Kapitel (Worin die Karawane Saïda verlässt und in Daya ankommt)

Am nächsten Tage, eine Stunde vor dem Aufbruche, wartete das Personal und das Material der Karawane am Bahnhofe auf das Eintreffen der Touristen. Der Anführer Derivas ertheilte die letzten Befehle. Der Araber Moktani sattelte sein Pferd. Drei offne Wagen und ein Proviantwagen, die auf dem Platze vor dem Bahnhofe standen und worauf die Kutscher schon Platz genommen hatten, waren fertig, mit ihren feurigen Gespannen im Galopp davonzufahren. Wiehernd bäumten sich ein Dutzend Pferde und Maulthiere, während reich geschirrte Kameele friedlich am Boden lagen. Fünf für die Dauer des Ausflugs angeworbne Eingeborne, die in ihren weißen Burnussen mit gekreuzten Armen in einem Winkel hockten, warteten nur auf das Signal des Anführers.

Mit der neun Personen zählenden Gruppe Dardentor sollte die Karawane aus sechzehn Theilnehmern bestehen. Andre sieben, von Oran gekommene Reisende „Herr Oriental inbegriffen „die seit zwei Tagen in Saïda weilten, hatten sich dieser, unter den besten Bedingungen organisierten Rundfahrt angeschlossen. Eine Dame befand sich unter jenen nicht. Frau und Fräulein Elissane, sowie Frau Désirandelle bildeten die einzigen Vertreterinnen des schöneren Geschlechts.


Clovis Dardentor und seine Gefährten und Gefährtinnen, denen Patrice schon vorausgegangen war, trafen zuerst auf dem Bahnhofe ein. Nach und nach erschienen die übrigen Touristen, meist Oraneser, von denen einige Frau Elissane kannten.

Das Fernrohr auf dem Rücken und die Reisetasche in der Hand, grüßte Herr Eustache Oriental die Ex-Passagiere des „Argeles“, die seinen Gruß erwiderten. Diesmal ging aber Herr Dardentor mit ausgestreckter Hand und lächelnd auf ihn zu.

„Sie sind auch dabei?“ fragte er.

„Jawohl,“ antwortete der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar.

„Ich sehe auch mit Vergnügen, daß Sie Ihr Fernrohr nicht vergessen haben. Desto besser, denn es könnte der Fall eintreten, daß man das Auge, und zwar ein scharfes Auge aufthun müßte, wenn die Führer uns etwa in die Patsche geritten hätten.“

Verdrossen wendete Patrice das Gesicht ab, während der Perpignaneser und der Montélimaraner sich kräftig die Hände schüttelten.

Inzwischen befreite Marcel Lornans Frau und Fräulein Elissane von den kleinen Reiseeffecten, die sie in den Händen trugen. Herr Désirandelle wachte dar über, daß die verschiednen Gepäckstücke auf dem Lastwagen sorgsam untergebracht wurden, und Agathokles neckte tölpelhaft das Maulthier seiner Wahl, dessen lange Ohren sich unheilverheißend aufrichteten. Jean Taconnat war nachdenklich und grübelte über die Zukunft nach diesen vierzehn Tagen, mit denen die Reise durch die südoranischen Gebiete zu Ende ging.

Die Karawane wurde nun schnell zusammengestellt. Der erste Wagen mit weichen Sitzkissen und Vorhängen am Schutzdache nahm Frau Elissane nebst Tochter und Herrn Désirandelle nebst Gattin auf. Den zweiten und den dritten besetzten fünf Touristen, die diese bequemere Beförderungsart dem Schaukeln auf Reitthieren vorzogen.

Die beiden Pariser waren mit einem Satze auf ihren Pferden, als Reiter, für die eine Beherrschung der edlen Thiere kein Geheimniß war. Agathokles kletterte möglichst unbeholfen auf sein Maulthier.

„Du würdest besser thun, Dich in unsern Wagen zu setzen, wo Dein Vater Dir seinen Platz einräumen könnte!“ rief ihm Herr Dardentor zu.

Herr Désirandelle zeigte sich diesem Platzwechsel nicht abgeneigt, weil sein Sohn dann zu Louise Elissane zu sitzen kam. Natürlich wollte Agathokles davon nichts hören, sondern bestand hartnäckig darauf, sein Thier zu reiten, das - nicht minder hartnäckig, - sich vornahm, ihm gelegentlich einen übeln Streich zu spielen.

