente von Thon, für die teure Bronze an Kronleuchtern und Statuetten die Steinpappe, für den natürlichen Marmor den künstlichen, für das echte Silber das täuschende Neusilber, nur allein das Gold, das knechtischste Metall, das sich am meisten breit schlagen lässt, hat sich noch nicht zu einer vollkommen gelungenen Maske erniedrigen wollen.

Alle diese schönen Erfindungen geben das beste Zeugnis von einer industriellen Gewandtheit, aber sie haben zugleich auch eine moralische Kehrseite, die die Lichtstrahlen der technischen Errungenschaften arg verdunkelt. Wo so viel Unechtes fabriziert wird, ist selbst dem Echten gegenüber das Misstrauen ein berechtigtes, und der Berliner ist jener Chemiker, der die Milch untersucht, ob sie wirklich von einer Kuh herrührt, oder nur von einem sprudelnden Kreidefelsen. Auf Treu und Glauben, auf Ja, Ja und Nein, Nein wird daher in der wirklichen Welt nichts mehr angenommen, und Möros „mit dem Dolch im Gewande" darf nur einen zahlungsfähigen Freund als Bürgen zurücklassen. Die industriellen Ritter aus dem Stegreif, die fortwährend ihre Netze ausspannen, um unerfahrene lustige Fliegen zu fangen, und die mehr gröberen Raubritter mit dem Dietrich im Gewande, tragen am meisten dazu bei, dies Misstrauen in immer größere Kreise weiter zu pflanzen, und bald wird es dahin kommen, dass man selbst jede Handschrift sorgfältig prüfen muss, ob sie nicht gefälscht ist. Hat doch vor einigen Jahren der schlaue Grieche Simonides die gelehrte Welt mit einem Manuskript getäuscht, dem er durch eine Tabaksauce den verschönernden Rost der Jahrhunderte mitgeteilt hatte. Der Großstädter ist daher der geborene Sicherheitskommissarius, der selbst in einem sogenannten anständigen Café seinen Hut und seinen Paletot nicht gern außer Augen lässt, und immer die zu weit gehende Nächstenliebe fürchtet. In der riesigen Weltstadt London, die grade so viel Einwohner hat, als das Königreich Württemberg und so viel Nachtwächter als das Königreich Sachsen Soldaten zur Bundesarmee stellt, da ist die prüfende Vorsicht selbst in die untern Klassen gedrungen, die anderswo noch vom Gift des Misstrauens am wenigsten angesteckt sind. Ein Londoner Kutscher beißt auf jedes 5 Schilling-Stück und fühlt ihm auf den Zahn, ob es auch wirklich Silber, oder nur wertloses Blei ist. In Wien, wo nichts mehr zu beißen ist, sind solche Zahnoperationen unmöglich, auch bei uns sind die Falschmünzer noch keine Achtung gebietende Minorität, wohl aber sind wir gezwungen, einen Thalerschein hin und her zu wenden, ob er auch wirklich echt ist und kein Schein. Seitdem man in allen Ländern einen Schein für bare Münze annehmen muss, was an sich schon ein Widerspruch ist und nur im Gebiet der Ästhetik eine Wahrheit, seitdem selbst der kleinste Raubstaat gestempelte Makulatur fabriziert, ist das Misstrauen so groß geworden, dass oft ein Staat im deutschen Bunde die Wertpapiere des andern als wertlos verschmäht. Und das nennt man mit dem pomphaften Namen einen deutschen Bund, dessen erstes Requisit doch Treu und Glauben wäre! Hier zeigt sich wieder die Kehrseite des Fortschritts. Auf der Kehrseite des Thalerscheins stehen zwei unschuldige Genien, aber diesen Engeln der Unschuld ist nicht immer zu trauen.

