Kapitel (Worin eine der drei vom Zivilgesetzbuch vorgesehenen Bedingungen erfüllt wird)
Im Grunde war es nun vielleicht an der Zeit, die von der Algerischen Eisenbahngesellschaft so umsichtig organisierte Reise zu beendigen, die so vielversprechend angefangen hatte und - wenigstens für die Gruppe Dardentor - so schlecht abzulaufen drohte.
Beim Aufbruche von Tlemcen war die Karawane auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Mehrere Touristen hatten es vorgezogen, in dieser Stadt, die es gewiß verdiente, noch einige Tage zu verweilen. Da der Beamte Derivas mit diesen hier zurückblieb, schlugen Herr Dardentor und seine Gesellschaft mit dem Führer Moktani am frühen Morgen des 21. Mai allein die Richtung nach Sidi-bel-Abbès ein.
Auch Herr Eustache Oriental, der es mit der Rückkehr nach Oran eilig zu haben schien, hatte sich angeschlossen. Daß es seine Absicht wäre, einen wissenschaftlichen Bericht über diesen Ausflug abzufassen, hätte Dardentor und die Uebrigen wohl verwundern müssen. Er hatte ja nur mit dem Fernrohr gewisse Punkte besichtigt, die übrigen Instrumente aber stets in seiner Reisetasche stecken lassen.
Die Karawane bestand also nur noch aus zwei Personenwagen. Der erste trug die Damen und Herrn Désirandelle, der zweite Herrn Oriental und Agathokles, der sich von seinem Mauleselritte etwas erschöpft fühlte, und ferner zwei Eingeborne zur Bedienung, nebst dem Gepäck und einigem Mundvorrath. Diesen brauchte man nur noch zu einem Frühstück zwischen Tlemcen und dem Dorfe Lamoricière, wo die Nacht über gerastet werden sollte, und am nächsten Tage zu einem zweiten zwischen Lamoricière und Sidi-bel-Abbès, das der Führer gegen acht Uhr abends zu erreichen hoffte. Hier endigte dann die Karawanenfahrt, und die Eisenbahn sollte die Vorhut der Ausflügler nach Oran zurückbefördern.
Natürlich hatten sich Herr Dardentor und Moktani von ihren Meharis nicht getrennt, denn das waren prächtige Thiere, die zu keiner Klage Anlaß gaben, und ebensowenig die beiden Pariser von ihren Pferden, die sie nur ungern verlassen würden.
Zwischen Tlemcen und Sidi-bel-Abbès durchschneidet eine große Straße das Arrondissement und trifft in Tlelat auf eine andre, die Oran mit Algier verbindet. Von Tlemcen nach Sidi-bel-Abbès rechnet man zweiundneunzig Kilometer, die binnen zwei Tagen bequem zurückzulegen sind.
Die Karawane kam jetzt durch ein mehr Abwechslung bietendes Land, als die südoranischen Gegenden von Saïda bis Sebdou. Wälder gab es zwar weniger, dafür mehr angebaute Felder, Colonisationsgebiete und ein vielverzweigtes Netz von Zuflüssen des Chouly und des Isser. Letzterer, einer der großen Flüsse Algeriens, ist eine lebenspendende Wasserader, die sich zweihundert Kilometer weit bis zum Meere fortsetzt und dabei einem Thale folgt, worin, Dank den Abflüssen von den Hochebnen und dem Tell, Baumwolle sehr gut gedeiht.
Doch wie verändert war die Stimmung der Touristen, unter denen bei der Abreise mit der Bahn von Oran und dem Anfange des Karawanenzugs von Saïda aus die schönste Harmonie herrschte! Jetzt waren die gegenseitigen Beziehungen erkaltet. Die Désirandelle's und Frau Elissane sprachen in ihrem Gefährt nur unter einander, und Louise mußte so mancherlei hören, was ihr nicht gefiel. Marcel Lornans und Jean Taconnat, die sich ihren trüben Gedanken hingaben, trotteten hinter dem Perpignaneser her und gaben ihm kaum Antwort, wenn er sich etwas zurückhielt, um sie anzusprechen.
Unglücklicher Dardentor! Alle schienen jetzt auf ihn zu zürnen: die Désirandelle's, weil er nicht mithalf, Louise zu bestimmen, daß sie Agathokles' Hand annahm, und Frau Elissane ebenso, daß er dieser langgeplanten ehelichen Verbindung nicht den erhofften Vorschub leistete, Marcel Lornans, weil er zu Gunsten dessen, den er gerettet hatte, hätte eintreten sollen, und Jean Taconnat, weil er ihn gerettet hatte, statt ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst retten zu lassen. Kurz, Clovis Dardentor war nur noch der Sündenbock auf einem Kameele. Ihm blieb nur noch der getreue Patrice.
„Ja,“ schien dieser sagen zu wollen, „so liegen nun die Dinge, und Ihr Diener hatte sich nicht getäuscht!“
Er sprach diesen Gedanken aber nicht aus, aus Furcht, eine richtige Dardentor'sche Antwort zu bekommen, vor der es ihm schon durch und durch fröstelte.
„Nun, Clovis Dardentor wollte sich deshalb nicht ins Bockshorn jagen lassen.“
„Ueberleg' dir einmal, Clovis, sagte er für sich, bist du denn den Papageien da irgendwie verpflichtet? Brauchst du dir den Kopf zu zerbrechen, wenn nicht alles nach deren Wunsche geht?... Ist es dein Fehler, wenn Agathokles nur ein Zeisig ist, wenn sein Vater und seine Mutter ihn für einen Phönix halten und wenn Louise den Vogel schließlich nach seinem wahren Werth schätzt?... Hier heißt es doch: klar sehen! Daß Marcel das junge Mädchen liebt, vermuth' ich nun wohl. Ich kann ihnen doch nicht zurufen: „Kommt her, Kinder, damit ich Euch segne!“ Und dann der sonst so lustige Jean, dessen gute Laune und übersprudelnde Phantasie im Sar ertrunken zu sein scheinen. Es sieht fast aus, als wäre er bös auf mich, weil ich ihn gerettet habe. Wahrhaftig, sie blasen alle zusammen in dasselbe Horn! Na, ich werde schon mit der Gesellschaft fertig werden!“
Eben war Patrice vom Wagen abgestiegen, um seinem Herrn etwas zu sagen.
„Ich fürchte, Herr Dardentor, daß bald Regen kommt, und vielleicht wär' es besser...“
„Ach was, besser schlechtes Wetter, als gar keins!“
„Als gar keins?..“ erwiderte Patrice, dem dieses phantastische Axiom nicht in den Sinn wollte. „Wenn nun der Herr...“
„Stillgeschwiegen!“
Schneller, als er heruntergekommen war, kletterte Patrice wieder auf den Wagen.
Unter einem warmen, aus gewitterhaften Wolken herabströmenden Regen wurden die zwölf Kilometer von Tlemcen bis zum Aïn-Fezza zurückgelegt. Nach dem Aufhören des Niederschlags frühstückte man an der vorher bestimmten Stelle in bewaldeter Schlucht, die von zahlreichen nahen Wasserfällen kühl gehalten wurde „ein Frühstück ohne Vertraulichkeit, bei dem sich jeder einen gewissen Zwang auferlegte. Man hätte von den Gästen einer Table d'hôte sprechen können, die sich niemals gesehen hatten, ehe sie sich vor ihren Teller setzten, und sich niemals wiedersehen würden, wenn sie diesen geleert hatten. Unter den Blitze schleudernden Augen der Désirandelle's vermied es Marcel Lornans, Louise Elissane anzusehen. Jean Taconnat, der auf Zwischenfälle unterwegs nicht mehr rechnete „auf der Staatsstraße mit ihren tadellosen Böschungen, ihren Kilometersteinen und mit ihren regelmäßigen Haufen vorräthigen Schüttmaterials „schimpfte heimlich auf die unglückselige Verwaltung, die dieses Land civilisiert hatte.