Derivas, der Leiter des Ganzen, saß bereits im Sattel und auch zwei der andern Touristen auf ihren Pferden, als sich Aller Blicke Clovis Dardentor zuwandten.

Der außerordentliche Mann hatte sich mit Hilfe seines Dieners eben den Zerdani um die Schultern geworfen. Das Fez oder der Turban fehlte freilich seiner mit weißer Reisemütze bedeckten Stirn, seine Gamaschen vertraten aber nothdürftig die Rolle arabischer Stiefeln, und unter seiner Hülle hatte er entschieden „zur Genugthuung Patrice's „ein stolzes Aussehen: der Diener hoffte daraufhin, daß sich sein Herr später nur noch gewählter Worte bedienen und sich mit echt orientalischer Eleganz ausdrücken werde.

Dann setzte sich Herr Dardentor rittlings vor den Höcker des einen der knieend daliegenden Kameele und der Führer Moktani nahm auf dem Rücken des andern Platz. Hierauf erhoben sich die beiden Schiffe der Wüste ganz majestätisch, und mit graziöser Handbewegung begrüßte der Perpignaneser seine Reisegefährten.

„Anders thut er es niemals,“ sagte Frau Désirandelle.

„So lange ihm kein Unfall zustößt!“ murmelte das junge Mädchen.

„Was für ein Mann,“ raunte Jean Taconnat seinem Vetter zu, „wer würde nicht die Ehre schätzen, sich seinen Sohn nennen zu dürfen!“

„Und gleichzeitig ihn zum Vater zu haben!“ setzte Marcel Lornans hinzu, dessen prächtiger Pleonasmus bei seinem Vetter ein lautes Lachen hervorrief.

Mit voller Würde hatte sich Patrice auf seinem Maulthiere zurechtgesetzt, und Derivas gab nun das Zeichen zum Aufbruch.

Die Karawane war in folgender Weise zusammengesetzt: An der Spitze auf seinem Pferde der Oberanführer Derivas, dann auf zwei Kameelen der Führer Moktani und Herr Dardentor, weiter die beiden Vettern und zwei andre Touristen zu Pferde, nebst Agathokles, der sehr unsicher auf dem Maulthiere saß, ferner hintereinander die drei Wagen, von denen einer auch Herrn Oriental beförderte, und endlich der Lastwagen mit dem Proviant, dem Gepäck, einigen Waffen und den Eingebornen. außer zweien von diesen, die eine berittene Nachhut bildeten.

Die Entfernung von Saïda nach Daya betrug nicht über hundert Kilometer. Auf sorgsam festgestelltem Wege dahin sollte sich in der Mitte ein Weiler vorfinden, wo man am Abend gegen acht Uhr einzutreffen und die Nacht zu verbringen gedachte. Am nächsten Tage sollte es weiter gehen und Daya gegen Abend erreicht werden. Eine Meile für die Stunde gerechnet, verwandelte sich die Reise mehr zu einer Spazierfahrt durch die so verschieden gestaltete Landschaft.

Gleich hinter Saïda verließ die Karawane die Colonisationsländereien und trat auf das Gebiet von Béni-Méniarin über. In der Richtung nach Westen bot sich den Touristen hier ein großer Verkehrsweg, der sich bis Daya fortsetzt.

Der Himmel war mit Wolken bedeckt, die unter schwachem Nordostwind dahinzogen. Dadurch wurde auch die Luft zu einem angenehmen Grade abgekühlt. Die Sonne leuchtete nur soviel hernieder, um den Unterschied zwischen Schatten und Licht sichtbar zu machen und dem Landschaftsbilde damit erhöhten Reiz zu verleihen. Die Fahrt ging nur im langsamen Trabe vor sich, denn die Straße steigt von der Höhenmarke bei neunhundert bis zu der bei vierzehnhundert Meter an.

Nach Zurücklegung weniger Kilometer ließ die Karawane die Ruinen der alten Stadt links liegen, zog durch den Wald von Doul-Thabet und wendete sich den Quellen des Oued-Hounet zu. Weiter ging es längs des Waldes von Djessra-Cheraga hin, der eine Fläche von einundzwanzigtausend Hektaren bedeckt.

