Dämon Durst. Ein afrikanisches Erlebnis

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Dr. P. Vageler, Erscheinungsjahr: 1926
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Afrika, Wasser, Durst, Fluss, See, Regen, Gewitter, Regenzeit, Trockenzeit, Trockenheit, Dürre, Verdursten, Wasservorrat, Bach, Tümpel, Wasserfall, Wolken, Rinnsal, Tropfen, Nass
Wo in den großen Wüstengebieten der Erde während des ganzen Jahres eine weißglühende Sonne auf Sand und nackte Felsen sengt, wo nur wenige weit entfernte Wasserstellen, einzig dem Landesbewohner bekannt, durch windverwehte Karawanenspuren miteinander verknüpft sind, an denen als Wegweiser die Gerippe umgekommener Lasttiere und oft genug auch Menschen bleichen, dort ist das Reich des Durstes, eines der schlimmsten Dämonen, die den Reisenden bedrohen.

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Wohl jeder hat einmal von einer der zahlreichen Tragödien gehört, denen oft ganze Karawanen in den Wüsten zum Opfer fallen. So hat sich die Meinung verbreitet, dass nur die Wüste das Reich des Durstes ist und dass in den anderen Gegenden der Tropen und Subtropen eine derartige Gefahr nicht, oder doch in geringerem Maße besteht. Passt doch die Vorstellung einer wildreichen Steppe, des tropischen Busches und Buschwaldes mit seinem in wilder Fülle sprießenden Pflanzenleben so ganz und gar nicht zu dem Begriff der Wasserlosigkeit. Und doch ist auch hier die Gefahr des Verdurstens groß genug. Denn auch Steppe und Busch sind außerhalb der Regenzeiten arm an Wasser. Ihre Flüsse und Bäche sind Saisongewässer, die nur während und kurz nach der Regenzeit mit Sicherheit fließendes Wasser führen, das sich bald auf einige wenige Tümpel beschränkt, die oft ebenso weit voneinander liegen wie die Wasserstellen der Wüsten und nicht weniger schwierig zu finden sind als diese. Denn während die Wasserstellen der Wüste im Großen und Ganzen nur durch gelegentliche Karawanen und die natürliche Verdunstung eine langsame Verminderung erfahren, können die des Busches und der Steppe oft in wenigen Tagen, ja von heute auf morgen verschwunden sein, wenn es einem besonders starken Wildrudel gefallen hat, hier seinen Früh- oder Abendtrunk einzunehmen, oder wenn es, durch gute Äsung verlockt, sich gar tagelang in der Nachbarschaft aufhält.

Wer einmal durch einen solchen Zufall in Bedrängnis gekommen ist, trägt Vorsorge, stets durch Mitführung von kleinen, ein bis zwei Tage ausreichenden Wassermengen auf eine derartige Möglichkeit gerüstet zu sein. Sie tritt zum Beispiel in den Riesensteppen des Somalilandes öfter ein, als man glauben sollte. Oft genug bin ich mit meiner Karawane, wenn nicht nur die erste, sondern auch die zweite und dritte „sichere“ Wasserstelle verschwunden war, trotz aller Voraussicht doch vom Durst gepeinigt endlich am rettenden Nass angelangt. Einmal aber, an einer Stelle, wo sogar die eingeborenen Landeskinder es nicht für möglich hielten, standen mehr als dreihundert Menschen in Gefahr, zu verschmachten. Nur durch einen Zufall, der von einem Wunder nicht weit entfernt war, entrannen schließlich doch alle dem Tod durch Verdursten.

Im Jahre 1913 hatte ich den Auftrag, für das Gouvernement von Deutschostafrika die Möglichkeit einer Bahn vom Viktoriasee zum Kilimandjaro, insbesondere das Gebiet der zwischen See und Berg liegenden Serengetisteppe an der englischen Grenze des Schutzgebietes zu erkunden, deren Inneres damals so gut wie gar nicht bekannt war. Wohl waren Reisende schon verschiedentlich in dieses ungeheure, mehr als fünfzigtausend Quadratkilometer bedeckende Steppenland, das zu den reichsten Wildparadiesen der Erde gehört, einen oder zwei Tagemärsche weit vom Rande aus eingedrungen, aber das eigentliche Innere kannte kein Mensch, außer vielleicht den schweifenden Wanderobojägern, die als ostafrikanische Vertreter der nomadischen Buschleute dieses Grasmeer bewohnen, scheu und flüchtig wie das Wild, dem sie folgen.