Wiederholt versuchte Clovis Dardentor zwar, den Bann zu brechen, die alten Bande wieder zu verknüpfen... er ließ einige Raketen los, sein Feuerwerk verpuffte aber wirkungslos in der Luft.
„Na, die fangen entschieden an, mich zu langweilen!“ knurrte er.
Gegen elf Uhr ging es wieder weiter, zunächst über eine Brücke des Chouly, eines hurtigen Armes des Isser, dann längs eines Waldes, an Steinbrüchen und an den Ruinen von Hadjar-Roum vorüber, und gegen sechs Uhr abends erreichte man ohne Unfall das Vorwerk von Lamoricière.
Nach so kurzem Aufenthalt in Tlemcen konnte nicht davon die Rede sein, in diesem Ouled-Mimoun von zweihundert Einwohnern, der den Namen des berühmten Generals trägt, zu verweilen. Bemerkenswerth wegen seines kühlen, fruchtbaren Thales, bietet das einzige Gasthaus des Ortes doch keinerlei Bequemlichkeit. Hier wurden „sogenannte“ weiche Eier vorgesetzt, die da hätten am Spieß gebacken sein können. Zum Glück war der Beamte Derivas nicht anwesend, sonst wäre es ohne derbe Vorwürfe nicht abgegangen. Zum Ersatze wurden die Touristen jedoch von Eingebornen mit einem Ständchen beehrt. Vielleicht hätten sie das Concert abgelehnt, sie fügten sich aber auf Verlangen Dardentor's, dessen schlechte Laune doch keiner zu verschlimmern wagte.
Die Serenade wurde also im großen Saale des Gasthauses ausgeführt, war aber freilich kaum des Anhörens werth.
Sie bestand aus einer sogenannten „Nouba“ von drei verschiedenen arabischen Instrumenten, einem „Tebeul“, d. i. einer großen Trommel, die auf beiden Schallflächen mit zwei dünnen Holzklöppeln geschlagen wurde, ferner aus der „Rheïta“, einer zum Theil metallnen Flöte, deren scharfer Ton fast dem einer Kindertrompete gleicht, und endlich dem „Nouara“, der aus zwei halben, mit getrockneter Thierhaut überzogenen Flaschenkürbissen besteht. Wenn eine „Nouba“ gewöhnlich von graziösen Tänzen begleitet ist, so standen solche heute Abend wenigstens nicht auf dem Programm.
Nach Schluß der kleinen Festlichkeit rief Dardentor mit voller Stimme:
„Bezaubernd... ich bin ganz hingerissen!“
Da niemand eine gegentheilige Ansicht zu äußern wagte, ließ er den Eingebornen durch Moktani seine Anerkennung aussprechen und begleitete diese auch noch mit einem recht anständigen Trinkgeld.
Ob der Perpignaneser wirklich so zufrieden war, wie er sich stellte, ist zwar fraglich. Dagegen gab es unter den Zuhörern einen, dessen Befriedigung sicher nichts zu wünschen übrig ließ. Während der Nouba hatte einer der beiden Vettern - welcher, ist ja leicht zu errathen - ein Plätzchen neben Fräulein Elissane zu finden gewußt und ihr wahrscheinlich „die drei Worte“, die in seinem Herzen geschrieben standen und in dem des jungen Mädchens ein Echo fanden, zugeflüstert.
Zeitig am nächsten Morgen erfolgte der Aufbruch der Touristen, die dem Endziel der Reise voll Ungeduld entgegensahen. Nach Lamoricière und bis zum Aïn-Tellout folgten sie auf etwa zehn Kilometer der in Bau begriffenen Bahnstrecke. Dann zweigt die Straße nach Nordosten hin ab und schneidet wenige Kilometer vor Sidi-bel-Abbès eine andre, noch unvollendete Bahnlinie, die nach Südoran führt.
Erst mußten hier ausgedehnte Alfaanpflanzungen und bis zum Horizonte reichende Getreidefelder durchzogen werden. Längs der Straße gab es zahlreiche Ziehbrunnen, obwohl die Oueds Mouzen und Zehenna hier schon ziemlich viel Wasser führen. Wagen und Pferde bewegten sich so schnell wie möglich dahin, um die noch übrige Strecke in einem Tage zu überwinden.
Jetzt ließ man sich nicht mehr durch fröhliches Geplauder aufhalten, auch bot die Straße nichts Sehenswerthes, nicht einmal Ruinen aus der Römer- oder Berberzeit.
Die Temperatur war ziemlich hoch, zum Glück milderte eine Wolkendecke den Sonnenbrand, der in dieser waldlosen Gegend unerträglich gewesen wäre. So ging es durch Felder ohne Bäume. durch Ebnen ohne Schatten bis zur Zeit des Frühstücks weiter.
Es war elf Uhr, als die Karawane auf ein Zeichen des Führers Halt machte. Wäre sie um einige Kilometer nach links abgewichen, so hätte ihr der Wald von Ouled-Mimoun einen recht hübschen Platz zu kurzer Rast geboten. Noch einen Umweg zu machen, schien aber nicht rathsam.
So setzten sich also Alle in Einzelgruppen an der Straßenböschung zum Frühstück nieder. Da gab es die Gruppe Dósirandelle-Elissane, der natürlich Louise sich anschließen mußte; ferner die Gruppe Jean-Marcel, und der junge Mann, der sich dem jungen Mädchen nicht zu nähern suchte, zeigte dabei eine zarte Zurückhaltung, für die jene gewiß erkenntlich war. Wahrscheinlich waren Beide von Lamoricière ab weiter vorwärts gekommen, als die Karawane, und einem Ziele entgegen, das Sidi-bel-Abbés wohl nicht war.
Endlich gab es die Gruppe Dardentor, die nur aus der Person dieses Namens bestanden hätte, wenn unser Perpignaneser sich nicht in Ermanglung erwünschterer Gesellschaft mit der des Herrn Oriental begnügt hätte.
So saßen sie Beide bei einander und plauderten zusammen von allerlei... von der Reise vorzüglich, die ohne Zwischenfälle zu Ende gehen sollte. Von der Abfahrt an hatte es keine Verspätung, keine Unfälle ernsterer Art gegeben. Die Touristen waren wohlauf, höchstens, besonders die Damen, etwas ermüdet. Noch gegen sechs Stunden bis Sidi-bel-Abbès, dann brauchte man nur noch in einen Waggon erster Classe zu steigen, um schnell nach Oran zurückzukommen.
„Und sind Sie befriedigt, Herr Oriental?“ fragte Clovis Dardentor.
„Vollkommen, Herr Dardentor,“ versicherte der Montólimarer. „Die Rundreise war vorzüglich arrangiert, und die Frage der Nahrung selbst in den kleinsten Dörfern in annehmbarster Weise gelöst.“
„Diese Frage scheint Ihnen von besondrer Bedeutung gewesen zu sein?“
„Gewiß; ich habe mir unterwegs sogar einige Proben von Nahrungsmitteln verschaffen können, von denen ich bisher nichts wußte.“
„Mich freilich, Herr Oriental, hätte die Sorge für Stopfmaterial...“
„Hm!“ brummte Patrice, der seinen Herrn bediente.
„... für den „Gaster“, für den Magen, sehr kalt gelassen,“ meinte Clovis Dardentor.
„Meiner Ansicht nach,“ erwiderte Herr Oriental, „nimmt sie doch bezüglich des leiblichen Fortbestandes die erste Stelle ein.“
„Nun, lieber Herr, gestatten sie mir, Ihnen zu gestehen, daß wir, wenn wir auf einen Dienst von Ihnen hofften, nicht auf culinarische, sondern auf astronomische Unterstützung gehofft hätten.“
„Astronomische?...“ wiederholte Herr Oriental.