Im Norden zeigten sich nun die ausgedehnten Alfaculturen nebst ihren Scheunen und den Anlagen mit hydraulischen Pressen zur Erzeugung der „Stipa tendrissima“ „der Alfa der Araber. Diese, der Trockenheit wie der Hitze widerstehende Graminee dient als Futter für Pferde und Rinder, während ihre runden Blätter zur Herstellung von Matten und anderm Flechtwerk, zu Stricken, Tapeten, Fußbekleidungen und sehr festem Papier verwendet werden.

„Längs unsres Weges,“ bemerkte der Beamte gegen Herr Dardentor, „werden wir auf ungeheure Flächen mit Alfa, auf ausgedehnte Waldungen und Berge treffen, die Eisenerze liefern, und Steinbrüche für Marmor und Baumaterial zu sehen bekommen.“

„Wir werden also keine Ursache haben, uns zu beklagen,“ antwortete Clovis Dardentor.

„Wenigstens wenn sich uns malerische Aussichten bieten, fügte Marcel, der doch an etwas ganz andres dachte, hinzu.

„Giebt es in diesem Theile der Provinz viele Flüsse?“ fragte Jean Taconnat.

„Wenigstens Oueds,“ erklärte der Führer Moktani, davon aber mehr, als der Mensch Adern hat.

„Zu viele Wasseradern, im Plural,“ murmelte Jean Taconnat, „doch nicht eine einzige, die mir etwas nützen könnte!“

Die Gegend, durch die der Zug ging, gehört zum Tell, ein Name, dem man dem nach dem Mittelmeere zu abfallenden Landestheil gegeben hat. Von der Natur am meisten von der Provinz Oran begünstigt, zeigt er größere Wärme als die gesammte Berberei. Immerhin ist die Temperatur hier, wie auf den Hochebnen mit ihren Weideflächen und Salzseen, noch erträglich, während weiterhin, in der Sahara, wo die Luft sich oft mit einem blindmachenden Staube beladet, Pflanzen- und Thierwelt von der brennenden afrikanischen Sonne vernichtet werden.

Ist das Klima der Provinz Oran auch das wärmste von ganz Algerien, so ist es doch ebenfalls das gesündeste. Das verdankt es den häufigen Nordwestwinden. Der Theil des oranischen Tell, durch den die Karawane kommen sollte, ist auch weniger bergig als der Tell der Provinzen Algier und Constantine. Bei ihrer bessern Bewässerung eignen sich seine Ebnen mehr zum Anbau und der Boden ist von vorzüglicher Güte. So trifft man denn hier auf zahlreiche Culturen, vor allem auf Baumwollfelder, auf letztere wenigstens da, wo der Erdboden salzhaltig ist. und das ist bei dreimalhunderttausend Hektaren der Fall.

Unter dem Laubdache der ungeheuern Wälder, die die Karawane durchzog, hatte sie übrigens von der im Mai schon manchmal recht drückenden Sonnenhitze kaum zu leiden. Doch welch verschiedenartige, mächtige, üppige Vegetation bot sich hier dem Auge dar! Welch köstliche Luft, der so viele duftende Pflanzen ihren Wohlgeruch beimengten! Da gab es Brustbeer-, Johannisbrod-, Erdbeer-, Mastixbäume und Zwergpalmen, Thymian-, Myrthen- und Lavendelgebüsche und ganze Dickichte der werthvollsten Eichenarten, wie Kork-, Spiegel- und Steineichen, ferner Lebensbäume, Cedern, Buchen, Eschen, wilde Oelbäume, Pistazien und Wachholderbäume, Citronenbäume, die in Algerien so gut gedeihenden Eukalypten und Tausende von Aleppopinien, ohne von vielen andern ätherischen Pflanzenfamilien zu reden.

Ganz entzückt und frohgelaunt, in der Seelenverfassung, die jedem Anfang einer Reise eigen zu sein pflegt, legten die Ausflügler die erste Theilstrecke ihrer Fahrt zurück. Die Vögel sangen, wo sie vorüberkamen, und Herr Dardentor behauptete, die algerische Eisenbahngesellschaft habe dieses Concert in liebenswürdiger Weise bestellt. Sein Mehari trug ihn mit der einer so gewichtigen Person zukommenden Haltung, und wenn er sich beim Traben des Wiederkäuers auch zuweilen an dessen Höcker stieß, behauptete er doch flottweg, ein so sanftes und gleichmäßiges Reitthier noch niemals gefunden zu haben.

