DIE OKTOBERPOGROME 1905 - I. Gouvernement Bessarabien. Akkerman, Bajramtscha
Gesamtbevölkerung (1897) 28.258, Juden 5.624.
Wie überall in Russland, ist auch hier das politische Parteileben erst ganz neuen Datums. Die fortschrittlichen Organisationen sind allerlei Verfolgungen ausgesetzt, und der Entschluss, einer solchen Organisation beizutreten, muss als Zeichen einer ganz ungewöhnlichen Unerschrockenheit betrachtet werden. Es ist daher begreiflich, dass man in Akkerman im Herbst 1905 nur gegen 100 Anhänger der konstitutionell-demokratischen (Kadetten-) Partei zählte, die vorwiegend Polen, Deutsche und andere Nichtrussen waren. Die Sozialdemokraten verfügten hier über ca. 60 Genossen, darunter etwa ein Viertel Christen. Die Fabrikarbeiter sind hier fast durchweg Analphabeten, so dass nur etwa ein Fünftel von ihnen von der sozialistischen Propaganda beeinflusst war. Sozialrevolutionäre Elemente gab es hier gar nicht.
Was die jüdischen Organisationen betrifft, so bestanden in Akkerman eine Abteilung des Vereins zur Erreichung der Vollberechtigung der Juden und verschiedene zionistische Fraktionen. Der erstgenannte Verein besaß gegen 125 Mitglieder, die zu einem Drittel aus Kommis, zu zwei Dritteln aus Kaufleuten und Akademikern sich rekrutierten. Dieser recht farblose Verein entfaltete nur eine geringe Tätigkeit, was zum Teil auf äußere widrige Verhältnisse zurückzuführen ist.
Im Lager der Zionisten war gerade im Herbst 1905 nach dem siebenten Zionistenkongress eine starke Umwälzung eingetreten.*) Von den früheren vier Gruppen der ,,allgemeinen" Zionisten war nur eine verblieben, die im ganzen etwa 10 bis 15 Mitglieder zählte. Stärker waren die Zionisten-Sozialisten — ca. 40 Mitglieder, die sich aus früheren Territorialisten und Sozialdemokraten zusammensetzten — und die auf dem Boden des historischen Materialismus stehenden Poale-Zionisten palästinensischer Richtung vertreten. Letztere rekrutierten sich aus ehemaligen reinen Zionisten und verfügten über eine Mitgliederzahl von etwa 70 Personen, sie übten jedoch trotz ihrer verhältnismäßigen Stärke und ihrer speziellen Bibliothek auf den allgemeinen Gang des gesellschaftlichen Lebens keinen Einfluss aus und waren hauptsächlich mit innerzionistischer Tätigkeit, mit Verbreitung von Literatur, direkter Anteilnahme an der realen Palästinaarbeit, wozu sie eine größere Anzahl ihrer Mitglieder nach Palästina speziell abzuordnen beabsichtigten, um in ihrem Geiste zu wirken, mit Diskussionen zwecks Erfüllung des Zionismus mit sozialistischen Anschauungen und dergleichen Aufgaben beschäftigt.
*) Wenn schon alle Angaben über die Parteiverhältnisse auf den bestimmten Moment, den Winter 1905/06, sich beziehen und durch neuere Tatsachen ganz modifiziert sind, so gilt es insbesondere bezüglich der Zionisten, die gerade um jene Zeit eine schwere Krisis durchmachten und seitdem sich wieder emporgearbeitet haben. Wenn trotzdem die überholten Angaben angeführt werden, so geschieht es einzig zu dem Zwecke, die damaligen Gruppierungen in der Gesellschaft und ihren etwaigen Einfluss auf die verschiedenen Pogrommomente zu beleuchten. Anm. der Red.