„Jawohl, zum Beispiel, wenn unser Führer sich verirrt hätte... wenn wir, Dank Ihren vielfachen Messungen der Sonnenhöhe, auf Ihre Beobachtungen hätten zurückgreifen müssen, um den richtigen Weg wieder zu finden...“
„Ich hätte die Sonnenhöhe gemessen!...“
„Ohne Zweifel... am Tage... oder die Sternenhöhe in der Nacht. Sie wissen doch, die Declinationen...“
„Welche Declination?... Rosa, die Rose; rosae, der Rose...“
„O, charmant!“ rief Herr Dardentor und brach in lautes Lachen aus, das bei den andern Gruppen keinen Widerhall fand.
„Nun, ich meine, mit Hilfe Ihrer Instrumente... Ihres Sextanten... wie die Seeleute... des Sextanten, der doch in Ihrer Reisetasche steckt.“
„Ich... ich soll einen Sextanten in der Reisetasche haben?“
„Doch höchst wahrscheinlich... denn das Fernrohr, das ist zwar anwendbar für Betrachtung von Landschaften, wenn es sich um den Durchgang der Sonne durch die Mittagslinie handelt...“
„Ich verstehe Sie nicht!“
„Sind Sie denn nicht der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar?“
„Der Gastronomischen, lieber Herr, der Gastronomischen Gesellschaft!“ antwortete Herr Oriental stolz. Diese Antwort, die so vieles, bisher Unerklärliche erklärte, ließ, als Dardentor sie wiederholt hatte, sogar über Jeans Gesicht wieder etwas Sonnenschein aufleuchten.
„Dieser Schafkopf von Patrice, der uns an Bord des „Argeles“ sagte...“ rief er.
„Wie? Der Herr ist nicht Astronom?“ fragte der würdige Diener.
„Nein... Gastronom... bist Du denn taub?... Gas-tro-nom! »
„Da hab' ich den Restaurateur falsch verstanden,“ entschuldigte sich Patrice, „und das kann jedermann einmal vorkommen!“
„Und ich habe glauben können...“ rief der Perpignaneser... „ich hielt Herrn Oriental für einen... und doch ist er nur ein... Wahrlich, da könnte man sich das Rückgrat verrenken!... Nun, mach Dich aber auf die Strümpfe, Patrice, und drücke Dich aus meinem Gesichtskreise!“
Verwirrt durch sein Mißverständniß, noch mehr aber durch die grobe Beleidigung, die ihm durch so vulgäre Ausdrücke widerfahren war, trollte Patrice davon. „Sich das Rückgrat verrenken“, das war das erstemal, daß sein Herr sich ihm gegenüber eines solchen Ausdruckes bediente, und sollte auch das letztemal gewesen sein, sonst wollte Patrice sich eine neue Stellungsuchen... womöglich bei einem Mitgliede der Französischen Akademie, der eine gewähltere Sprache liebte, natürlich nicht bei Zola...
Jetzt trat Jean Taconnat heran.
„Sie werden ihm verzeihen, nicht wahr, Herr Dardentor?“ fragte er.
„Ja, warum denn?“
„Weil das nicht die Sache danach ist, einen Menschen aufzuhängen. Ein Gastronom ist ja am Ende auch ein Astronom, nur mit der Schlinge des G voran.“
Clovis Dardentor mußte lachen.
„O, diese Pariser, mit denen soll Einer auskommen!... Die verstehn's, einen Andern zu nehmen! Nein, das käme in Perpignan nicht vor, und die Perpignaneser sind doch auch nicht auf den Kopf gefallen... gewiß nicht.“
„Zugegeben,“ sagte Jean Taconnat für sich, „sie haben nur zu sehr die Mucke, sich als Retter aufzuspielen!“
Bald ging es wieder weiter. Den Alfapflanzungen folgten Colonisationsländereien. Gegen ein Uhr wurde der Weiler Lamtar erreicht, genau an der Kreuzungsstelle eines kleinen Nebenweges, der den großen Communicationsweg von Aïn-Temouchent mit der staatlichen Landstraße nach Sidi-bel-Abbès verbindet. Um drei Uhr erfolgte die Ankunft an der Brücke nach Mouzen, an der Stelle, wo sich der gleichnamige Oued mit einem seiner Nebenflüsse vereinigt, und um vier Uhr da, wo die beiden vorgenannten Straßen sich ein wenig unterhalb Sidi-Kraleds und wenige Kilometer von Sidi-Lhassen treffen, nachdem sie ein Stück weit den Lauf des Mekerra „d. i. der Name, den der Sig hier annimmt „begleitet haben.
Sidi-Lhassen bildet eine Art Vorwerk mit sechshundert Einwohnern, meist Deutschen und Eingebornen. Hier sollte nicht gehalten werden.
Plötzlich - es war etwa halb fünf Uhr - machte das Mehari des an der Spitze reitenden Führers einen Seitensprung. Vergeblich suchte er, ihm zuzureden, das Thier weigerte sich zu gehorchen und wich immer weiter zurück.
Fast gleichzeitig bäumten sich die unruhig gewordenen Pferde der jungen Leute und ließen ein erschrecktes Wiehern hören. Trotz Sporens und Zügels drängten sie sich nach den Wagen hin, deren Gespanne ebenso ein auffallendes Entsetzen verriethen.
„Was giebt es denn?“ fragte Clovis Dardentor.
Schnüffelnd und in der Ferne etwas witternd, kauerte sich sein Mehari eben nieder.
Auf seine Frage antwortete ein doppeltes Gebrüll, über dessen Natur sich niemand täuschen konnte. Es kam etwa hundert Schritte weit aus einem Piniendickicht hervor.
„Da sind Löwen!“ rief der Führer.
Begreiflicher Weise packte die Karawane der Schrecken. Solche Raubthiere in unmittelbarer Nähe und am hellen Tage, Bestien, die gewiß schon zum Sprunge ausholten...
Voller Entsetzen beeilten sich Frau Elissane, Frau Désirandelle und Louise, ihren Wagen zu verlassen, dessen Maulthiere die Stränge zu zerreißen suchten, um zu entfliehen.
Zuerst wollten die Damen, die Herren Désirandelle Vater und Sohn und Herr Oriental ganz instinctiv zurücklaufen und sich nach dem einige Kilometer entfernten Vorwerk flüchten.
„Alle da bleiben!“ rief da aber Clovis Dardentor mit so befehlender Stimme, daß er sich passiven Gehorsam erzwang.
Frau Désirandelle hatte übrigens die Besinnung verloren. Die Pferde und die Kameele hatten der Führer und die Eingebornen im Handumdrehen fest zusammengekoppelt, so daß diese nicht ausreißen konnten.
Marcel Lornans war nach dem zweiten Wagen gelaufen und brachte mit Hilfe Patrice's Gewehre und Revolver herbei, die sofort geladen wurden.
Dardentor und Marcel Lornans erhielten die Gewehre, Jean Taconnat und Moktani ergriffen Revolver. Alle hielten sich bei einer Gruppe von Terpentinsichten an der linken Böschung der Straße zusammen. Hier in der öden Landschaft war auf keine Hilfe zu rechnen.
Von neuem dröhnte das Gebrüll und fast gleichzeitig tauchte am Waldsaume ein Raubthierpaar auf.
Es war ein Löwe und eine Löwin von außerordentlicher Größe, deren gelbliches Fell lebhaft gegen das dunkle Grün der Aleppopinien abstach.
Würden sich die Thiere nun auf die Karawane stürzen, die sie mit glühenden Augen anstarrten, oder würden sie, von der Zahl der Gegner erschreckt, in das Gehölz zurückweichen und den Weg freigeben?
Zuerst thaten sie nur langsam einige Schritte nach vorwärts und ließen dabei ein leises Knurren vernehmen.