„Das übertrifft doch jede Mähre beiweitem!“ versicherte er.

Pferd - nicht Mähre! hätte Patrice gesagt, wenn er neben seinem Herren gewesen wäre.

„Wirklich, Herr Dardentor,“ fragte Louise Elissane, „erscheint das Thier nicht zu hart?“

„Nein, liebes Fräulein, höchstens könnte ich ihm zu hart erscheinen, wie so ein Marmorblock aus den Pyrenäen... was?“

Die Reiter hatten sich eben dem Wagen genähert und wechselten mit dessen Insassen einige Worte. Marcel Lornans und Jean Taconnat konnten dabei mit Frau Elissane und ihrer Tochter plaudern - zum Aerger der Désirandelle's, die stets ihren Agathokles, welcher mit seinem Maulthier zuweilen in Streit lag, im Auge behielten.

„Nimm Dich in Acht, daß Du nicht fällst!“ empfahl ihm seine Mutter, „wenn das Thier gelegentlich einen schnellen Seitensprung machte.“

„Wenn er fällt, wird er schon wieder in die Höhe kommen,“ meinte Herr Dardentor, „Achtung, Agathokles, lass' Dich nicht absatteln!“

„Ich hätte es lieber gesehen, daß er mit in einem Wagen säße,“ sagte Herr Désirandelle.

„He da, wohin will er denn?“ rief plötzlich der Perpignaneser. „Will er denn nach Saïda zurück?... He, Agathokles... Du bist ja auf falschem Wege!“

Trotz der Bemühung seines Reiters wollte aber das bockende und sich schüttelnde Maulthier keine Vernunft annehmen und machte starrsinnig Kehrt.

Man mußte einige Minuten anhalten, und Patrice wurde von seinem Herrn nachgeschickt, um das dumme Thier zurückzuführen.

„Wem gilt das - dumme Thier“, fragte Jean Taconnat halblaut, „dem Reiter oder dem Maulesel?“

„Allen beiden!“ murmelte Marcel Lornans.

„Meine Herren... meine Herren... etwas Nachsicht!“ antwortete Herr Dardentor, der das Lachen freilich nur mühsam unterdrücken konnte.

Louise hatte jene Bemerkung aber auch gehört, und es ist nicht unmöglich, daß dabei ein Lächeln um ihre Lippen spielte.

Endlich legte sich die Unruhe der Frau Désirandelle. Patrice hatte Agathokles eingeholt und führte das widerspänstige Thier zurück.

„Meine Schuld war es nicht,“ erklärte der Schwachkopf, „ich konnte ziehen, was ich wollte...“

„Aus der Tinte ziehst Du Dich doch niemals!“ versetzte Herr Dardentor, dessen weitschallende Stimme ein Volk beflügelter Sänger aus einem nahen Mastixgebüsch aufscheuchte.

Gegen zehn Uhr hatte die Karawane die Grenze überschritten, die den Béni-Méniarin vom Djafra-ben-Djafour scheidet. Die Passage eines Nebenarmes des Hounet, der die Oueds der nördlichen Gegend speist, ging ohne Schwierigkeit von statten. Dasselbe wiederholte sich einige Kilometer weiterhin beim Fénouan, dessen Quellen aus dem dichten Unterholz des Waldes von Chéraga hervortreten. Die Gespanne kamen dabei kaum bis zur Fessel ins Wasser.

Zwanzig Minuten vor der Zeit des höchsten Sonnenstandes wurde von Moktani das Zeichen zum Halten gegeben, und zwar an einer prächtigen Stelle, um am Saume eines Waldes, unter dem Schatten immergrüner, für die Sonnenstrahlen undurchdringlicher Eichen, am Rande des Oued-Fénouan mit seinem frischen klaren Wasser ein Frühstück einzunehmen.

Die Reiter verließen ihre Pferde und Maulthiere, die sich bekanntlich nicht erst zur Erde zu legen pflegen.