Eine Durchquerung des Herzens der Steppe war also, was die Möglichkeit der Wasserversorgung anbelangt, eine Fahrt ins Ungewisse. Wohl ließ der märchenhafte Wildreichtum der Serengeti vermuten, dass irgendwo im Innern große Wasserstellen vorhanden sein mussten. Aber die Aussicht, diese Stellen im Grasmeer zu finden, war ungefähr gleich Null und konnte als besonderer Glücksfall bei der Vorbereitung der Expedition nicht in Anrechnung gebracht werden.

Da meine Reise auf den Höhepunkt der Trockenzeit fiel, viele Wochen nach dem Ende der letzten Regen, musste ich trotz des großen dadurch erforderlich werdenden Trägerapparates mit einer Durststrecke von wenigstens zehn Tagen rechnen. Obwohl ich die zweihundert Wasserträger eigentlich erst vom Steppenrande ab brauchte, musste ich sie doch, da das Umland der Serengeti diese Menge Träger auf keinen Fall liefern konnte, schon von Muansa am Viktoriasee mitnehmen, sehr zur Freude der regulären Träger, die von dieser einstweiligen Hilfsmannschaft mit Begeisterung Gebrauch machten, die geduldigen Hilfstruppen ausgiebig beluden, so dass sich für sie selbst der Marsch bis zur Steppe zu einem wahren Genuss gestaltete. Denn vegetabilische Verpflegung hatten wir reichlich mit, und Fleisch, „Nyama“, den Traum aller Schwarzen, lieferte täglich die Büchse. Das von uns durchzogene Mealagetital wimmelt von Hochwild aller Art, und wenn man nur das Tier vor dem Verenden rituell geschächtet hatte, war es meinen schwarzen Helden gleichgültig, ob sie Fleisch vom Büffel, Gnu, Zebra oder einer großen Antilope nach oberflächlichem Rösten versspeisten.

So wähnten wir uns alle in der gefürchteten Serengeti wie im irdischen Paradies. Meine Schwarzen waren begeistert über die Fleischversorgung, und als wir nach vier Tagen einen kleinen See mit Süßwasser entdeckten und so einen Rasttag bei vollen Fleischtöpfen einschalten konnten, fand der Jubel keine Grenzen. Jetzt konnten sie ordentlich schwelgen, ohne die unangenehme Aussicht, am nächsten Morgen einige dreißig Kilometer mit drückender Last marschieren zu müssen. Mein eigenes Entzücken entsprang anderen Motiven. Ein großartiges Bild bietet in ihrer majestätischen Einförmigkeit und Endlosigkeit jede große Steppe, aber nur sehr wenige können sich in dieser Hinsicht mit der Serengeti messen. Wenn nach kalter Nacht morgens das steigende Tagesgestirn das betaute Grasmeer in einen mit Diamanten durchwirkten Teppich wandelt, belebt von nach Hunderten und Tausenden von Stücken zählenden Wildrudeln, die uns ebenso wenig zu fürchten schienen wie die bald nahe, bald ferne dumpf brüllenden zahlreichen Löwen, die oft genug mitten zwischen den Rudeln passierten; wenn abends das Gelb der Riesensteppe zum Blutmeerwurde, aus dem das immer näher rückende Hochland der Riesenkrater im Osten mit violetten und blauen Tinten träumerisch im Nachthimmel verdämmerte, wie eine ferne Märcheninsel, dann war die Serengeti schöner, als die kühnste Phantasie es sich erträumen kann.

So überkam mich am zwölften Tage des Marsches ein leises Bedauern, als wir in etwa vier Stunden Entfernung den charakteristischen Vulkankegel des Oldoinjo Lengai vor uns auftauchen sahen, dessen Rauchfahne die große Wasserstelle Mito miwili am Südende des Natronsees und damit das Ende des Steppenmarsches bezeichnete.

Ein schnell abgehaltener Kriegsrat mit meinen angeblichen Landeskennern bestimmte mich, die Marschrichtung direkt auf den Vulkan zu zu nehmen, südlich von einer langgestreckten, wildzerklüfteten Berggruppe, die sich linkerhand vor uns auftürmte. Wozu Umwege machen? Der Berg und damit der Fluss waren ja gar nicht zu verfehlen. Höchstens noch vier Stunden leichten Marsches in gangbarem Gelände. Ein einfacher Spaziergang!