In keiner Stadt aber wird dem Fremden das Misstrauen gleich so eingeprägt, wie in der Stadt der Intelligenz. Weder in London, noch in Paris findet man jene alles menschliche Gefühl niederschmetternden Anschläge: „Vor Taschendieben wird gewarnt", wie sie hier auf den Bahnhöfen den Reisenden mit Angst und Entsetzen erfüllen. So muss jeder seinen Nebenmenschen fürchten, besonders wenn dieser zu sehr „Nebenmensch" ist und sich zärtlich anschmiegen will, und muss wie ein Perpendikel nach rechts und links ausbiegen, um nicht in zu nahe Berührung zu kommen. Und doch haben wir hier einst einen romantischen Vagabunden gehabt, der, wie er vor Gericht behauptete, nur aus reinster Liebe zum schönen Geschlecht den Damen die Mäntel zerschnitt. Er wollte nichts mit der Kehrseite wo die Taschen liegen zu tun haben, sondern machte seine Angriffe von vorn, von der äußeren Fassade. Ein englischer Zimmergeselle, der in Portsmouth einer vornehmen Lady, die eben ans Land stieg, von ihrer Schönheit ergriffen, einen herzhaften, leidenschaftlichen Kuss verabreichte, wurde wegen grober körperlicher Misshandlung zu sechs Monat Zuchthaus verurteilt. Unser Mäntelzerschneider ist mit vier Monat davongekommen und wird jetzt wahrscheinlich in dunkler Zelle singen: Ich schnitt es gern in alle Mäntel ein!

Es ist wunderbar, dass die Taschendiebe in einem Winter, der den Berliner Boden so schlüpfrig macht, dass ein nicht Gefallener beiderlei Geschlechts zu den Seltenheiten gehört, es ist wunderbar, dass die Gauner, deren Erntezeit immer der Winter ist, jene Periode im ganzen nur wenig benutzen. Vielleicht ist ihnen selbst der Boden zu schlüpfrig geworden; denn obgleich die Mark die Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs genannt worden ist, im Winter, wo der Streusand eine Wohltat für das Podium wäre, ist davon nichts zu bemerken. Nur im Sommer, wo er zum Wüstenstaub sich verfeinert, wird er uns in die Augen gestreut, aber im Winter niemals unter die Füße. Diese Kehrseite der Hauptstadt, die uns im Sommer blind und im Winter lahm macht, ist eine, die wohl radikal durch energische Maßregeln zu vernichten wäre. Entweder muss jeder vor seiner Tür fegen, oder die Kommune oder die Polizei. Jetzt ist aber diese Pflicht durch die Kämpfe zwischen Magistrat und Polizei eine streitige geworden und das corps de balai, wie man die Straßenreiniger genannt hat, scheint mehr aus wirklichen geheimen Räten der Straßenreinigung als auf öffentlichen Beamten zu bestehen. Würde nicht der Himmel mit seinen Tränen sich über uns erbarmen, wir hätten noch im Sommer so viel Höcker, Auswüchse und Difformitäten, dass weder im Wagen noch zu Fuß der Weg zu passieren wäre. In einer Stadt, wo der berühmte Langenbeck mit dem Messer die größten Schäden operiert, ein Gräfe den Blinden aller Welten die Augen öffnet und ein Remak mit dem konstanten Strom die gelähmten Glieder flüssig macht, sollten wir da keinen konstanten Strom erfinden können, um unsre Gewässer in stetem Fluss zu erhalten? Sollte für das leidende Pflaster kein Pflaster zu finden sein? Oder sollen wir etwa alle in die Gefahr kommen, als Lehr-Objekte für die operative Chirurgie verwendet zu werden? Bleibt der Zustand so wie gegenwärtig, so ist die Hauptstadt in der Auslösung begriffen und hat ein noch traurigeres Schicksal als Pompeji, das wenigstens in einer reinlicheren Art zu Grabe getragen wurde. Und aus der Asche kann sich ein strahlender Phönix erheben, den noch Jahrhunderte bewundern; was soll aber aus dem in Abraum und Kot versunkenen Berlin werden? Haman, der Magus des Nordens, sagt: „Der wahre Glaube ist Substanz, alles andre nur heiliger Kot des großen Lama." Aber der wahre Glaube ist in Leichtgläubigkeit untergegangen und nur der irdische Kot ist uns übrig geblieben.