Die beiden Meharis (Kameele) beugten die Knie und streckten die langen Köpfe auf dem Grase des Weges aus. Clovis Dardentor und der Führer gingen ans Land „ein Ausdruck, der hier ganz passend ist, da die Kameele ja „die Schiffe der Wüste“ genannt werden.

Unter Ueberwachung der Eingebornen weideten die übrigen Thiere in der nächsten Umgebung. Ihre Mahlzeit aus Alfa, Diß und Chieh stand neben einem Gehölz von Terpentinsichten, wahren Musterexemplaren der Tellwälder, schon fertig.

Vom Lastwagen holte man nun den von Sada mitgebrachten Proviant, der aus verschiedenen Conserven, kaltem Fleisch, frischem Brod und aus appetitlichen Früchten in laubgefütterten Körben, wie aus Bananen, Goyaven, Feigen, japanischen-Mispeln, Birnen, Chermollas und Datteln bestand. Nach der Fahrt in freier Luft fehlte es auch niemand an gehörigem Hunger.

„Diesmal,“ bemerkte Jean Taconnat, „ist kein Kapitän Bugarach da, der das Steuer zur Frühstücksstunde so umlegen könnte, daß einem der Appetit verginge.“

„Wie, das hätte sich der Kapitän des „Argeles“ unterstanden?“ fragte Herr Désirandelle.

„Ja wohl, mein Bester, das hat er gewagt,“ rief Herr Dardentor, „und zwar im Interesse der Gesellschaftsactionäre. Erst die Dividende, die Passagiere können zusehen, wie sie dabei wegkommen! Desto besser für die, die einen ausgepichten Magen haben und sich um so ein Bischen Schwanken den Teufel kümmern!“

Patrice hatte dreimal die Nase gerümpft.

„Hier aber,“ fuhr Herr Dardentor fort, „bewegt sich der Fußboden nicht und wir brauchen keine Roll- und Stampftafel!“

Patrice ließ die Ohren hängen.

Das Essen wurde auf dem Grase aufgetragen. Da fehlte es weder an Schüsseln, Tellern und Gläsern, noch an Messern, Gabeln und Löffeln - alles von erfreulichster Sauberkeit.

Selbstverständlich verzehrten die Touristen ihre Mahlzeit gemeinsam, was ein näheres Bekanntwerden der Theilnehmer begünstigte. Jeder setzte sich nach Belieben „Marcel Lornans aus Discretion nicht zu nahe neben Fräulein Elissane, doch freilich auch nicht zu weit von ihr, neben seinen Retter, den er anbetete, nachdem dieser ihn „den züngelnden Flammen eines brennenden Waggons“ entrissen hatte!... ein prächtiger Satz, den Herr Dardentor gerne wiederholte und der jedesmal Patrice's Beifall fand.

An der ländlichen Tafel gab es heute kein „gutes“ und kein „schlechtes Ende“. Die Gerichte wurden nicht von einer einzigen Stelle aus herumgereicht. Herr Eustache Oriental hatte also keine Ursache, nach dem besten Platze zu suchen, für welche Neigung er an Bord des Dampfers so überzeugende Beweise geliefert hatte. Immerhin hielt er sich etwas abgesondert, seinem scharfen Blicke entgingen die besten Stücke dennoch nicht. Jean Taconnat gelang es zwar, ihm mit der Gewandtheit eines Taschenspielers einige solche vor der Nase wegzufischen, Herr Oriental verzog dazu das Gesicht aber auch in verdrießlichster Weise.

Die erste Mahlzeit unter freiem Himmel verlief sehr heiter. Von ansteckender Lustigkeit wurden ja stets alle befallen, wenn unser Perpignaneser, der sich wie ein Bergbach freien Lauf ließ, den Vorsitz führte. Bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Man sprach von der Reise, von den Ueberraschungen, an denen es dabei nicht fehlen würde, und von den Zufälligkeiten einer Fahrt durch diese interessanten Landestheile. Dazwischen stellte Frau Elissane auch die Frage, ob man hier nichts von Raubthieren zu fürchten habe.