Reaktionäre Organisationen gab es in Akkerman vor dem Pogrom nicht. Erst im Januar 1906 wird hier ein ,,Verband des russischen Volkes" gegründet und gelangt nach der Ankunft des berüchtigten Purischkewitsch, der als Vorsitzender dieses Verbandes fungiert, zur Blüte. Trotzdem dieser Verband während des Pogroms noch nicht bestand, waren doch einige Mitglieder desselben bereits damals im Sinne des Verbandes tätig. An der Spitze dieser Organisation standen Im Winter 1906 neben Purischkewitsch der Rektor und Lehrer der Bürgerschule, zwei orthodoxe Pfarrer, der Bürgermeister Bjelikowitz, der Hausbesitzer und Stadtverordnete Gaidukow, der Haus- und Gärtnereibesitzer Dmitriew. Die übrigen Mitglieder des Verbandes rekrutierten sich aus der Hefe der Gesellschaft. Die Anzahl der Mitglieder wird verschieden angegeben. Man sprach von 3.000, ja sogar von 14.000, sie dürfte aber in Wirklichkeit kaum 300 übersteigen. Der Verband besaß ein eigenes Teehaus; jeden Sonntag kamen die Mitglieder zusammen, hielten Gottesdienst ab, sangen patriotische Lieder und wetterten in den heftigsten Reden gegen Juden und Andersdenkende. In einem uns vorliegenden Aufruf verlangt der Vorsitzende, dass die Mitglieder des Verbandes nur beieinander kaufen, nur einander anstellen usw. Der Verband hat eine eigene Lederhandlung eröffnet und hat es verstanden, den Juden, die ohnehin nach dem Pogrom ruiniert sind, großen ökonomischen Schaden zuzufügen.
Verschiedene Behörden leisteten dem Verband Vorschub, indem sie ihm Räumlichkeiten, Orchester, ja sogar Beamte zur Verfügung stellten.
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Bereits 1865 hatte in Akkerman zur Osterzeit ein geringfügiger Pogrom stattgefunden. Aber erst nach den Kischinewer Schrecken bemächtigte sich der jüdischen Bevölkerung ein Gefühl der Unsicherheit und Unruhe. Besorgniserregend war die Erbitterung der russischen Ladenbesitzer, die es der jüdischen Jugend nicht verzeihen konnten, dass sie für die Regelung und Verkürzung des Arbeitstages eingetreten war.
Am 18. Oktober gelangten die Wellen des russischen Generalstreiks auch nach Akkerman. Es streikten das Gymnasium, die Bürger- und Mädchenschule. Man versuchte die Straßenbahn anzuhalten und die Arbeiter zum Verlassen der Werkstätten zu bewegen. Einem Reservisten wurden die Epauletten unter Pereatrufen auf den Absolutismus heruntergerissen. Am Morgen des 18. Oktober wurde von den für die Freiheit kämpfenden Parteien eine Straßendemonstration mit freiheitlichen Reden veranstaltet, wogegen Versammlungen nicht abgehalten wurden. Die Straßendemonstration verlief nicht ganz ohne Missklang; die Kutscher der Straßenbahn begaben sich nach Schluss der Kundgebung zur Polizei, wo sie mit Knütteln versehen wurden, die sie nachher zum Hauen der Juden benutzten.
Erst am 22. Oktober wurde von den reaktionären Elementen eine Kontremanifestation veranstaltet. An der Spitze des Zuges, an dem etwa 1000 Mann teilnahmen, gingen Mitglieder der erzreaktionären Stadtverordnetenversammlung. Der Bürgermeister hielt vor den zurückgekehrten Manifestanten vom Balkon herab eine Ansprache und riet ihnen, die Straßen, in denen sie noch nicht gewesen wären, zu passieren. Dieser Vorschlag rief lebhafte Missbilligung vieler Stadtverordneten hervor. In der Tat führte dieser zweite Umzug unmittelbar zum Pogrom in den Vororten. Der Versuch, die Menge zur Rückkehr zu bewegen, misslang natürlich. Das Militär beschränkte sich darauf, das aus dem Rathause zur Manifestation herausgegebene kaiserliche Porträt der Menge abzunehmen.