Wir wollen noch einen Vorschlag zur Güte machen. Bekanntlich benutzen einige unserer Delikatessenhändler die Trottoirs, um ihre Speisen und Getränke im Lapidarstyl darauf anzukündigen. Sollte man nicht die Trottoirs zu Annoncen hergeben, aber mit der Bedingung, dass die Inserenten sie immer im lesbarem Zustande erhalten? Dann würden wir zwar nicht auf Rosen, aber doch auf Austern und Kaviar wandeln und immer in aufrechter Stellung, es würde uns das Wasser im Munde zusammen laufen, dagegen die Trottoirs in allen Zungen reden und dennoch trocken sein. Wie schön und graziös würde man sich auf einem solchen Boden bewegen können, während wir jetzt gar nicht daran denken wollen, unter welchen Haufen von Kehricht die herrlichsten Genüsse begraben liegen. Dies ist noch das beste und am wenigsten kostspielige Mittel, um das Berliner Pflaster von allen verletzenden und gefährlichen Makeln zu reinigen. Findet diese Lithographie allgemeinen Beifall, so wird Berlin für jeden Peripatetiker nicht bloß die reinlichste, sondern die verführerischste Stadt sein. Die Kehrseite der Residenz wird ihre Lichtseite werden und Berolinum endlich sein Anagramm, ein lumen orbi, ein Licht der Erde, nach allen Seiten verwirklichen!

Bis dahin aber wird noch viel Wasser in die Spree und in unsre Weine laufen, die jetzt auch von außen frieren.

Seitdem die moderne Kultur die Entdeckung gemacht hat, dass der Champagner in Eis gestellt werden muss, um dem verwöhnten Gaumen besser zu munden, seitdem auf die emporsteigenden Geister einer übersprudelnden Kraft kalte Umschläge gelegt werden, ist auch das letzte überschäumende Element einer Disziplin unterworfen worden, die für die Hebung der inneren Glut kein besseres Mittel zu finden weiß, als eine äußere, künstliche Kälte. Die arme Witwe Cliquot hat es gewiss auf ihre alten Tage sich nicht träumen lassen, dass ihre Reize durch eine schlüpfrige Umgebung noch erhöht werden, und dass sie selbst aus dem Eise gerettet werden muss, damit ihre Verehrer zu einer vollen Würdigung ihrer Vorzüge gelangen. Ist aber Champagner in Eis jetzt der Mittelpunkt aller Feste, in denen der Luxus mit seinen Pfauenfedern prunkt, so sind auch die Teilnehmer dieser Gelage in vieler Beziehung dem Getränk ähnlich, das sie zu sich nehmen, wie immer der Mensch mit dem Lieblingsstoff seines Magens in einem analogen Verhältnis; steht. Unsre norddeutsche Hauptstadt hat namentlich im Winter so viel Überfluss an Gefrorenem, dass förmliche Gletscher an den Straßenecken sichtbar sind und die Kultur exklusiver Kreise in den perlenden Tropfen ihrer Genüsse ihr passendstes Ebenbild findet. Grade aber das ist es, was die süddeutsche Gemütlichkeit uns fortwährend zum Vorwurf macht, dass die sprudelnden Berliner Geister des Witzes und der Laune, nur umhüllt von einer schneidenden Kälte verabreicht werden. Die deutsche Einheit wäre schon längst hergestellt worden, wenn der norddeutsche Verstand nicht jene Kehrseite hätte, die eine Erkältung in den stammverwandten Herzen herbeiführt, wodurch selbst das offene Entgegenkommen leicht in den Verdacht einer überlegten Berechnung gerät. Nun hat aber jede große, Ton angebende, Stadt noch den Übelstand, dass die Menschen durch ihre Quantität sich ziemlich gleichgültig werden, und dass der Einzelne sich nicht in einer Umgebung von Mitbürgern sondern von unbekannten Größen bewegt. Die Berliner Kälte, die die Grundlage der Nation ist, wächst daher mit der Ausdehnung der Stadt und da diese glücklicher Weise in südwestlicher Richtung zunimmt, so werden wir allmählich zur Herstellung der Einheit den Berliner Geist so weit verpflanzen, dass Bier auf Eis, das der Süden so liebt, und Champagner in Eis, mit dem der Nordländer kokettiert, keine großen Differenzen mehr herbeiführen.