„Daß niemand sich rührt, ermahnte Herr Dardentor, wir werden unsre Sache schon machen!“
Marcel Lornans warf einen Blick auf das junge Mädchen. Wieder zu sich gekommen, doch wachsbleich und mit entstellten Zügen, suchte sie ihre Mutter zu beruhigen. Dann traten Jean Taconnat und er, zehn Schritte über die Bäume hinaus, neben Clovis Dardentor und Moktani heran. Eine Minute später krachte, da die Raubthiere sich genähert hatten, der erste Schuß. Der Perpignaneser hatte auf die Löwin gefeuert, diesmal aber hatte ihn seine gewöhnliche Gewandtheit im Stich gelassen, und nur am Halse gestreift, stürzte das Thier unter schrecklichem Brüllen auf die Männer zu. Als in demselben Augenblicke auch der Löwe heransprang, gab Marcel Lornans auf ihn Feuer.
„Ich Ungeschickter!“ rief Herr Dardentor wegen seines verfehlten Schusses.
Marcel Lornans brauchte sich einen solchen Vorwurf nicht zu machen, denn er hatte den Löwen an der Schulter getroffen. Die dicke Mähne mochte die Kugel aber abgeschwächt haben, so daß sie nicht tödtlich wirkte, und mit verdoppelter Wuth sprang das Thier vorwärts, ohne sich von drei Revolverkugeln Taconnat's aufhalten zu lassen.
Alles das hatte sich in wenigen Secunden abgespielt, und ehe die Gewehre wieder geladen werden konnten, waren die Raubthiere an der Baumgruppe angelangt.
Marcel Lornans und Jean Taconnat wurden von der Löwin umgerannt, die schon die Tatzen über sie erhoben hatte, als eine Kugel Moktani's sie auf einen Moment ablenkte. Dann stürzte sie sich aber wieder, den Angriff erneuernd, auf die am Boden liegenden jungen Leute.
Das Gewehr des Herrn Dardentor krachte ein zweites Mal. Die Kugel schlug der Löwin in die Brust, doch ohne das Herz zu treffen, und wenn sich die beiden Vettern jetzt nicht aufspringend etwas zur Seite geflüchtet hätten, wären sie gewiß nicht mit gefunden Gliedern davongekommen.
Trotz der schweren Verwundung war die Wuth der Löwin noch immer zu fürchten. Der Löwe, der jetzt an ihrer Seite war, stürzte mit ihr auf die Gegner los, unter denen die Todesangst der Pferde und andern Gespanne die Verwirrung und das Entsetzen noch vermehrten.
Von dem Löwen gepackt, wurde Moktani ganz blutüberströmt gegen zehn Schritte weit hingezerrt. Jean Taconnat, den Revolver in der Hand, und Marcel Lornans mit dem neugeladenen Gewehre eilten wieder der Böschung zu. Da donnerten aber zwei Schüsse fast gleichzeitig und machten der Löwin ein Ende, die mit einem letzten Satze fast schon leblos zusammenbrach.
Mit einem zwanzig Fuß weiten Sprunge fiel der Löwe jetzt in höchster Wuth über Dardentor, der, unfähig von seiner Waffe Gebrauch zu machen und zur Erde stürzend, in Gefahr war, von der Last des Thieres erdrückt zu werden...
Jean Taconnat stürmte bis auf drei Schritte vor dem Löwen auf ihn zu und „er dachte jetzt gewiß nicht an die im Civilgesetzbuch vorgeschriebenen Bedingungen einer Adoption „drückte am Abzug seines Revolvers, der im Augenblicke der höchsten Noth... versagte...
Vor Angst unsinnig, hatten die Pferde und Gespanne sich voneinander losgerissen und jagten über die Felder hin. Moktani, der seine Waffe verloren hatte, schleppte sich wieder nach der Böschung, während Herr Désirandelle, Herr Oriental und Agathokles selbst zitternd noch vor den Damen standen...
Clovis Dardentor hatte sich nicht aufrichten können, und schon wollte der Löwe die Tatze in seine Brust einschlagen, als noch ein Schuß krachte...
Mit durchbohrtem Schädel warf das gewaltige Thier den Kopf nach rückwärts und fiel todt an der Seite des Perpignanesers nieder.
Louise Elissane war es gewesen, die Moktani's Revolver aufgehoben und aus unmittelbarer Nähe auf das Thier gefeuert hatte.
„Gerettet... durch sie gerettet!“ rief Dardentor. „Und sie steckten nicht in Schaffellen und hatten keine Rollen an den Beinen, diese Löwen hier!“
Dann erhob er sich mit einem Sprunge, der dem neben ihm liegenden Könige der Thiere keine Schande gemacht hätte.
Was also weder Jean Taconnat noch Marcel Lornans hatte thun können, das hatte das junge Mädchen gethan! Wohl verließen sie gleich danach die Kräfte und sie wäre umgefallen, wenn Marcel sie nicht mit den Armen aufgefangen und zu ihrer Mutter geführt hätte.
Jede Gefahr war vorbei, und was hätte Herr Dardentor jetzt mehr sagen können, als jene ersten, an Louise Elissane gerichteten Worte, die ihm tief aus dem Herzen gekommen waren?
So ging denn unser Perpignaneser mit Patrice und den Eingebornen zunächst daran, die entflohenen Pferde und Maulthiere wieder einzufangen. Das gelang ihnen bald, denn die durch den Tod des Löwenpaars beruhigten Thiere kamen schon von selbst nach der Straße zurück.
Der an Hüfte und Armen schwerverletzte Moktani wurde auf den einen Wagen niedergelegt, und Patrice mußte seinen Platz zwischen beiden Höckern des Meharis einnehmen, wo er sich als eben so vollendeter Sportsman erwies, als wenn er einen Vollblut-Araber geritten hätte.
Als Marcel Lornans und Jean Taconnat ihre beiden Pferde wieder bestiegen hatten, sagte der zweite zu dem ersten:
„Nun siehst Du... da hat er auch noch uns Beide gerettet, der ostpyrenäische Neufundländer! Nein, mit einem solchen Menschen ist nichts anzufangen!“
„Rein gar nichts!“ bestätigte Marcel Lornans.
Die Karawane setzte sich wieder in Gang. Eine halbe Stunde später erreichte sie Sidi-Lhassen und stieg um sieben Uhr am besten Hôtel von Sidibel-Abbès ab.
Zunächst wurde ein Arzt geholt, um Moktani in Behandlung zu nehmen, und dieser erkannte, daß die Verwundungen des Führers keine ernsteren Folgen haben würden.
Um acht Uhr speisten Alle gemeinschaftlich... eine schweigsame Mahlzeit, während der Alle wie auf Verabredung des Ueberfalls durch die Raubthiere gar nicht erwähnten.
Beim Nachtisch aber stand Herr Dardentor auf und wandte sich an Louise in so ernstem Tone, wie man ihn von ihm gar nicht gewöhnt war.
„Liebes Fräulein,“ begann er, „Sie haben mir das Leben gerettet...“
„O, ich bitte Sie, Herr Dardentor,“ rief das junge Mädchen, deren Wangen sich purpurroth färbten.
„Ja, gerettet... gerettet aus einem Kampfe, worin ich ohne Ihr muthiges Eintreten das Leben verloren hätte! Mit Erlaubniß Ihrer Frau Mutter wär' es nun, da Sie den im Artikel 345 des Civilgesetzbuches vorgeschriebenen Bedingungen entsprechen, mein lebhaftester Wunsch, Sie zu adoptieren...“
„Herr Dardentor...“ rief Frau Elissane, „ich bin ganz bestürzt über Ihren Vorschlag...“
„Keine Widerrede,“ unterbrach sie der Perpignaneser, „denn wenn Sie nicht zustimmen...“
„Nun, wenn ich nicht zustimme...“
„Heirate ich Sie, verehrte Frau, und da wird Fräulein Louise ganz von selbst doch meine Tochter!“
Beim Aufbruche von Tlemcen war die Karawane auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Mehrere Touristen hatten es vorgezogen, in dieser Stadt, die es gewiß verdiente, noch einige Tage zu verweilen. Da der Beamte Derivas mit diesen hier zurückblieb, schlugen Herr Dardentor und seine Gesellschaft mit dem Führer Moktani am frühen Morgen des 21. Mai allein die Richtung nach Sidi-bel-Abbès ein.