Bereits einige Tage vor dieser „patriotischen" Manifestation war der Pogrom eine beschlossene Sache. In einem Wirtshause, das bezeichnenderweise später zum Teehaus des Verbandes des russischen Volkes und dann zum Wahlbüro des Purischkewitsch avancierte, versammelten sich allerlei verdächtige Elemente und besprachen die Einzelheiten des Pogroms. Am Freitag, den 21. Oktober, kamen auffallend viele Bauern aus zum Teil sehr weit — 5 bis 6 Meilen — entfernten Dörfern nach der Stadt. Man scheint diese Dörfer von den bevorstehenden Ereignissen in Kenntnis gesetzt zu haben.
Da weder die Polizei noch die Militärbehörden noch die Stadtverwaltung, denen doch all diese Zeichen nicht entgangen sein konnten, etwas zur Beseitigung der Gefahr taten, musste die Bevölkerung Maßregeln der Selbstwehr ergreifen. Schon Anfang 1905 hatten die Zionisten eine Selbstwehrorganisation begründet, der sich später auch Anhänger anderer Parteien anschlössen, und die auch trotz feindseliger Haltung seitens der wohlhabenden Juden richtig funktionierte. Sie bestand aus 200 meist jungen Leuten: älteren Gymnasiasten, Kommis, Handwerkern. Unter den der Organisation beigetretenen 20 Nichtjuden befanden sich etwa 5 Arbeiter und 15 Gymnasiasten. An der Spitze einer Abteilung der Organisation stand sogar ein getaufter Jude, ein Arzt. Die Organisation besaß 20 Gewehre, 70 Pistolen, 2 Dolche und 60 Peitschen. Einige Mitglieder trugen Schwefelsäure bei sich. Die Polizei war von dem Vorhandensein der Selbstwehr unterrichtet. Sie hatte nur die Mitglieder ersucht, keine Bomben zu gebrauchen, da man in den schmalen Straßen gar zu leicht die Häuser beschädigen könnte. Doch war diese Befürchtung ganz grundlos, da die Selbstwehr keine Bomben besaß.
Andererseits hatte sich ein Teil der Notabeln der Stadt, darunter der Staatsanwalt, ein Notar, ein Bezirksgerichtsrat, ein Offizier der Grenzwache, einige Mitglieder der Stadtverwaltung, zusammengetan und ein Komitee der öffentlichen Sicherheit gebildet. Neben einigen Russen bestand dieses Komitee aus Polen, Deutschen, Armeniern und auch Juden, meist angesehenen und wohlhabenden Leuten, die bei ihrem Vorhaben wohl auch ihre persönliche Sicherheit im Auge gehabt hatten. Das Komitee tagte fast permanent. Es erließ einen Aufruf, der der Bevölkerung ans Herz legte, sich friedlich und liebevoll gegeneinander zu betragen. Die Mitglieder des Komitees versuchten auch persönlich auf die Arbeiter in diesem Sinne einzuwirken und machten ihren Einfluss bei den Behörden geltend, um sie zu bestimmten Maßregeln zu bewegen. Dieser Versuch scheiterte an der festen antisemitischen Haltung des Bürgermeisters.
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Der Pogrom begann unmittelbar nach der oben erwähnten patriotischen Manifestation in den Vororten Popuschoi, Kriwda, Turliki und Kamenni Most, die alle eine lange Straße bilden. Während mehrerer Stunden haben die dort wohnenden russischen Tagelöhner ihre meist blutarmen jüdischen Nachbarn geplündert. Gegen 6 Uhr kam ein Teil dieser Plünderer, etwa 800 an der Zahl, nach der Stadt, wo sich ihnen die in der Stadt wohnenden Christen anschließen. Hier wurde nun bis 12 Uhr nachts weiter gemordet und geplündert. Was nicht mitgenommen oder auf andere Weise vernichtet werden konnte, wurde in Brand gesteckt. Am nächsten Tage kamen in Booten aus dem an der entgegengesetzten Seite des Haffs liegenden Orte Kalarlei weitere Plünderer und setzten die grausige Arbeit fort.