Und siehe da, das Wunder ist schon zur Hälfte geschehen. Fast auf allen Volkstheatern Deutschlands ist der Berliner Geist zum Durchbruch gekommen und die populären Figuren, wie Schulze und Müller haben über die Staberle und Hampelmänner, über die Repräsentanten der Karnevalslaune, den Sieg davon getragen. Der Witz, der mit seinem Stachel den Unschuldigen kitzeln, den Schuldigen aber verwunden will, erobert eine Provinz nach der andern, und der Genius des Kladderadatsch entfaltet seinen kräftigen Flügelschlag an der Donau, an der Isar, am Neckar, wie an der Spree. Die süddeutsche Gemütlichkeit nimmt immer mehr von jener prickelnden Essenz in sich auf, die dem Champagner in Eis zu vergleichen ist, deshalb flüchtet sich die Literatur, wenn sie die letzten Asyle reiner, unschuldiger Herzen schildern, wenn sie naturwüchsige Charaktere malen will, in die Dorfgeschichte, während die Stadtgeschichte so oft mit dem Stadtgericht in Konflikt kommt. In Berlin lässt sich nicht träumen. Dieser selige Zustand der Befriedigung, diese dämmernde Mischung von Natur und Geist, dieses süße dolce far niente auf den Schwingen der Einbildungskraft; es ist durch die Kritik der reinen Vernunft verloren gegangen. Und den andern Hauptstädten geht es nicht viel besser. Sobald sie Mittelpunkt eines Eisenbahnnetzes geworden find, so lauert auch schon die Spinne in diesem Netz, die jeder harmlosen Fliege die Freuden eines unbefangenen Genusses verdirbt. Aber während man in andern Städten doch noch dem Treiben entgehen kann, indem man sich vor die Tore flüchtet und an den unveränderlichen Reizen, der Natur sich erquickt, ist das die Kehrseite der Residenz, dass unsre Natur größtenteils künstliche, vergängliche Reize hat, und immer wieder die saure Arbeit der Menschen reflektiert.

Als Schiller seinen „Spaziergang" machte, da sah er „den Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel und das braune Gebirg und den grünlichen Strom." Und diese Farbenskala umschlang er mit Gedanken-Arabesken, die in der Natur der Thüringer Berge ihr Spiegelbild wieder fanden. Aber das vermochte auch das anmutige Hügelland, das von der Ilm durchzogen ist, während die Grazien der Mark den Dichterfürsten und Weimar'schen Minister nur zu einem Spottgedicht begeisterten. Aber selbst der Weimar'sche Minister, der so viel wie möglich, um sein Dasein harmonisch zu gestalten und in seinem Behagen sich nicht stören zu lassen, vom Lärm des Tages sich abwandle, er ist immer mit seinen amtlichen Funktionen im Kampf und schreibt an Charlotte Stein: „Ich wollte mich lieber hinsetzen und mir Märchen erzählen lassen, als die Herren Stände bewillkommnen." Ja die Herren Stände, was haben sie erst in unsern Tagen angerichtet? Hätte Goethe täglich in seinem Hause das Pfeifen der Lokomotive gehört und wären ihm von seinem Kammerdiener Morgens und Abends die telegraphischen Depeschen gebracht worden, so wäre seine Phantasie in ein solches Kreuzfeuer geraten, dass selbst der Weimar'sche Park sie nicht mehr in ihrer Reinheit hätte hervorzaubern können; damals war noch ein neues Gedicht, ein neuer Roman, ein neues Theaterstück das die Welt bewegende Element, während heut zu Tage eine Abstimmung, ein Ja oder Nein, von einer ganz unbekannten Person gesprochen, oft von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Hauptstadt einer Großmacht fühlt aber am meisten den scharfen, politischen Zugwind. Politische Konstellationen knüpfen sich hier an Reden und Äußerungen, die die stets geschäftige Intrige oft in ganz andern Formen wiedergibt. Die Lüge von der Wahrheit zu sondern ist daher schon eine saure tägliche Arbeit des Großstädters, wenn er nicht von vornherein das Sprichwort „der lügt wie gedruckt" an der Stirn jedes Journalisten lesen will. Wo bleibt bei diesem notwendigen Misstrauen, bei dieser Tugend des Comptoirs, der Idealismus? Louis Napoleon sagt in einer Thronrede: „Unsrer Ehre wegen weht unser Banner auf den Mauern von Peking, als Vertreter der Humanität gingen unsere Truppen nach Syrien, zum Schutz des heiligen Vaters sind sie in Rom und aus Mitgefühl mit einem königlichen Märtyrer in Gaeta." Und doch glaubt Niemand an diese idealen Missionen. Der Praktiker auf dem Throne prunkt mit den edelsten Gefühlen, und liest man diese Thronrede, so sollte man glauben, dass die Zeit des Plato gekommen ist, wo die Philosophen mit dem Diademe sich schmücken. Aber Louis Napoleon hatte nur einmal Zeit sich mit solchen Spekulationen zu beschäftigen; das war, als er im Gefängnis von Ham saß, wo er bekanntlich die „Ideale" von Schiller übersetzte. Übersetzungen gleichen den Kehrseiten gewirkter Tapeten. Diesmal aber ist die Kehrseite schon zu sehr abgenutzt und namentlich die Stelle über die „unwiderrufliche Vereinigung Savoyens und Nizzas" ist ein bedeutender Fettfleck, der, wie der in einer Marmorsäule, immer weiter sich ausdehnt. So weit hat es aber der Erwählte des zweiten Dezember wirklich gebracht, dass er den Wunsch, den Caligula für Rom hatte, in Paris selbst erfüllt hat, Frankreich hat nur einen Kopf, der für seine Zukunft handelt, dichtet und denkt. Dass dieser Kopf sterblicher Natur, hat schon manchen Börsenmann und Diplomaten zum Verzweiflung gebracht. Sagte doch selbst die halboffizielle österreichische Zeitung nach dem Orsinischen Attentat wirtlich: „Das Leben des Kaisers Napoleon ist ein wertvolles Eigentum der Welt, und Millionen, auch außerhalb der weiten Grenzen seines Reiches, haben Ursache dem Himmel für seine Erhaltung inbrünstig zu danken." In Österreich ist man so in die Millionen hineingeraten, dass man bei solchen Exklamationen nie weiß, ob Millionen Menschen oder Gulden gemeint find. Und beides ist leider heut zu Tage nicht viel unterschieden, da es die erste Tugend ist seine Bedürfnisse bar zu bezahlen und der innere Wert nach dem äußern berechnet wird!