Gemütlich zog ich der lärmenden Karawane voran. Ein kapitaler Nashornbulle kreuzte in einigen hundert Metern Entfernung meinen Weg. Das war ein letzter, begehrenswerter Gruß des Wildparadieses, das ich vielleicht nie wieder betreten würde. So wich ich denn, das Ziel scheinbar vor Augen, von meinem Grundsatz ab, unterwegs nie Wild zu schießen, um den Marsch nicht aufzuhalten. Nach kurzer Verfolgung war der Riese zur Strecke. Rasch entwickelte sich ein fröhlicher Extraschmaus, dem unsere ganzen Wasservorräte zum Opfer fielen. Denn ob wir die wenigen Stunden am Vor- oder Nachmittage machten, erschien ganz gleichgültig. Und wozu sollten die Leute weiter das abgestandene Wasser mitschleppen, wenn dort der große Fluss mit seinen frischen Fluten winkte? Diesmal waren wir dem Dämon Durst der Serengeti entronnen. So dachten wir, während er die Hand zum tödlichen Griffe nach uns ausstreckte.

Nach drei Stunden leichten Marsches begann ein dumpfes Brauen die Luft zu füllen. Das konnte, wie meine Leute behaupteten, nur der Fall des in den Natronsee stürzenden Flusses sein. Wenn wir nur erst da wären! Es war doch weiter, als wir dachten. Also beschleunigtes Tempo!

Trotzdem standen wir erst bei Sonnenuntergang am Fall, das heißt hoch über ihm am Rande eines etwa dreihundert Meter tiefen Canons mit steilen Wänden, in dessen Tiefe rechts der Fluss dahintoste, während sich die Wände wie eine ungebrochene lückenlose Mauer am See entlangzogen, dessen Salzdecke im Licht der sinkenden Sonne in einem zarten rosa Schimmer erstrahlte.

Von einer Abstiegsmöglichkeit war keine Spur zu sehen. Bei sinkender Nacht war es zwecklos, danach zu suchen. Aber morgen würden wir schnell einen Weg finden, wenn es auch schmerzlich war, auf das ersehnte Abendbad zu verzichten. So schlugen wir denn leise enttäuscht unmittelbar über dem tobenden Fall das Lager auf.

Es wäre schwierig gewesen, den Abstieg mit der ganzen Karawane zu suchen. Sobald wir einen „Weg“ hatten, mussten wir in spätestens einer Stunde unten sein. So sandte ich denn am nächsten Morgen nach allen Seiten kleine Erkundungstrupps aus, um nach einer guten Abstiegsmöglichkeit zu fahnden, und machte mich auch selbst auf den Weg.

Wie brannte in diesem rings von Höhen umgebenen Kessel die Sonne schon am frühen Morgen! Wie aus einer Esse stieg die Hitze von den flimmernden Salzflächen des Sees auf. Kein Lüftchen rührte sich, und bald klebte die Zunge am Gaumen. Aber dort unten donnerte ja der Fall, und von allen Seiten sah man das Wild zur Tränke ziehen. Nur schnell nach dem Abstieg gesucht, und alle Unbequemlichkeit war überstanden.

Doch Stunde um Stunde des Suchens verging. An versschiedenen Stellen war es wohl möglich, einhundert, auch zweihundert Meter zum Seetkessel abzusteigen, aber dann sperrte immer wieder ein steiler Abbruch der Felsmauer den weiteren Weg. Gegen Mittag zwang mich ein tiefer zugangsloser Cañon, umzukehren. Schweren Herzens, aber doch immer noch mit der leisen Hoffnung, dass meine Kundschafter auf der anderen Seite glücklicher gewesen sein könnten, trat ich den Rückzug an.

Aber die Hoffnung zerrann bei der Rückkehr ins Lager schnell. Schon von weitem kamen mir die Leute ängstlich entgegengelaufen mit der Frage, ob wir einen Weg gefunden hätten. Die anderen wären zurückgekehrt! Und alle litten schweren Durst!

Das Brausen des Falles unter uns begann höhnisch zu klingen. Schon begann der Durst bei uns allen sich quälend fühlbar zu machen. Unerträglich war die Hitze. Wie hypnotisiert starrten wir auf das wirbelnde Wasser. Nein, morgen musste der Abstieg gefunden werden, denn die uns bekannte letzte Wasserstelle lag fünf Tagemärsche hinter uns, die wir auch ohne Lasten nicht mehr schaffen konnten. Und weit nach Norden hinter dem schwarz drohenden Bergstock herum einen Abstieg tagelang zu suchen, während hier vor uns das Wasser schäumte? Nein, das konnten wir nicht!