Die Bestialität der Plünderer wurde noch durch ihre Trunkenheit gesteigert. Etwa 1.000 Fässer mit Wein wurden an diesem Tage zertrümmert. so dass der Wein die Keller überschwemmte und auf den Straßen floss. Noch einige Tage später konnte man sehen, wie sich die Bauern bückten und aus Weinpfützen tranken. — Im Hause des reichen Juden G. veranstalteten die Plünderer ein Tanzvergnügen. Man tat sich an den Wein- und Konservenvorräten gütlich und tanzte nach den Klängen des Klaviers, das danach in Trümmer zerschlagen wurde. Ebenso wurden die Spiegel, Lampen und schweren Möbelstücke zertrümmert. Transportable Sachen, Kleider und Wäsche wurden mitgenommen.
L., der Besitzer eines großen Galanteriewarengeschäfts, konnte von der Straße her sehen, wie seine Waren in Körbe gepackt und weggeschleppt wurden. Er ergriff einen dieser Körbe und lief damit fort, war aber bald gezwungen, den Korb fallen zu lassen, und flüchtete um sein Leben zu retten, in die nächste Apotheke. Von dort sah er, wie sein Laden in Brand gesteckt wurde. Im Keller unter diesem Laden waren die schwangere Frau des L. und seine Tochter versteckt. Der tief erschütterte L. brach plötzlich in ein wahnsinniges Lachen aus, das er lange nicht zu unterdrücken vermochte. Er wurde in der nächsten Sanitätswache zur Besinnung gebracht, in der auch andere Opfer des Pogroms Zuflucht, Pflege und medizinische Hilfe fanden.
Hier wirkte auch Frl. Fanny Sch. Trotzdem die Wache oft vom Feuer stark bedroht war, sprach Frl. Sch. den Männern Mut zu, pflegte die kranken Frauen und hielt sich selbst tapfer und zuversichtlich. Als die Plünderer ganz nahe am Hause waren, sagte sie zu den Männern, die den Hof besetzt hatten: ,,Denkt daran, dass sich im Keller Frauen und Kinder befinden, sie können ersticken." Nach einigen Minuten fand man sie tot. In der Befürchtung, geschändet zu werden, hatte sie sich mit Schwefelsäure vergiftet.
Es ist begreiflich, dass den Plünderern Scheu vor (Gotteshäusern und Friedhöfen ganz fern lag. In einem Vorort wurde eine Synagoge in Brand gesteckt, wobei vier Thorarollen verbrannten. Ein jüdischer Friedhofswächter wurde von den Plünderern schwer verwundet und seine Bude demoliert. Ein frisches Grab wurde geöffnet und die Kinderleiche, die darin lag, herausgeschmissen. Man nimmt an, dass die Plünderer eine Zeitlang die geplünderten Kostbarkeiten in diesem Grabe versteckt hielten.
In der Nacht versuchten einige hundert Juden mit Frauen und kleinen Kindern aus der Stadt zu fliehen. Sie gingen durch Felder, Gärten, Gesträuch und Gräben und mieden die Straßen, auf denen die Bauern die geraubten Waren entführten. Die von Furcht gelähmten Kinder klagten und weinten nicht. In acht bis zehn Dörfern, die sie passierten, erlaubte man ihnen nicht zu übernachten. Viele wurden unterwegs geschlagen und beraubt. Zuflucht fanden sie erst in einer deutschen Kolonie.
Die Zahl der getöteten Juden beträgt acht. Schwer verwundet sind ebenso viele. Verbrannt und ausgeraubt sind 55 hölzerne Läden, 25 größere Geschäfte, 20 Wohnungen. Geplündert wurden 888 Familien mit 1.749 Personen. Die Verluste werden auf 900.000 Rubel geschätzt.