Wird aber in unserer Zeit so viel auf die äußere Fassung gegeben, so wird es auch das wichtigste Bestreben der meisten Menschen sein, nie außer Fassung zu kommen. Wie man den Champagner kalt stellt, so müssen wir immer unsere äußere Stellung im Auge haben und es ist nicht erlaubt, wenn man die Formen nicht verletzen will, diese kalte Position zu verlassen. Wie die Frauen durch die Krinoline den Abstand von der Natur uns deutlich zeigen, so sind für beide Geschlechter die stählernen Reifen der Konvenienz vorhanden, die wir wie Ketten mit uns herumschleppen. In großen Städten sind nun diese ungeschmiedeten Ketten bei weitem drückender, da das dichte Zusammenleben so vieler Menschen bestimmte Vorsichtsmaßregeln erfordert und selbst der Weimarsche Minister beklagt sich schon damals, dass jetzt nicht einmal die Buben laut auf der Straße schreien dürfen, da gleich die Polizei einschritte. Selbst die Blumen sollen nur für das botanische Studium, für das Herbarium vorhanden sein und nicht für den Liebhaber. So in spanische Stiefel eingeschnürt, werden wir mehr und mehr von der Geburt an dressiert und je mehr durch die erleichtere Kommunikation die Länder zentralisiert werden, desto mehr Menschenopfer fallen dieser Kehrseite der Hauptstadt und die naiven Originale gehen allmählich ganz verloren. Früher waren das noch die darstellenden Künstler, die Schauspieler. Die bürgerliche Verachtung, unter der sie lebten, machte sie zu echten Vagabunden, die herumwandernd Welt und Menschen aus eigener Erfahrung kennen lernten und ihren ungezügelten Leidenschaften freien Lauf ließen. Die Eitelkeit war ihnen unbekannt, die der Tod aller darstellenden Kunst ist. Da der Thespis-Karren damals noch nicht ein ganzes Zeughaus von Toiletten und Dekorationen mit sich führte, so musste der Mime weit größere Anstrengungen machen, um die Phantasie der Zuschauer durch seine eigne Leistung zu beschäftigen. Garrik konnte das Abc so hersagen, dass alle Zuschauer zu Tränen gerührt wurden, heut zu Tage ist das ergreifende Abc die Toilette, die Eleganz, der Kleiderprunk, und wenn ja erst die Steine im Schmucke echt sind, so ist die Bewunderung um so größer. Die Mimen sind gut situierte Hofbeamten geworden, die nur ausnahmsweise ihre Schulden nicht bezahlen, die Leidenschaften halten sich immer in den Grenzen der Etikette, und ein Devrient, der noch in jener berühmten Weinstube den Champagner ohne Eis zu sich nahm, würde heute leicht gegen die Theatergesetze verstoßen. Ja die Mode und der Salon hatten so weit über die Dichtung gesiegt, dass den Künstlerinnen erst durch eine strenge Ordre der Intendanten das Tragen solcher Kleider verboten werden musste, deren innerer Mechanismus nicht so nachgiebig war, dass die Gefühle der Anbetung, der Hingebung, der Zerschmetterung und des in die Erde Sinkens auch plastisch ausgedrückt werden konnten.