Nur ein kleines Häuflein Getreuer war es noch, dass mich am nächsten Morgen nach qualvoller Nacht erneut auf der Suche begleitete. Der Mehrzahl der Schwarzen hatte sich bereits die den „N-Wort“ so leicht erfassende Apathie bemächtigt, die in Gefahrmomenten zuweilen ihre größte Stärke, meistens ihr Verderben ist. Gottes Wille geschehe, warum sich sträuben?

Die Stunden fieberhafter Suche schienen sich zu dehnen. Wieder standen wir resultatlos am zweiten Cañon. Als einzige Rettung blieb der Versuch, in diesem einen Einstieg zu finden und so den Weg zum Wasser zu forcieren. Schon hatte die Sonne die Mittagshöhe passiert, da fanden wir eine wenn auch halsbrecherische Möglichkeit und gelangten nach unten. Von Wasser keine Spur, aber der Weg zum See schien frei.

Jetzt galt es, den Rest der Leute trotz ihrer Ermattung bis zum Abend hierherzuholen, und dann in der Nacht oder am nächsten Morgen gelangten wir - vielleicht – zum Wasser.

Wie wir zum Lager gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Noch weniger, wie wir dann alle zusammen den qualvollen Weg zum Cañon wieder zurücklegten. Geblieben ist nur ein unklares Erinnern an maßlose Strapazen. Fast dreihundert röchelnde, stöhnende Menschen, in langgezogener Reihe ohne Lasten einem Ziele zu taumelnd, bis auf einen, den das brausende Wasser in der Tiefe so lockte, dass er mit gellendem Schrei in den gähnenden Abgrund des Falles sprang, als ich ihn zum Verlassen des Lagers bewegen wollte.

Aber das Leben ist zäh! Wir kamen zum Cañon, kamen auf seinen Grund, kamen abwärts, bis die Dunkelheit und tödliche Erschlaffung uns zur Rast zwang. Unter Höllenqualen und Fieberphantasien verging die Nacht. Sobald das dämmernde Licht es zuließ, taumelten wir weiter. Wir stolperten über Felsengeröll, rutschten trockene Katarakte hinab, zerstoßen, zerrissen, rücksichtslos, weiter, weiter. Dort öffnete sich ja der Cañon schon zum See! Dort war das Wasser . . . die Rettung!

Ich weiß nicht, ob ich selbst das fürchterliche Lachen ausstieß, das mir noch heute in den Ohren klingt, oder ob, wie es mir damals schien, der Dämon es lachte, als ich schließlich an der Mündung des Cañons in den See stand. Da war das rettende Wasser, ein kleiner Teich, von Seerosen überblüht, buschumrahmt, kaum noch fünfzig Meter entfernt . . . und doch unerreichbar! Denn diese fünfzig Meter waren senkrechte Felswand, über die zur Regenzeit der Fluss in einem letzten Fall in den Natronsee sich ergoss!

Die Stunden, die dann im sonnendurchglühten Cañon zwischen den himmelhohen Wänden folgten, vermag ich nicht mehr zu schildern. Phantastische Bilder ließen auf Sekunden die namenlose Qual des Durstes vergessen, das Stöhnen der Sterbenden ringsum überhören. Ein angenehmes Gefühl der Frische peitschte schließlich die schwindenden Lebensgeister wieder auf. Noch einmal der Sinne mächtig, blickte ich um mich. Der Cañon lag im tiefen Schatten, es musste also wohl gegen Abend sein. Die letzte Nacht brach herein, die aller Voraussicht nach nur wenige von uns überleben würden.

Doch was war das? War das wirklich ein Blitz aus dunkler naher Wolkenwand? War es Traum, Fieberphantasie bei offenen Augen, oder rollte da wirklich lauter Donner? Und dieses kühle Nass da auf der Hand, war das Regen, Wasser? Wasser, was da auf den Felsen in den Rillen sich sammelte? Wie verdurstende wilde Tiere leckten es die Leute, um jeden Tropfen kämpfend. Es war die Rettung, die im Dröhnen des Gewittersturmes jetzt in unsere Hölle sich ergoss, aus kleinen Tümpeln zum Rinnsal wurde, anschwoll zum kleinen Bach, sodass wir trinken konnten, trinken, trinken. Nach einem sechstägigen Marsch kamen wir auf weiten Umwegen zum Fall und bestatteten die Reste des Abgestürzten, die von den Hyänen übriggelassen worden waren.

Wüstenfüchse

Wüstenfüchse

Wildtiere - Ein Nashorn, das den Jäger beobachtet

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Wildtiere - Ein erlegtes Nashorn, neben dem Horn befindet sich die Schusswunde

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Wildtiere - Badende Nashörner im Urwald

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