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Das Gros der Plünderer bestand aus Bauern, Tagelöhnern, Kleinbürgern und Handwerkern, die meist die Läden plünderten, die ihre Erzeugnisse feilboten. Dieser Gesellschaft schlossen sich auch einige Schutzleute und sogar ein Pristawgehilfe an, die in Uniform zusammen mit dem übrigen Gesindel plünderten. An dem Werk beteiligten sich arme wie wohlhabende Leute in gleicher Weise. Man sagte später aus: ,,Nur wer geschlafen hat, der hat nicht geplündert; wer aber auf war, der nahm, was er konnte."
Organisiert wurde der Pogrom von dem Dompfarrer, einem Lehrer der Bürgerschule, namentlich aber von aus Odessa und Charkow angelangten verdächtigen Personen. *) Es wurde nach einem bestimmten, wohl durchdachten Plane vorgegangen. Die verschiedenen Abteilungen der Plünderer kollidierten nicht miteinander, handelten stets in gleicher Weise und wurden von ihren Anführern in gleicher Weise unter Anwendung derselben Signale kommandiert. Sie trugen Vorräte von Brennmateralien, die sie in ausgiebigster Weise bei den Brandstiftungen verwendeten, bei sich.
Das Verhalten der Behörden war recht bezeichnend. Dass Schutzleute und ein Pristawgehilfe an den Plünderungen selbst teilgenommen haben, wurde bereits erwähnt. Die Frau eines Pristaws streute das Gerücht aus, die Juden hätten den Dom in Brand gesetzt, und fachte dadurch den Pogrom, der schon im Erlöschenbegriffen war, von neuem an. Der Polizeimeister, der übrigens bald darauf abgesetzt wurde, schien den Wunsch zu haben, den Plünderern energisch entgegenzutreten. Er erhielt aber ein chiffriertes Telegramm unbekannt gebliebenen Inhalts vom Gouverneur. Danach wurde er ganz untätig und blieb es trotz der Anfeuerungen seitens des — polnischen — Staatsanwaltsgehilfen. Er sah ruhig zu, wie das Militär, anstatt den Plünderern den Weg zu sperren, Spalier bildete und die Menge ruhig passieren Ließ. Er beachtete auch scheinbar nicht, dass die verfügbaren 50 Schutzleute auf ihren Posten fehlten. Aktiv war das Militär nur gegen die jüdische Selbstwehr: während es auf die Plünderer blind schoss, feuerte es gegen die Selbstwehr scharf. — Gegen 11 Uhr abends stieß eine Abteilung Soldaten auf einen Haufen fliehender Juden. „Wer da?" Schüchterne Antwort: „Juden." „Auch ein Christ dabei", ergänzte jemand aus dem Haufen. „Russen, sondert euch von den Juden ab!" Nichts Gutes ahnend, ergreifen die Juden die Flucht: Darauf ertönt das Kommando: „Feuer!" Eine Salve kracht, zwei Juden fallen tot hin und drei sind schwer verwundet. Andere werden von den Kugeln gestreift.
Dieses Verhalten der Polizei und des Militärs war für die Juden völlig unerwartet. So wenig man von der reaktionären Stadtverwaltung erwarten konnte, so hatte man doch andererseits naiverweise gehofft, dass die Polizei und das Militär einigermaßen ihre Pflicht tun und die Juden vor äußersten Gewalttätigkeiten schützen würden. Man hatte es deshalb auch nicht für nötig befunden, zu den üblichen Einwirkungsmitteln zu greifen. Erst am 23. wandte man sich an den Hauptmann der Kompanie. Ob der Pogrom deshalb bald danach erstickt wurde, bleibt dahingestellt.
*) Ein Beamter der Rentei, dessen Namen wir hier nicht anfahren wollen, behauptet, der Pogrom in Kischinew und Akkermann sei von dem Gendarmerierittmeister Wassiliew gegen ein Entgeld von 20.000 Rubel organisiert (s. Kischinew).
Tatsache ist, dass das Militär nun gegen die immer kühner gewordene Menge, die zum Teil gut — auch mit Gewehren — bewaffnet war, energischer vorzugehen anfing. Erst als einige der Plünderer durch die Schüsse der Soldaten getötet wurden, sah die Menge ein, dass es Ernst wurde, und lief rasch auseinander.