Auch Herr Eustache Oriental, der es mit der Rückkehr nach Oran eilig zu haben schien, hatte sich angeschlossen. Daß es seine Absicht wäre, einen wissenschaftlichen Bericht über diesen Ausflug abzufassen, hätte Dardentor und die Uebrigen wohl verwundern müssen. Er hatte ja nur mit dem Fernrohr gewisse Punkte besichtigt, die übrigen Instrumente aber stets in seiner Reisetasche stecken lassen.
Die Karawane bestand also nur noch aus zwei Personenwagen. Der erste trug die Damen und Herrn Désirandelle, der zweite Herrn Oriental und Agathokles, der sich von seinem Mauleselritte etwas erschöpft fühlte, und ferner zwei Eingeborne zur Bedienung, nebst dem Gepäck und einigem Mundvorrath. Diesen brauchte man nur noch zu einem Frühstück zwischen Tlemcen und dem Dorfe Lamoricière, wo die Nacht über gerastet werden sollte, und am nächsten Tage zu einem zweiten zwischen Lamoricière und Sidi-bel-Abbès, das der Führer gegen acht Uhr abends zu erreichen hoffte. Hier endigte dann die Karawanenfahrt, und die Eisenbahn sollte die Vorhut der Ausflügler nach Oran zurückbefördern.
Natürlich hatten sich Herr Dardentor und Moktani von ihren Meharis nicht getrennt, denn das waren prächtige Thiere, die zu keiner Klage Anlaß gaben, und ebensowenig die beiden Pariser von ihren Pferden, die sie nur ungern verlassen würden.
Zwischen Tlemcen und Sidi-bel-Abbès durchschneidet eine große Straße das Arrondissement und trifft in Tlelat auf eine andre, die Oran mit Algier verbindet. Von Tlemcen nach Sidi-bel-Abbès rechnet man zweiundneunzig Kilometer, die binnen zwei Tagen bequem zurückzulegen sind.
Die Karawane kam jetzt durch ein mehr Abwechslung bietendes Land, als die südoranischen Gegenden von Saïda bis Sebdou. Wälder gab es zwar weniger, dafür mehr angebaute Felder, Colonisationsgebiete und ein vielverzweigtes Netz von Zuflüssen des Chouly und des Isser. Letzterer, einer der großen Flüsse Algeriens, ist eine lebenspendende Wasserader, die sich zweihundert Kilometer weit bis zum Meere fortsetzt und dabei einem Thale folgt, worin, Dank den Abflüssen von den Hochebnen und dem Tell, Baumwolle sehr gut gedeiht.
Doch wie verändert war die Stimmung der Touristen, unter denen bei der Abreise mit der Bahn von Oran und dem Anfange des Karawanenzugs von Saïda aus die schönste Harmonie herrschte! Jetzt waren die gegenseitigen Beziehungen erkaltet. Die Désirandelle's und Frau Elissane sprachen in ihrem Gefährt nur unter einander, und Louise mußte so mancherlei hören, was ihr nicht gefiel. Marcel Lornans und Jean Taconnat, die sich ihren trüben Gedanken hingaben, trotteten hinter dem Perpignaneser her und gaben ihm kaum Antwort, wenn er sich etwas zurückhielt, um sie anzusprechen.
Unglücklicher Dardentor! Alle schienen jetzt auf ihn zu zürnen: die Désirandelle's, weil er nicht mithalf, Louise zu bestimmen, daß sie Agathokles' Hand annahm, und Frau Elissane ebenso, daß er dieser langgeplanten ehelichen Verbindung nicht den erhofften Vorschub leistete, Marcel Lornans, weil er zu Gunsten dessen, den er gerettet hatte, hätte eintreten sollen, und Jean Taconnat, weil er ihn gerettet hatte, statt ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst retten zu lassen. Kurz, Clovis Dardentor war nur noch der Sündenbock auf einem Kameele. Ihm blieb nur noch der getreue Patrice.
„Ja,“ schien dieser sagen zu wollen, „so liegen nun die Dinge, und Ihr Diener hatte sich nicht getäuscht!“
Er sprach diesen Gedanken aber nicht aus, aus Furcht, eine richtige Dardentor'sche Antwort zu bekommen, vor der es ihm schon durch und durch fröstelte.
„Nun, Clovis Dardentor wollte sich deshalb nicht ins Bockshorn jagen lassen.“
„Ueberleg' dir einmal, Clovis, sagte er für sich, bist du denn den Papageien da irgendwie verpflichtet? Brauchst du dir den Kopf zu zerbrechen, wenn nicht alles nach deren Wunsche geht?... Ist es dein Fehler, wenn Agathokles nur ein Zeisig ist, wenn sein Vater und seine Mutter ihn für einen Phönix halten und wenn Louise den Vogel schließlich nach seinem wahren Werth schätzt?... Hier heißt es doch: klar sehen! Daß Marcel das junge Mädchen liebt, vermuth' ich nun wohl. Ich kann ihnen doch nicht zurufen: „Kommt her, Kinder, damit ich Euch segne!“ Und dann der sonst so lustige Jean, dessen gute Laune und übersprudelnde Phantasie im Sar ertrunken zu sein scheinen. Es sieht fast aus, als wäre er bös auf mich, weil ich ihn gerettet habe. Wahrhaftig, sie blasen alle zusammen in dasselbe Horn! Na, ich werde schon mit der Gesellschaft fertig werden!“
Eben war Patrice vom Wagen abgestiegen, um seinem Herrn etwas zu sagen.
„Ich fürchte, Herr Dardentor, daß bald Regen kommt, und vielleicht wär' es besser...“
„Ach was, besser schlechtes Wetter, als gar keins!“
„Als gar keins?..“ erwiderte Patrice, dem dieses phantastische Axiom nicht in den Sinn wollte. „Wenn nun der Herr...“
„Stillgeschwiegen!“
Schneller, als er heruntergekommen war, kletterte Patrice wieder auf den Wagen.
Unter einem warmen, aus gewitterhaften Wolken herabströmenden Regen wurden die zwölf Kilometer von Tlemcen bis zum Aïn-Fezza zurückgelegt. Nach dem Aufhören des Niederschlags frühstückte man an der vorher bestimmten Stelle in bewaldeter Schlucht, die von zahlreichen nahen Wasserfällen kühl gehalten wurde „ein Frühstück ohne Vertraulichkeit, bei dem sich jeder einen gewissen Zwang auferlegte. Man hätte von den Gästen einer Table d'hôte sprechen können, die sich niemals gesehen hatten, ehe sie sich vor ihren Teller setzten, und sich niemals wiedersehen würden, wenn sie diesen geleert hatten. Unter den Blitze schleudernden Augen der Désirandelle's vermied es Marcel Lornans, Louise Elissane anzusehen. Jean Taconnat, der auf Zwischenfälle unterwegs nicht mehr rechnete „auf der Staatsstraße mit ihren tadellosen Böschungen, ihren Kilometersteinen und mit ihren regelmäßigen Haufen vorräthigen Schüttmaterials „schimpfte heimlich auf die unglückselige Verwaltung, die dieses Land civilisiert hatte.
Wiederholt versuchte Clovis Dardentor zwar, den Bann zu brechen, die alten Bande wieder zu verknüpfen... er ließ einige Raketen los, sein Feuerwerk verpuffte aber wirkungslos in der Luft.