Aber nicht bloß auf der Bühne, auch in der wirklichen Welt ist die Gefahr vorhanden, dass der Salon über das Haus siegt, dass wir mehr repräsentieren, eine Rolle spielen, als natürlich empfinden, und dem Zug des Herzens folgen. Und das ist wieder die Kehrseite der Hauptstadt, dass wir gleich den Franzosen und den Steinen mehr von außen nach innen, als von innen nach außen uns bilden. Die Stadt der Intelligenz geht im Sommer auf Reisen, und bringt, wie der Hamster, die Nahrung in die Heimat, um den Winter desto besser ertragen zu können. Plato wollte in seiner Republik, dass Niemand vor dem vierzigsten und keiner nach dem sechzigsten Jahre auf Reisen gehen sollte. Die Frauen der Alten hielten sogar das Reisen für unanständig, und die Königin von Saba reiste nur einmal, den Salomon zu sehen. Den Süddeutschen wird es leicht dem Plato zu folgen. Sie bleiben in ihren Bergen und ihren fruchtbaren Gefilden, an den rebenumkränzten Ufern ihrer silbernen Ströme, während bei uns schon der Jüngling das Ränzel auf dem Rücken dahin pilgert, weil in der flachen Ebene, wie dies schon Rahel bemerkt, die Phantasie keine Nahrung findet. Und dieser Jüngling, der freie Bursche, er erregt und findet überall Teilnahme. Bewegt er sich aber in Glacé-Handschuhen, in gezierten Formen, dann zeigt sich oft der hohle Firnis der so verschrienen Berliner Bildung, die, mehr eine Bildung des Kopfes, als des Herzens, dem derberen Süddeutschen wie eine Karikatur erscheint. Georg Forster, der Naturforscher des Volks, wie ihn Moleschott genannt hat, ein feuriger Kosmopolit, machte im Jahre 1778, nachdem er den ganzen Erdball umschifft hatte, eine Reise nach Berlin, um die berühmten Berliner Notabilitäten der Kunst und Wissenschaft kennen zu lernen. „Ich erwartete, schreibt er an Friedrich Jakobi, Männer von ganz außerordentlicher Art, reiner, edler, von Gott mit seinem hellen Licht erleuchtet, einfältig und demütig wie Kinder. Und siehe da, ich fand Menschen, wie andre und was das ärgste war, ich fand den Stolz und den Dünkel der Weisen und Schriftgelehrten." Und Goethes Urteil lautet nicht viel besser. Ja, Einfalt und Demuth, die mehr Rätsel lösen können, als der Verstand der Verständigen finden kann, das tut der Stadt der Kritik not, wenn sie eine wirksame Propaganda durch ihre reisenden Émissaire ausüben will. Es ist nicht zu leugnen, dass der reisende Berliner, indem er die Lichtseiten der Königstadt fortwährend preist, gerade zur Anschwärzung der Lichtseite, zur Kehrseite, am meisten beigetragen hat. Er nimmt häufig dann die Rolle des Renommisten, oder was noch schlimmer, die Maske des Blasierten an, der scheinbar nur auf dem Grabe des Genusses wandelt, und auf jede natürliche Empfindung, wie auf einen überwundenen Standpunkt herabsieht. Wer mit kräftiger Kost genährt ist, und sich in seiner gesunden Haut wohl fühlt, kann sich nicht zu dieser schwindelnden Höhe erheben und der gebildete Berliner Windbeutel führt dann leicht Konflikte herbei, in denen die großstädtische Pfiffigkeit nicht immer den Sieg davon trägt. Nun liebt es aber der Mensch zu generalisieren. Was dann ein Berliner verbrochen hat, fällt zuletzt allen zur Last, und so kann ein zudringlicher, vorlauter commis-voyageur oft die Arbeit der Weisesten über den Haufen werfen.