Wie weit die Selbstwehr zur Erstickung des Pogroms beigetragen hat, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Sie war entschieden gut organisiert und erträglich bewaffnet, sie sollte nach einem vorher ausgearbeiteten Plan in bestimmter Weise vorgehen. Es gab fliegende Sanitätsabteilungen, und auch ein Kundschafterdienst war eingerichtet, der seine Aufgabe gut erfüllte. Ungünstig wirkte die mangelhafte Übung im Gebrauch der Feuerwaffen. So wurden drei Mitglieder der Selbstwehr durch eigene Genossen verwundet. Immerhin hätte die Selbstwehr ihre Aufgabe sicher und gut erfüllt, wenn das Militär sie nicht daran gehindert hätte. Die Plünderer wurden zwar durch die Selbstwehr erbittert, verschwanden aber überall da, wo die Selbstwehr auftauchte, falls das Militär nicht zugegen war. Immerhin gelang es der Selbstwehr, ganze Straßen zu schützen und eine gefährdete Synagoge zu retten.
Auf eigene Faust leisteten nur wenige Juden Widerstand. Ein Jude, der seine Wohnung verteidigen wollte, wurde getötet.
Was das Verhalten der am Pogrom nicht beteiligten christlichen Bevölkerung anbetrifft, so äußerte es sich in recht verschiedenen und sehr differierenden Handlungen. Fast überall schützten sich die Christen vor den Plünderern dadurch, dass sie die Häuser durch Kreuze, Heiligenbilder usw. als christliche zeichneten. Viele Häuser waren auch während der ganzen Dauer des Pogroms mit Fahnen geschmückt. Andererseits gingen in einer Straße die Nachbarn die ganze Nacht herum und suchten durch Bitten auf die Exzedenten einzuwirken, dass sie die Juden nicht plündern möchten. Vielfach wurden Juden, die um ein Asyl nachsuchten, schroff zurückgewiesen. In manchen Familien mag hier wohl die Furcht für die eigene Sicherheit mitgespielt haben, da auch verschiedene intelligente Russen es für nötig hielten, sich zu verstecken. Andererseits gab es in vielen Fällen eine gute Aufnahme der Schutzsuchenden. In einem Hause fanden 50 jüdische Familien Zuflucht, und der Wirt sorgte für ihre Nahrung. Interessant ist, dass dieser Mann früher notorischer Antisemit gewesen war. Sein von dem Marinedienst zurückgekehrter Sohn hatte ihm die Lage der Dinge geschildert und ihn umgestimmt. Auch ausgesprochene Judenfeinde, ja selbst einige Plünderer nahmen in ihre Wohnungen Juden auf, was sie nicht hinderte, ihre Schützlinge zu verhöhnen.
Die nichtrussische christliche Bevölkerung verhielt sich meist passiv. Die Armenier fürchteten für ihre eigene Sicherheit. Die Deutschen waren mutiger und hilfreicher. Zu bemerken ist jedoch, dass ein Armenier Aswadurow, der auch an der Selbstwehr teilgenommen hatte, den Opfern des Pogroms seine Wohnung von zwölf Zimmern für den ganzen Winter zur Verfügung stellte.**)
**) Auch die Landschaft und die Schulen nahmen bereitwillig: die obdachlosen Juden in ihre Räume auf. Besonders tat sich dabei die Landschaft, wohl auf Veranlassung: gewisser Gesellschaftskreise, hervor.
Schändlich war das Verhalten der russischen Geistlichkeit. Nicht genug, dass kein Priester es für nötig gefunden hatte, den Plünderern entgegenzutreten, hatte der Dompfarrer Kaptarenko am 21. Oktober sogar seine Pfarrkinder in der Kirche aufgefordert, die Juden zu schlagen.