„Na, die fangen entschieden an, mich zu langweilen!“ knurrte er.
Gegen elf Uhr ging es wieder weiter, zunächst über eine Brücke des Chouly, eines hurtigen Armes des Isser, dann längs eines Waldes, an Steinbrüchen und an den Ruinen von Hadjar-Roum vorüber, und gegen sechs Uhr abends erreichte man ohne Unfall das Vorwerk von Lamoricière.
Nach so kurzem Aufenthalt in Tlemcen konnte nicht davon die Rede sein, in diesem Ouled-Mimoun von zweihundert Einwohnern, der den Namen des berühmten Generals trägt, zu verweilen. Bemerkenswerth wegen seines kühlen, fruchtbaren Thales, bietet das einzige Gasthaus des Ortes doch keinerlei Bequemlichkeit. Hier wurden „sogenannte“ weiche Eier vorgesetzt, die da hätten am Spieß gebacken sein können. Zum Glück war der Beamte Derivas nicht anwesend, sonst wäre es ohne derbe Vorwürfe nicht abgegangen. Zum Ersatze wurden die Touristen jedoch von Eingebornen mit einem Ständchen beehrt. Vielleicht hätten sie das Concert abgelehnt, sie fügten sich aber auf Verlangen Dardentor's, dessen schlechte Laune doch keiner zu verschlimmern wagte.
Die Serenade wurde also im großen Saale des Gasthauses ausgeführt, war aber freilich kaum des Anhörens werth.
Sie bestand aus einer sogenannten „Nouba“ von drei verschiedenen arabischen Instrumenten, einem „Tebeul“, d. i. einer großen Trommel, die auf beiden Schallflächen mit zwei dünnen Holzklöppeln geschlagen wurde, ferner aus der „Rheïta“, einer zum Theil metallnen Flöte, deren scharfer Ton fast dem einer Kindertrompete gleicht, und endlich dem „Nouara“, der aus zwei halben, mit getrockneter Thierhaut überzogenen Flaschenkürbissen besteht. Wenn eine „Nouba“ gewöhnlich von graziösen Tänzen begleitet ist, so standen solche heute Abend wenigstens nicht auf dem Programm.
Nach Schluß der kleinen Festlichkeit rief Dardentor mit voller Stimme:
„Bezaubernd... ich bin ganz hingerissen!“
Da niemand eine gegentheilige Ansicht zu äußern wagte, ließ er den Eingebornen durch Moktani seine Anerkennung aussprechen und begleitete diese auch noch mit einem recht anständigen Trinkgeld.
Ob der Perpignaneser wirklich so zufrieden war, wie er sich stellte, ist zwar fraglich. Dagegen gab es unter den Zuhörern einen, dessen Befriedigung sicher nichts zu wünschen übrig ließ. Während der Nouba hatte einer der beiden Vettern - welcher, ist ja leicht zu errathen - ein Plätzchen neben Fräulein Elissane zu finden gewußt und ihr wahrscheinlich „die drei Worte“, die in seinem Herzen geschrieben standen und in dem des jungen Mädchens ein Echo fanden, zugeflüstert.
Zeitig am nächsten Morgen erfolgte der Aufbruch der Touristen, die dem Endziel der Reise voll Ungeduld entgegensahen. Nach Lamoricière und bis zum Aïn-Tellout folgten sie auf etwa zehn Kilometer der in Bau begriffenen Bahnstrecke. Dann zweigt die Straße nach Nordosten hin ab und schneidet wenige Kilometer vor Sidi-bel-Abbès eine andre, noch unvollendete Bahnlinie, die nach Südoran führt.
Erst mußten hier ausgedehnte Alfaanpflanzungen und bis zum Horizonte reichende Getreidefelder durchzogen werden. Längs der Straße gab es zahlreiche Ziehbrunnen, obwohl die Oueds Mouzen und Zehenna hier schon ziemlich viel Wasser führen. Wagen und Pferde bewegten sich so schnell wie möglich dahin, um die noch übrige Strecke in einem Tage zu überwinden.
Jetzt ließ man sich nicht mehr durch fröhliches Geplauder aufhalten, auch bot die Straße nichts Sehenswerthes, nicht einmal Ruinen aus der Römer- oder Berberzeit.
Die Temperatur war ziemlich hoch, zum Glück milderte eine Wolkendecke den Sonnenbrand, der in dieser waldlosen Gegend unerträglich gewesen wäre. So ging es durch Felder ohne Bäume. durch Ebnen ohne Schatten bis zur Zeit des Frühstücks weiter.
Es war elf Uhr, als die Karawane auf ein Zeichen des Führers Halt machte. Wäre sie um einige Kilometer nach links abgewichen, so hätte ihr der Wald von Ouled-Mimoun einen recht hübschen Platz zu kurzer Rast geboten. Noch einen Umweg zu machen, schien aber nicht rathsam.
So setzten sich also Alle in Einzelgruppen an der Straßenböschung zum Frühstück nieder. Da gab es die Gruppe Dósirandelle-Elissane, der natürlich Louise sich anschließen mußte; ferner die Gruppe Jean-Marcel, und der junge Mann, der sich dem jungen Mädchen nicht zu nähern suchte, zeigte dabei eine zarte Zurückhaltung, für die jene gewiß erkenntlich war. Wahrscheinlich waren Beide von Lamoricière ab weiter vorwärts gekommen, als die Karawane, und einem Ziele entgegen, das Sidi-bel-Abbés wohl nicht war.
Endlich gab es die Gruppe Dardentor, die nur aus der Person dieses Namens bestanden hätte, wenn unser Perpignaneser sich nicht in Ermanglung erwünschterer Gesellschaft mit der des Herrn Oriental begnügt hätte.
So saßen sie Beide bei einander und plauderten zusammen von allerlei... von der Reise vorzüglich, die ohne Zwischenfälle zu Ende gehen sollte. Von der Abfahrt an hatte es keine Verspätung, keine Unfälle ernsterer Art gegeben. Die Touristen waren wohlauf, höchstens, besonders die Damen, etwas ermüdet. Noch gegen sechs Stunden bis Sidi-bel-Abbès, dann brauchte man nur noch in einen Waggon erster Classe zu steigen, um schnell nach Oran zurückzukommen.
„Und sind Sie befriedigt, Herr Oriental?“ fragte Clovis Dardentor.
„Vollkommen, Herr Dardentor,“ versicherte der Montólimarer. „Die Rundreise war vorzüglich arrangiert, und die Frage der Nahrung selbst in den kleinsten Dörfern in annehmbarster Weise gelöst.“
„Diese Frage scheint Ihnen von besondrer Bedeutung gewesen zu sein?“
„Gewiß; ich habe mir unterwegs sogar einige Proben von Nahrungsmitteln verschaffen können, von denen ich bisher nichts wußte.“
„Mich freilich, Herr Oriental, hätte die Sorge für Stopfmaterial...“
„Hm!“ brummte Patrice, der seinen Herrn bediente.
„... für den „Gaster“, für den Magen, sehr kalt gelassen,“ meinte Clovis Dardentor.
„Meiner Ansicht nach,“ erwiderte Herr Oriental, „nimmt sie doch bezüglich des leiblichen Fortbestandes die erste Stelle ein.“
„Nun, lieber Herr, gestatten sie mir, Ihnen zu gestehen, daß wir, wenn wir auf einen Dienst von Ihnen hofften, nicht auf culinarische, sondern auf astronomische Unterstützung gehofft hätten.“
„Astronomische?...“ wiederholte Herr Oriental.