Stiften wir deshalb einen geistigen National-Verein, der wie der Koburger die politischen, so die sozialen Antipathien beseitigen soll. Wir haben bereits soviel Berliner Witz nach dem Süden exportiert, wie dies die dortigen Volksbühnen zeigen, dass die preußische „Spitze" Gefahr läuft, abgebrochen zu werden, wenn wir nicht durch die oberdeutsche Gemütlichkeit wieder lebensfrische und sympathische Elemente zu importieren anfangen. Wie Venus und Mars die Harmonia, die Göttin der Eintracht, erzeugten, so wird dann aus diesem Geisterbunde jene wahre deutsche Innigkeit hervorgehen, die den Gehalt des Gefühls zur Klarheit des Bewusstseins erhebt, und umgekehrt wie der Champagner in Eis, dem kalten Sprudel des Kopfs durch die wohltuende Wärme des Herzens jenes temperierte geistige Ferment verleiht, das nicht nur moralische, sondern auch reelle Eroberungen macht. Sein wir wie der Magnet, der liebend anzieht und zugleich lehrend die Gegend des Himmels zeigt! Dann werden wir nicht mehr durch einen Witz wichtige Fragen beseitigen wollen, sondern mit innigem Anteil auf ihre Lösung eingehen, und vor dem Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen uns hüten. Wir werden dann wie der deutscheste Mann Luther zugleich glückliche Träumer und dennoch Männer der Tat sein, nicht bloß die Zunge, sondern das Schwert der Zeit sein, dem Teufel das Tintenfass an den Kopf werfen und Abends die Flöte blasen. Diese harmonische Bildung, die die Freiheit eben so liebt wie Wein, Weiber und Gesang, die gleich dem Stahl durch Glut und Kälte gehärtet wird und die Nachgiebigkeit mit der Schärfe vereinigt, sie wird die Brücke zwischen Geist und Materie schlagen, zwischen dem berauschenden Aroma des Champagners und dem an der Scholle klebenden Grundeis. Wie Schlegel die Architektur eine gefrorene Musik nannte, so wird auf diesen Grundlagen, wo der Süden und der Norden sich die Hand reichen, der Tempelban der deutschen Einheit sich erheben und die Musik der Zukunft mit ihren Feierklängen die neue Ära einweihen, die Ära, in der alle Deutschen, das Konkrete mit dem Abstrakten vereinend, ein warmes Herz und einen kalten Kopf, diese schönste Mitgift der Natur, aus der Hand der Geschichte empfangen. Berlin wird dann seine raue abstoßende Kehrseite, den brummenden Bären in seinem Wappen verlieren, die kämpfenden Elemente werden versöhnt, die saure Arbeit vollendet sein. Was Wilhelm I. als Zukunftsmusik in seiner zweiten Proklamation verkündete, wird jetzt eine Harmonie der Gegenwart sein und das bedeutungsvolle Wort eine Wahrheit: Preußen ist von jetzt an bestimmt dem Genuss der erworbenen Güter zu leben!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder
Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische (2)

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Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische

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Berlin, Musikalische Abend-Unterhaltung in einem Kellerlokal

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Berlin, Faschingsball in einem Verbrecherlokal

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Sittenbild, Berlin, Ausflügler am Pfingstmontag

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Sittenbild, Berlin, Krolls Garten

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Berlin, Herbstmittag im Tiergarten (2)

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Berlin, Zentralmarkthalle 1897 (4)

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