Auf der Staatseisenbahn 1862

Wer zum ersten mal auf der Eisenbahn in England fährt, und an die kontinentalen Schienenwege gewöhnt war, der wird in das Land der Selbstregierung mit Dampf eingeführt, und wird, ohne es zu wollen, sein eigner Herr. Auf dem heimatlichen Bahnhof umgibt ihn eine Schar von untergeordneten Beamten, die auf seine Winke achten, seine Befehle vollziehen, und dem Druck seines Portemonnaie Folge leisten; auf der englischen Station nichts von diesen zarten Aufmerksamkeiten, keine dienstfertige Bürokratie, keine Stütze für den erschöpften Wanderer. Alles muss der Passagier sich selbst besorgen, seine Habseligkeiten unterbringen, seinen Wagen aussuchen, und wenn die gewählte Klasse besetzt ist, gleich zu einer höheren übergehen. So keucht der Unglückliche, der im Vaterlande an eine Menge amtlicher Liebesdienste gewöhnt war, wenn er die ersten schüchternen Versuche mit dem englischen Flügelross macht, und auf dem Express-Train neun deutsche Meilen in einer Stunde zurücklegt. Aber noch mehr wird er unterwegs in Unruhe und Angst versetzt, wenn er zum Wagenfenster heraussieht; da durchschneidet ein Kreuzweg die Eisenbahn, eine Menge Menschen warten, bis der Zug vorüber ist, Männer, Weiber, Kinder; auch keine Barriere, auch hier kein Bahnwärter, kein Beamter! Nichts als ein Pfahl, ein Wegweiser, auf dem mit großen Buchstaben die Worte stehen: Look out for the engine, seht euch nach der Maschine um! aber wer nicht diese Umsicht hat, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er von den Rädern zermalmt wird. Und der Kondukteur, der seine Zeit genau inne halten muss, fährt weiter und ruft: all right, alles richtig! So kommt der deutsche Reisende erst nach mehrmaligen Fahrten und Abenteuern zu der Überzeugung, dass er auf der grünen Insel sein eigner Schutzmann sein muss, dass er aus den Ketten der väterlichen Bevormundung entlassen und selbst bei jeder Gelegenheit Mund und Auge auftun muss. Das einfache Gebot: Helft euch selbst, so wird euch Gott helfen! hat England so groß gemacht, während die vielen Gesetze über unerlaubte Selbsthilfe andre Staaten verkümmern ließen und so viel Steine des Anstoßes aufhäuften, dass in kritischen Zeiten die Regierung sie nicht mehr fortschassen konnte. Auch die mystischen Schutzheiligen fehlen in England, die in katholischen Ländern auf der Landstraße uns so wehmütig anblicken. Da ist kein heiliger Bernard, der den Katarrh zu bannen vermag, der noch vor kurzem in einem Wiener, von Nonnen geleiteten, Krankenhaus als die beste Medizin gepriesen wurde, kein Otto von Bamberg, der die beginnende Kolik schon im Entstehen zu unterdrücken vermag. Die Ärzte sind weder kanonisiert, noch brauchen sie sich von der Regierung prüfen zu lassen. Es ist dem Publikum überlassen, sie nach ihren Leistungen zu prüfen. Nach einem alten Privilegium kann sogar der Erzbischof von Kanterbury aus eigner Machtvollkommenheit jedes beliebige Individuum zum Doktor der Medizin ernennen, und, da der gegenwärtige leidenschaftlich der Homöopathie ergeben ist, so hat er schon einige Homöopathen zu Doktoren kreiert. Wo bleibt da die Würde der Wissenschaft und wo die Gesundheit?