„Jawohl, zum Beispiel, wenn unser Führer sich verirrt hätte... wenn wir, Dank Ihren vielfachen Messungen der Sonnenhöhe, auf Ihre Beobachtungen hätten zurückgreifen müssen, um den richtigen Weg wieder zu finden...“
„Ich hätte die Sonnenhöhe gemessen!...“
„Ohne Zweifel... am Tage... oder die Sternenhöhe in der Nacht. Sie wissen doch, die Declinationen...“
„Welche Declination?... Rosa, die Rose; rosae, der Rose...“
„O, charmant!“ rief Herr Dardentor und brach in lautes Lachen aus, das bei den andern Gruppen keinen Widerhall fand.
„Nun, ich meine, mit Hilfe Ihrer Instrumente... Ihres Sextanten... wie die Seeleute... des Sextanten, der doch in Ihrer Reisetasche steckt.“
„Ich... ich soll einen Sextanten in der Reisetasche haben?“
„Doch höchst wahrscheinlich... denn das Fernrohr, das ist zwar anwendbar für Betrachtung von Landschaften, wenn es sich um den Durchgang der Sonne durch die Mittagslinie handelt...“
„Ich verstehe Sie nicht!“
„Sind Sie denn nicht der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar?“
„Der Gastronomischen, lieber Herr, der Gastronomischen Gesellschaft!“ antwortete Herr Oriental stolz. Diese Antwort, die so vieles, bisher Unerklärliche erklärte, ließ, als Dardentor sie wiederholt hatte, sogar über Jeans Gesicht wieder etwas Sonnenschein aufleuchten.
„Dieser Schafkopf von Patrice, der uns an Bord des „Argeles“ sagte...“ rief er.
„Wie? Der Herr ist nicht Astronom?“ fragte der würdige Diener.
„Nein... Gastronom... bist Du denn taub?... Gas-tro-nom! »
„Da hab' ich den Restaurateur falsch verstanden,“ entschuldigte sich Patrice, „und das kann jedermann einmal vorkommen!“
„Und ich habe glauben können...“ rief der Perpignaneser... „ich hielt Herrn Oriental für einen... und doch ist er nur ein... Wahrlich, da könnte man sich das Rückgrat verrenken!... Nun, mach Dich aber auf die Strümpfe, Patrice, und drücke Dich aus meinem Gesichtskreise!“
Verwirrt durch sein Mißverständniß, noch mehr aber durch die grobe Beleidigung, die ihm durch so vulgäre Ausdrücke widerfahren war, trollte Patrice davon. „Sich das Rückgrat verrenken“, das war das erstemal, daß sein Herr sich ihm gegenüber eines solchen Ausdruckes bediente, und sollte auch das letztemal gewesen sein, sonst wollte Patrice sich eine neue Stellungsuchen... womöglich bei einem Mitgliede der Französischen Akademie, der eine gewähltere Sprache liebte, natürlich nicht bei Zola...
Jetzt trat Jean Taconnat heran.
„Sie werden ihm verzeihen, nicht wahr, Herr Dardentor?“ fragte er.
„Ja, warum denn?“
„Weil das nicht die Sache danach ist, einen Menschen aufzuhängen. Ein Gastronom ist ja am Ende auch ein Astronom, nur mit der Schlinge des G voran.“
Clovis Dardentor mußte lachen.
„O, diese Pariser, mit denen soll Einer auskommen!... Die verstehn's, einen Andern zu nehmen! Nein, das käme in Perpignan nicht vor, und die Perpignaneser sind doch auch nicht auf den Kopf gefallen... gewiß nicht.“
„Zugegeben,“ sagte Jean Taconnat für sich, „sie haben nur zu sehr die Mucke, sich als Retter aufzuspielen!“
Bald ging es wieder weiter. Den Alfapflanzungen folgten Colonisationsländereien. Gegen ein Uhr wurde der Weiler Lamtar erreicht, genau an der Kreuzungsstelle eines kleinen Nebenweges, der den großen Communicationsweg von Aïn-Temouchent mit der staatlichen Landstraße nach Sidi-bel-Abbès verbindet. Um drei Uhr erfolgte die Ankunft an der Brücke nach Mouzen, an der Stelle, wo sich der gleichnamige Oued mit einem seiner Nebenflüsse vereinigt, und um vier Uhr da, wo die beiden vorgenannten Straßen sich ein wenig unterhalb Sidi-Kraleds und wenige Kilometer von Sidi-Lhassen treffen, nachdem sie ein Stück weit den Lauf des Mekerra „d. i. der Name, den der Sig hier annimmt „begleitet haben.
Sidi-Lhassen bildet eine Art Vorwerk mit sechshundert Einwohnern, meist Deutschen und Eingebornen. Hier sollte nicht gehalten werden.
Plötzlich - es war etwa halb fünf Uhr - machte das Mehari des an der Spitze reitenden Führers einen Seitensprung. Vergeblich suchte er, ihm zuzureden, das Thier weigerte sich zu gehorchen und wich immer weiter zurück.
Fast gleichzeitig bäumten sich die unruhig gewordenen Pferde der jungen Leute und ließen ein erschrecktes Wiehern hören. Trotz Sporens und Zügels drängten sie sich nach den Wagen hin, deren Gespanne ebenso ein auffallendes Entsetzen verriethen.
„Was giebt es denn?“ fragte Clovis Dardentor.
Schnüffelnd und in der Ferne etwas witternd, kauerte sich sein Mehari eben nieder.
Auf seine Frage antwortete ein doppeltes Gebrüll, über dessen Natur sich niemand täuschen konnte. Es kam etwa hundert Schritte weit aus einem Piniendickicht hervor.
„Da sind Löwen!“ rief der Führer.
Begreiflicher Weise packte die Karawane der Schrecken. Solche Raubthiere in unmittelbarer Nähe und am hellen Tage, Bestien, die gewiß schon zum Sprunge ausholten...
Voller Entsetzen beeilten sich Frau Elissane, Frau Désirandelle und Louise, ihren Wagen zu verlassen, dessen Maulthiere die Stränge zu zerreißen suchten, um zu entfliehen.
Zuerst wollten die Damen, die Herren Désirandelle Vater und Sohn und Herr Oriental ganz instinctiv zurücklaufen und sich nach dem einige Kilometer entfernten Vorwerk flüchten.
„Alle da bleiben!“ rief da aber Clovis Dardentor mit so befehlender Stimme, daß er sich passiven Gehorsam erzwang.
Frau Désirandelle hatte übrigens die Besinnung verloren. Die Pferde und die Kameele hatten der Führer und die Eingebornen im Handumdrehen fest zusammengekoppelt, so daß diese nicht ausreißen konnten.
Marcel Lornans war nach dem zweiten Wagen gelaufen und brachte mit Hilfe Patrice's Gewehre und Revolver herbei, die sofort geladen wurden.
Dardentor und Marcel Lornans erhielten die Gewehre, Jean Taconnat und Moktani ergriffen Revolver. Alle hielten sich bei einer Gruppe von Terpentinsichten an der linken Böschung der Straße zusammen. Hier in der öden Landschaft war auf keine Hilfe zu rechnen.
Von neuem dröhnte das Gebrüll und fast gleichzeitig tauchte am Waldsaume ein Raubthierpaar auf.
Es war ein Löwe und eine Löwin von außerordentlicher Größe, deren gelbliches Fell lebhaft gegen das dunkle Grün der Aleppopinien abstach.
Würden sich die Thiere nun auf die Karawane stürzen, die sie mit glühenden Augen anstarrten, oder würden sie, von der Zahl der Gegner erschreckt, in das Gehölz zurückweichen und den Weg freigeben?
Zuerst thaten sie nur langsam einige Schritte nach vorwärts und ließen dabei ein leises Knurren vernehmen.