Bajramtscha
Obwohl ziemlich entfernt von Kischinew gelegen, befindet sich Bajramtscha doch in der Einflusssphäre dieser in Bezug auf aktiven Antisemitismus und Pogrome maßgebenden Stadt. Zwar fanden zwischen den Juden und den Christen keine Reibungen statt, die zur Entstehung von Pogromgelüsten Anlass bieten könnten, aber unter den Christen war immer eine Pogromstimmung zu bemerken, die durch die Hetzereien von Kruschewan in seinem Blatte ,,Drug", das in ganz Bessarabien verbreitet war, aufgestachelt wurde. Besonders aber stieg die Pogromlust während des russisch-japanischen Krieges. Die Bauern glaubten natürlich dem ausgestreuten Märchen, die Juden hätten den Japanern Millionen gegeben, und drohten mit einer Abrechnung nach dem Krieg. Es ist interessant, dass der Moment des Ausbruchs des Pogroms eigentlich schon seit zwei Jahren bekannt war. Es stand nämlich die Einweihung einer neuen Kirche bevor. Nun wussten Juden und Christen, dass wie durch eine Schicksalsfügung die Einweihung der Kirche zugleich den Anfang des Pogroms bedeuten werde.
Am 19. Oktober fand in Bajramtscha eine politische Demonstration mit roten Fahnen statt, welche merkwürdigerweise von den Zöglingen des dortigen Priesterseminars, die übrigens mit den Stadtbewohnern und den Juden keine Beziehungen hatten, ausging. Der Demonstration schlossen sich auch die Juden an. Am 22. Oktober fand die solange hinausgeschobene Kircheneinweihung statt, wobei die Juden 25 Rubel „zur Bewirtung" spendeten. Und dies war also auch der Moment, an dem der Pogrom beginnen sollte. Vier Tage verstrichen, bis er vollständig inszeniert werden konnte. Die Hooligans wurden organisiert und mit speziell von ortsangesessenen Schmieden angefertigten kleinen Stemmeisen bewaffnet, die Polizeiwache wurde aufgelöst, die Polizeiaufseher verschwanden aus dem Bereich der Auffindbarkeit. Die geängstigten Juden wandten sich an den Pristaw, der ihnen den Rat erteilte, einen „Obchod", eine Art „Selbstwehr", zu bilden, was die Juden im Verein mit mehreren Christen auch taten. Andererseits war ein Urjadnik über die Dörfer herumgereist und hatte die Bauern aufgefordert, nach dem Städtchen zu kommen, da die Juden die Christen hauen.
Am 26. begann der Pogrom, und zwar ganz spontan. Ein Bursche schoss in einer Kneipe auf einen Juden und gab damit das Zeichen zum Ausbruch. Die Hooligans — die Kerntruppe zählte etwa 20 Personen — waren beisammen, stürzten sich auf den Marktplatz und begannen zu plündern. Die Selbstwehr erschien auf der Stelle, und es gelang ihr, eine Anzahl Exzedenten zu verhaften und nach dem Polizeigebäude abzuführen. Aber der wachthabende Polizist gab letzteren eigenhändig ein Brecheisen, mit dem sie sich befreien sollten, so dass sie ungehindert auf den Marktplatz zurückkehren konnten. Durch das Glockengeläute in der Kirche herbeigerufen, versammelten sich rasch Bauern und Hooligans, und es begann die Orgie der Exzesse. Die Selbstwehr wurde bald überwältigt und zurückgeworfen, die russischen Mitglieder, denen allein Waffen zugewiesen waren, verließen nach erfolgter Verwundung eines der Ihrigen schleunigst den Kampfplatz, und die zurückgebliebenen unbewaffneten Juden vermochten natürlich nichts auszurichten. Die Polizei war abwesend, und die Plünderer hatten freie Hand.
Der Pogrom hatte übrigens einen romantischen Anstrich. Die Agitatoren legten sich verschiedene aus dem Kriege bekannte Namen bei. So hieß z. B. einer der Rädelsführer Kuropatkin, der andere Linewitsch usw. Dabei waren sie mit Glöckchen behängen und spielten die Geige zum Pogrom. Die Rufe, die während des Pogroms zu hören waren, passten auch nicht zum Charakter der Bevölkerung. ,,Hurrah, für den weißen Zaren." Das ist ein so moskowitischer Begriff, dass er nur durch die Agitation von außen überhaupt in Bajramtscha eindringen konnte.