Und doch ist in England die Sterblichkeit noch geringer als anderswo, weil das Publikum, durch Schaden klug geworden, doch nur die tüchtigsten Ärzte zu Rate zieht. In England ist die Lebensdauer durchschnittlich 42, in Preußen nur 35 Jahre. Wo die Scharlatanerie und die Pfuscherei vollkommen frei umhergehen kann, da sind diese illegitimen Künste nicht gefährlich; wo sie aber verfolgt werden, da gewinnen sie durch die Märtyrerkrone einen Anhang, der oft so blind ist, dass selbst die väterlichen Ermahnungen und Strafen der Regierung nichts fruchten. Die verbotenen Früchte reizen am meisten und während an sich ein saurer Apfelwein nichts verführerisches hat, gewinnt er als corpus delicti ein Aroma und eine berauschende Kraft, mit der die Gaben des Bacchus kaum wetteifern können. Wie oft haben religiöse Sekten, die in einem freien Lande sehr bald ihren Untergang erlebt hätten, nur durch die Verfolgung, die man ihnen angedeihen ließ, eine Bedeutung gefunden. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, und es ist daher das beste Mittel, wenn man sich keine Feinde machen will, so wenig Gruben wie möglich zu machen. Eine Regierung, die danach strebt, nicht bloß zu leben, sondern leben zu lassen, kann selbst Gruben und Maulwurfslöcher noch in Menge bestehen lassen und das Volk, das ein großes Maaß von Freiheit besitzt, wird diese Reliquien einer vergangenen Zeit kaum beachten, noch weniger gewaltsam diese Hindernisse hinwegräumen wollen. Der kalte englische Protestantismus der Hochkirche stammt aus „Eisleben" und hat so viel Formelwesen in sich aufgenommen, dass Luther, der in Wittenberg auch an Sonntagen die Flöte blies und Wein, Weiber und Gesang liebte, heute mit der englischen Kirchlichkeit und der strengen Sonntagfeier nicht zufrieden wäre. Aber weil die politische Freiheit so groß ist, dass sie die religiöse weit überragt, übersieht man all diese Makel, wie bei einem schönen Kopf kleine Difformitäten nicht in Anschlag kommen. Dabei ist so viel Respekt vor der Tradition und dem Hergebrachten, dass selbst die Hochkirche auch hier weichen muss, wie dies noch vor kurzem ein Beispiel dargetan hat. In Thurmby in Leicestershire geht der Fuchsjägerkultus so weit, dass die Kirchenvorsteher seit Dezennien die Ankunft des bejahrten Lord Stamford, eines ausgezeichneten Sportsman daselbst, durch Glockengeläute zu feiern pflegen. Ein neuer Pfarrer wollte diese Profanation nicht dulden und leitete eine Klage ein, doch wies der Friedensrichter die Klage als unbegründet ab. Aber die entgegengesetzte Richtung kann sich eben so laut machen und feiert auch ihre Siege. Die Bill, die die Heirat unter nahen Verwandten gesetzlich begründen wollte, ist wieder bei der dritten Lesung abgewiesen worden, und eine Scheidung möglich zu machen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Mr. Monsay, ein frommes Mitglied des englischen Parlaments, der die Bill sehr angriff, erklärte, dass wenn solche Ketzereien gestattet würden, wir bald Zustände wie in Preußen bekommen würden wo, wie er wörtlich sagte, „es manchmal vorkommt, dass ein Mann mit seiner Frau und zwei seiner geschiedenen Frauen Whist spielt." Bisher mussten die Theater in London während der Osterwoche geschlossen sein; erst im Jahre 1862 hat der Lord Chamberlain, der die Theater zu beaufsichtigen hat, dies Verbot aufgehoben. Obgleich Präventivmaßregeln nach keiner Seite hin existieren und die Zensur kaum dem Namen nach gekannt ist, so existiert sie doch noch für die Londoner Theater, und der Lord Kammerherr hat bis auf den heutigen Tag die Aufführung des Dümas'schen Schauspiels „Die Dame mit der Kamelie" nicht gestattet. In Paris könnte ein solches Verbot, das der Schaulust Schranken setzt, eine Revolution herbeiführen. Die Engländer haben aber so viel andre Gelegenheit, ihrem Zorn Luft zu machen, dass solche Kleinigkeiten ihnen keine üble Laune verursachen. Und wo herrscht mehr Loyalität als im freien Land, wo gibt die Krone mehr den Ton an, der für alle Kreise maßgebend ist? Wird die Nationalhymne selbst im untergeordnetsten öffentlichen Lokal gesungen, so entblößen sich alle Häupter, und es herrscht förmlich ein Wetteifer im Publikum, seinen Respekt zu beweisen. Vielleicht kann das gegenwärtige England darin nur noch dem alten China zur Seite stehen. Dort herrschte im zwölften Jahrhundert die Kaiserin Tanku, die mit Klumpfüßen geboren war. Seit dieser Zeit sind die Klumpfüße in China Mode geworden und die loyalen Chinesinnen, die in der jedesmaligen Kaiserin ein Urbild der Vollkommenheit sehen, leben auf dem kleinsten Fuße. Wie in China der Kaiser einem geknechteten Volke gegenüber sich der Sohn des Himmels und der Bruder der Sonne nennt, so gilt die englische Krone als die erleuchtende und erwärmende Sonne, die durch ihre Anziehungskraft die Ordnung des Weltsystems stützt und es deshalb unter ihrer Würde hält, je die vorgeschriebene Bahn zu verlassen.