„Daß niemand sich rührt, ermahnte Herr Dardentor, wir werden unsre Sache schon machen!“
Marcel Lornans warf einen Blick auf das junge Mädchen. Wieder zu sich gekommen, doch wachsbleich und mit entstellten Zügen, suchte sie ihre Mutter zu beruhigen. Dann traten Jean Taconnat und er, zehn Schritte über die Bäume hinaus, neben Clovis Dardentor und Moktani heran. Eine Minute später krachte, da die Raubthiere sich genähert hatten, der erste Schuß. Der Perpignaneser hatte auf die Löwin gefeuert, diesmal aber hatte ihn seine gewöhnliche Gewandtheit im Stich gelassen, und nur am Halse gestreift, stürzte das Thier unter schrecklichem Brüllen auf die Männer zu. Als in demselben Augenblicke auch der Löwe heransprang, gab Marcel Lornans auf ihn Feuer.
„Ich Ungeschickter!“ rief Herr Dardentor wegen seines verfehlten Schusses.
Marcel Lornans brauchte sich einen solchen Vorwurf nicht zu machen, denn er hatte den Löwen an der Schulter getroffen. Die dicke Mähne mochte die Kugel aber abgeschwächt haben, so daß sie nicht tödtlich wirkte, und mit verdoppelter Wuth sprang das Thier vorwärts, ohne sich von drei Revolverkugeln Taconnat's aufhalten zu lassen.
Alles das hatte sich in wenigen Secunden abgespielt, und ehe die Gewehre wieder geladen werden konnten, waren die Raubthiere an der Baumgruppe angelangt.
Marcel Lornans und Jean Taconnat wurden von der Löwin umgerannt, die schon die Tatzen über sie erhoben hatte, als eine Kugel Moktani's sie auf einen Moment ablenkte. Dann stürzte sie sich aber wieder, den Angriff erneuernd, auf die am Boden liegenden jungen Leute.
Das Gewehr des Herrn Dardentor krachte ein zweites Mal. Die Kugel schlug der Löwin in die Brust, doch ohne das Herz zu treffen, und wenn sich die beiden Vettern jetzt nicht aufspringend etwas zur Seite geflüchtet hätten, wären sie gewiß nicht mit gefunden Gliedern davongekommen.
Trotz der schweren Verwundung war die Wuth der Löwin noch immer zu fürchten. Der Löwe, der jetzt an ihrer Seite war, stürzte mit ihr auf die Gegner los, unter denen die Todesangst der Pferde und andern Gespanne die Verwirrung und das Entsetzen noch vermehrten.
Von dem Löwen gepackt, wurde Moktani ganz blutüberströmt gegen zehn Schritte weit hingezerrt. Jean Taconnat, den Revolver in der Hand, und Marcel Lornans mit dem neugeladenen Gewehre eilten wieder der Böschung zu. Da donnerten aber zwei Schüsse fast gleichzeitig und machten der Löwin ein Ende, die mit einem letzten Satze fast schon leblos zusammenbrach.
Mit einem zwanzig Fuß weiten Sprunge fiel der Löwe jetzt in höchster Wuth über Dardentor, der, unfähig von seiner Waffe Gebrauch zu machen und zur Erde stürzend, in Gefahr war, von der Last des Thieres erdrückt zu werden...
Jean Taconnat stürmte bis auf drei Schritte vor dem Löwen auf ihn zu und „er dachte jetzt gewiß nicht an die im Civilgesetzbuch vorgeschriebenen Bedingungen einer Adoption „drückte am Abzug seines Revolvers, der im Augenblicke der höchsten Noth... versagte...
Vor Angst unsinnig, hatten die Pferde und Gespanne sich voneinander losgerissen und jagten über die Felder hin. Moktani, der seine Waffe verloren hatte, schleppte sich wieder nach der Böschung, während Herr Désirandelle, Herr Oriental und Agathokles selbst zitternd noch vor den Damen standen...
Clovis Dardentor hatte sich nicht aufrichten können, und schon wollte der Löwe die Tatze in seine Brust einschlagen, als noch ein Schuß krachte...
Mit durchbohrtem Schädel warf das gewaltige Thier den Kopf nach rückwärts und fiel todt an der Seite des Perpignanesers nieder.
Louise Elissane war es gewesen, die Moktani's Revolver aufgehoben und aus unmittelbarer Nähe auf das Thier gefeuert hatte.
„Gerettet... durch sie gerettet!“ rief Dardentor. „Und sie steckten nicht in Schaffellen und hatten keine Rollen an den Beinen, diese Löwen hier!“
Dann erhob er sich mit einem Sprunge, der dem neben ihm liegenden Könige der Thiere keine Schande gemacht hätte.
Was also weder Jean Taconnat noch Marcel Lornans hatte thun können, das hatte das junge Mädchen gethan! Wohl verließen sie gleich danach die Kräfte und sie wäre umgefallen, wenn Marcel sie nicht mit den Armen aufgefangen und zu ihrer Mutter geführt hätte.
Jede Gefahr war vorbei, und was hätte Herr Dardentor jetzt mehr sagen können, als jene ersten, an Louise Elissane gerichteten Worte, die ihm tief aus dem Herzen gekommen waren?
So ging denn unser Perpignaneser mit Patrice und den Eingebornen zunächst daran, die entflohenen Pferde und Maulthiere wieder einzufangen. Das gelang ihnen bald, denn die durch den Tod des Löwenpaars beruhigten Thiere kamen schon von selbst nach der Straße zurück.
Der an Hüfte und Armen schwerverletzte Moktani wurde auf den einen Wagen niedergelegt, und Patrice mußte seinen Platz zwischen beiden Höckern des Meharis einnehmen, wo er sich als eben so vollendeter Sportsman erwies, als wenn er einen Vollblut-Araber geritten hätte.
Als Marcel Lornans und Jean Taconnat ihre beiden Pferde wieder bestiegen hatten, sagte der zweite zu dem ersten:
„Nun siehst Du... da hat er auch noch uns Beide gerettet, der ostpyrenäische Neufundländer! Nein, mit einem solchen Menschen ist nichts anzufangen!“
„Rein gar nichts!“ bestätigte Marcel Lornans.
Die Karawane setzte sich wieder in Gang. Eine halbe Stunde später erreichte sie Sidi-Lhassen und stieg um sieben Uhr am besten Hôtel von Sidibel-Abbès ab.
Zunächst wurde ein Arzt geholt, um Moktani in Behandlung zu nehmen, und dieser erkannte, daß die Verwundungen des Führers keine ernsteren Folgen haben würden.
Um acht Uhr speisten Alle gemeinschaftlich... eine schweigsame Mahlzeit, während der Alle wie auf Verabredung des Ueberfalls durch die Raubthiere gar nicht erwähnten.
Beim Nachtisch aber stand Herr Dardentor auf und wandte sich an Louise in so ernstem Tone, wie man ihn von ihm gar nicht gewöhnt war.
„Liebes Fräulein,“ begann er, „Sie haben mir das Leben gerettet...“
„O, ich bitte Sie, Herr Dardentor,“ rief das junge Mädchen, deren Wangen sich purpurroth färbten.
„Ja, gerettet... gerettet aus einem Kampfe, worin ich ohne Ihr muthiges Eintreten das Leben verloren hätte! Mit Erlaubniß Ihrer Frau Mutter wär' es nun, da Sie den im Artikel 345 des Civilgesetzbuches vorgeschriebenen Bedingungen entsprechen, mein lebhaftester Wunsch, Sie zu adoptieren...“
„Herr Dardentor...“ rief Frau Elissane, „ich bin ganz bestürzt über Ihren Vorschlag...“
„Keine Widerrede,“ unterbrach sie der Perpignaneser, „denn wenn Sie nicht zustimmen...“
„Nun, wenn ich nicht zustimme...“
„Heirate ich Sie, verehrte Frau, und da wird Fräulein Louise ganz von selbst doch meine Tochter!“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
015a Der rauschende Wasserfall von El-Ourit.
015b Es war ein Löwe und eine Löwin.
015c Als noch ein Schuß krachte...
015d Mit einem solchen Menschen ist nichts anzufangen.
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