Der Pogrom dauerte von 7 Uhr nachmittags bis zu dem nächsten Tage, dem 27. Oktober, um 12 Uhr. Beinahe sämtliche jüdische Läden und Wohnungen wurden ausgeplündert. Zwei Juden wurden unter Martern getötet, fünf schwer verwundet. Nur die Synagoge blieb verschont. Die Hooligans sagten: „Einen Tempel darf man nicht angreifen. Den Rabbiner und die Synagoge darf man nicht berühren." Die Juden flüchteten, aber es gelang ihnen nur selten, bei Christen Zuflucht zu finden, da diese für ihr eigenes Leben fürchteten. Die Hooligans verboten sogar den deutschen Kolonisten unter Todesandrohung, Juden aufzunehmen. Interessant ist das Verhalten der lokalen Geistlichen. Während der eine von ihnen, der Priester der Ortskirche, den Bewohnern häufig Kruschewansche judenhetzerische Proklamationen vorzulesen pflegte, versuchte sein Kollege, der Geistliche des Seminars, auf Bitten der Juden hin mehrmals die Menge zu beschwichtigen, ohne sich allerdings eines Erfolges rühmen zu können.
Der Pogrom hörte von selbst auf, da weder Polizei noch Militär zur Einstellung der Unruhen geschickt wurden. Auf die telegraphische Bitte der Juden um Militär antwortete der Gouverneur von Bessarabien, er habe keines zur Verfügung. Da das Hauptziel des Pogroms offenbar nur die Plünderung war, so war er zu Ende, sobald es nichts mehr zu plündern gab. Der Prozess der Plünderung ging nach dem Muster der anderen Städte vor sich. Bauern kamen mit Wagen, die sie vollbeladen zurückführten. Es ist charakteristisch, dass sogar die Hauptagitatoren mehr auf Raub als auf Mord ausgingen. Als nämlich einer der Führer, ,,Linewitsch", nach getaner Arbeit nach Hause kam, war die erste Frage, die er an seine Frau richtete, ob sie daran gedacht habe, dass man den benachbarten Juden Obdach und Zuflucht gewähren müsse.
Der Pogrom hatte einen fast vollständigen Ruin der Juden im Gefolge gehabt. Der Schaden der betroffenen 115 Familien betrug 200.000 Rubel. Alle Läden waren in Flammen aufgegangen, so dass die jüdische Bevölkerung auf den Hungeretat geriet. Und von da ab weicht die Pogromangst nicht mehr von den Gemütern der Juden, da immer bedrohliche Symptome vorhanden sind und die verheerende Flamme von Stunde zu Stunde auflodern kann.
Russland 000
Russland 010. Petersburg, Der Buddhistentempel
Russland 010. Petersburg, Die große Moschee
Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz
Russland 010. Petersburg. Der Peterspalast im Winter
Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)
Russland 011. Lastfuhrwerke
Russland 011. Schlitten
Russland 012. Petersburg, Die Admiralität, Erbaut von 1727 an, Architekt Sacharow
Russland 012. Petersburg, Die Admiralität
Russland 017. Im Nordrussischen Waldgebiet
Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow
Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk
Russland 018. Wologda, Ikonostas der Kirche Joann Bogoslaw, 16. Jahrhundert
Russland 019. Kem (Archangelsk) Holzkirche, angeblich 17. Jahrhundert
Russland 022. Ein Narr in Christo
Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer
Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer
Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa
Russland 077. Ein Cheder (Judenschule) in Wolhynien
Russland 078. Der Chacham (Oberrabbiner) der Karaiten (jüdische Sekte) leben großenteils auf der Krim
Russland 079. Die Ältesten einer jüdischen Dorfgemeinde in Wolhynien
Russland 079. Jüdischer Dorfladen in Podolien
Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)