Wenn wir in dieser Beziehung die Angelsachsen als unsere Vorbilder betrachten und England immer als einen Musterstaat ansehen, in dem die größte Freiheit mit der größten Ordnung sich paart und ein gewaltsamer Umsturz kaum nur denkbar ist, so müssen wir uns bestreben, dem stammverwandten Volke zu folgen und Institutionen zu schaffen, die eine dauernde Prosperität der Nation begründen. Die insulare Lage Englands ist seit der Erfindung der Dampfschiffe kein Vorzug mehr; Louis Napoleon kann schneller nach London als nach Berlin kommen; und doch suchte er England zuerst durch seine Allianz zu fesseln, weil er sich vor diesem Feind am meisten fürchtete. Die Selbstregierung des Volks ist der schützende Wall der Krone, wie dies England beweist, das 1848, wo der Kontinent im Aufruhr war, ruhig wie ein Fels im Meere stand; diese Selbstregierung aber ist nur durch eigne Tätigkeit zu gewinnen. Kein Fürst ist so mächtig, dem Volke die Freiheit zu schenken, und wenn auch Epimenides vierzig Jahre schlief und dann den Athenern Gesetze gab, so konnten doch die Athener diesen legislatorischen Traum nicht fortsetzen, sondern mussten rüstig arbeiten, um das Gegebene nicht nur zu konservieren sondern fortzuentwickeln. Denn im menschlichen Leben ist Stillstand gleichbedeutend mit Tod, der das Herz stille stehen lässt, und in den meisten Sprachen geht das Verbum „Sein" unregelmäßig, weil es eben kein regelmäßiges Sein gibt, sondern nur ein ewiges Werden. Die große Frage aber, wie Freiheit zu gewinnen ist, lässt sich nur dahin beantworten, dass wer schwimmen lernen will, ins Wasser gehen muss. Wie die freie Luft nur in der Luft zu schöpfen ist, so kann man nicht für die Freiheit reif werden ohne die Freiheit. Zuerst muss aber das Grundrecht der freien Luft, das notwendigste Element da sein und dann findet sich das übrige, während Frankreich häufig und noch jetzt das umgekehrte Experiment macht und auf die Pyramide der Zwangsmaßregeln die Göttin der Freiheit setzen will. So verhält es sich auch in der englischen und französischen Industrie. Die Engländer machten zuerst das Notwendigste, die Hemden, während die Franzosen die Manschetten hinzufügten. Betrachten wir nun unser eignes Vaterland, so müssen wir es als ein Glück ansehen, dass uns durch die Auflösung des Abgeordnetenhauses die Prüfung auferlegt worden ist, ob wir auch den Genuss der freien Luft hinlänglich zu schätzen wissen. Und siehe da, es zeigte sich das erfreuliche Schauspiel, dass trotz aller materiellen Vorteile, die die Regierung teils versprach, teils ins Leben rief, das Grundrecht der Gewissensfreiheit für das höchste Gut. gehalten wurde und eine amtliche Einwirkung auf die Wahlen von allen Seiten entschieden abgelehnt wurde. Ja zuletzt mussten die Schöpfer dieser Maßregeln, da Proteste auf Proteste folgten, ihre Erlasse dahin erläutern, dass sie missverstanden seien und nicht im mindesten die Wahlfreiheit beeinträchtigen wollen. So müssen wir der Regierung Dank wissen, dass sie das preußische Volk oft auf die Feuerprobe gestellt hat und zu einer geistigen Gymnastik Veranlassung gegeben, die die Reife der Nation im schönsten Lichte dargetan hat. Als Hunderttausende an den Wahltisch traten, da waren sie alle von dem einen Gedanken erfüllt, dass nur auf gesetzlichem Wege alle Differenzen auszugleichen sind und mit der höchsten Ruhe gab das ganze Volk sein fast einstimmiges Votum ab. Die Beamten scheuten sich nicht trotz aller Winke ihre Meinung zu dokumentieren, die Kaufleute opferten einen Geschäftstag, um mit reinem Gewissen in die Messe zu gehen, und die Handwerker und Landleute hielten trotz aller Versprechungen die höchsten Güter für wertvoller, als die vergänglichen. Ein Volk, das sich bei öffentlicher Abstimmung so ausspricht, das hat den Mut einer Meinung bewiesen, die sich wohl gewaltsam brechen, aber nicht mehr beugen lässt. Die Regierung hat, indem sie ganz konstitutionell an die Nation appellierte, zugleich das beste Rezept verschrieben, um Charaktere zu bilden, die nicht in ruhigen Zeiten, sondern nur „im Gewühle der Welt" ihre Festigkeit zeigen können. Die Kugeln der Abstimmung sprechen lauter als die Kugeln des Kriegs, die oft von der Glücksgöttin abhängen, die auch auf einer Kugel steht. Kein Handschuh ist hingeworfen, aber der deutlichste Fingerzeig gegeben und die Hand zur Verständigung ausgestreckt. Nachdem wir mit dem aufgefangenen Licht der Gegner, wie Archimedes, ihre Schiffe verbrannt haben, so muss jetzt eine Einigung erfolgen. So hoffen wir denn, dass die Würde des großen Gerichtshofes, der endlich eine Anerkennung finden wird, die dem Vaterlande gewiss zum Segen gereicht und der Frühling wird bald, nachdem die kalten Tage überwunden sind, am Baum der staatlichen Freiheit so schöne Knospen entwickeln, wie sie in dieser Stärke nur nach einer glücklich beseitigten Krisis zum Vorschein kommen.

Das sind die Vorzüge der Selbstregierung, zu der ein Appell an die Nation die besten Grundlagen legt, dass das, was sie errungen, auch dauernd in das Fleisch und Blut der Nation übergeht. Hier sind keine Blüten, die nur künstlich mit Fäden angebunden sind, sondern sie sind organisch aus dem ausgestreuten Samen hervorgegangen. Wie Rubens mit einem Pinselstrich aus einem weinenden Kinde ein lachendes machte, so kann ein Fürst mit einem Federstrich aus einem weinenden Volke ein lachendes machen, aber doch ist der Regent mehr zu preisen, der sich von solchen Ordonnanzen fern hält und die brennende Frage der Nation zur Prüfung vorlegt. Der absolute Fürst mag die Birkenrute führen, die manchmal, wie der Stock Friedrichs des Großen, das lässige Volk antreibt; das Zepter des konstitutionellen muss die Wünschelrute sein, die die verborgenen Kräfte ans Tageslicht lockt. So ist der Fürst, indem er den Kräften freien Spielraum lässt, dem Kampfe der Parteien enthoben, zwischen Königtum und Parlament ist kein Gegensatz, und das parlamentarische Regiment, im Einklang mit den andern zahlreichen Regimentern erhöht, wie dies England beweist, den strahlenden Glanz, den Nimbus der Krone. Der Aufruf zu den geistigen Waffen, der mit solcher Ruhe vor sich ging, hat dem Volke das beste Zeugnis der politischen Reife gegeben; das sich selbst regierende Volk hielt die Ordnung aufrecht, und der Friede ist nirgends gestört worden. Da der Weg des Gesetzes streng inne gehalten und jede Gewalt von beiden Seiten verschmäht wurde, ist auch kein gefährlicher Märtyrer gemacht worden, und wie beim Kreuzweg auf der englischen Eisenbahn so hat die Regierung, wo sie eine Durchkreuzung ihrer Pläne fürchtete, in ihren modifizierten Erlassen zuletzt nur den warnenden Ruf der englischen Nation ertönen lassen: Seht euch nach der Staatsmaschine um! das „pas trop gouverner" ist der sicherste Pfeiler des Staatsgebäudes und bildet die stärkste und dauerhafteste Brücke zwischen Negierung und Volk. So sind wir ohne Furcht und Zagen glücklich auf der ersten Station angelangt, und nehmen wir die einzelnen Waggons näher in Augenschein, so sind alle Klassen, die erste, zweite und dritte von den besten Hoffnungen für eine glückliche Weiterreise erfüllt. Lasst nur die zahlreichen Ventile der Presse offen, damit der Dampf ausströmen kann und die Selbstregierung des Volks wird eine Mäßigung der Parteien herbeiführen, die dem Worte des Fürsten keine Differenz, sondern nur ein Echo folgen lässt. Wilhelm von Humboldt, ein preußischer Minister, der schon am Anfang dieses Jahrhunderts die Wohlfahrt der Krone im selfgovernement des Volks erkannte, sagt in einem Briefe an Georg Förster: „Auf der gegenwärtigen Stufe der Kultur sind alle Einrichtungen, welche die eigenen Entwicklungen der Individuen hindern, schädlicher als jemals. Die vorteilhafteste Lage für den Bürger scheint mir die, in welcher er durch soviel Bande als möglich mit seinen Mitbürgern verschlungen, aber durch so wenige als möglich von der Regierung gefesselt wäre."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Daheim und Draußen: bunte Bilder