„Von Raubthieren?“ antwortete Clovis Dardentor. „Pah, sind wir denn nicht zahlreich genug? Liegen auf dem Lastwagen nicht hinreichende Gewehre, Revolver und Patronen dazu? Wissen etwa meine jungen Freunde Jean Taconnat und Marcel Lornans, die doch schon ihr Jahr abgedient haben, nicht mit Schießwaffen umzugehen? „Und giebt es unter unsern Gefährten keine, die nicht schon Schützenpreise eingeheimst hätten? Ich will mich nicht rühmen, doch ich würde auf vierhundert Meter keine Mühe haben, eine conische oder andre Kugel durch den Deckel meines Ohrenfutterals zu jagen!“

„Hm!“ brummte Patrice, dem diese Bezeichnung für einen Hut ganz und gar nicht gefiel.

„Meine Damen,“ ließ sich darauf der Beamte Derivas vernehmen, „bezüglich etwaiger Raubthiere können Sie ganz ruhig sein! Da wir nur am Tage reisen, ist ein Angriff durch solche überhaupt nicht zu befürchten. Nur in der Nacht verlassen die Löwen, die Panther, die Guepards und Hyänen ihre Höhlen. Des Abends wird sich unsre Karawane aber stets im Schutze eines europäischen oder arabischen Dorfes befinden.“

„Papperlapapp!“ fuhr Clovis Dardentor fort, „mich kümmern Eure Panther so viel wie ein krepierter Kater, und Eure Löwen,“ setzte er hinzu, während er mit dem ausgestreckten Arme scheinbar auf einen solchen zielte... „Pang!... Pang! Unter das Wurstmesser mit dem Burschen!“

Patrice beeilte sich schon, eine Schüssel herbeizuholen, die niemand verlangt hatte.

Der Bahnbeamte hatte übrigens ganz recht: im Laufe des Tages war ein Angriff durch wilde Thiere kaum zu erwarten. Um die andern Bewohner dieser Wälder, die Schakale, geschwänzten und ungeschwänzten Affen, Füchse, um die Mousions, Gazellen und Strauße brauchte man sich keine Sorge zu machen, nicht einmal um Skorpione und manchmal giftige Nattern, die im Tell nur sehr vereinzelt vorkommen.

Es wäre überflüssig, hervorzuheben, daß die Mahlzeit mit guten algerischen Weinen, vorzüglich mit Weißem von Mascara, begossen wurde, vom Kaffee und den Likören zum Nachtisch ganz zu schweigen.

Um halb zwei Uhr wurde der Marsch wieder in der früheren Ordnung angetreten. Der Weg führte jetzt tiefer durch den Wald von Tendfeld und man verlor die weiten Alfaculturen aus dem Gesicht. Zur Rechten zeigten sich die unter dem Namen Eisenberge bekannten Höhen, aus denen vorzügliches Erz gewonnen wird. Unsern davon giebt es noch Schächte römischen Ursprungs, die schon im Alterthum zur Förderung desselben dienten.

Auf allen die Waldzone der Provinz durchschneidenden Pfaden begegnet man Arbeitern, die in den Bergwerken oder den Alfabereitungsanstalten beschäftigt sind. Die meisten davon zeigen maurischen Typus, doch untermischt mit Lybiern, Berbern, Arabern, Türken und andern Orientalen, und zwar ebenso unter denen, die in den Tiefebnen, wie unter denen, die in der Bergregion, auf den Hochebnen und am Rande der Wüste wohnen. Sie kamen hier truppweise vorüber und von ihnen war kein „von Jean Taconnat geträumter „Ueberfall zu befürchten.

Abends gegen sieben Uhr erreichten die Touristen den Kreuzungspunkt der Landstraße mit dem Fahrwege der Alfazüchter, der, von der Straße von Sidi-bel-Abbès nach Daya abzweigend, bis nach den entlegensten Gebietstheilen der francoalgerischen Gesellschaft fortgeführt ist.

Hier lag auch ein Weiler, wo die Karawane, ihrem Reiseplane entsprechend, die Nacht zubringen sollte. Drei recht wohlerhaltene Häuser waren zu ihrer Aufnahme eingerichtet. Nach dem Abendessen suchte jeder sein Lager auf und auf die erste Wegstrecke von zwölf Lieues folgten nun zehn Stunden ungestörter Ruhe.

Am folgenden Morgen setzte sich die Karawane wieder in Bewegung und zog mit der nöthigen Schnelligkeit vorwärts, um im Laufe des Tages die zweite Theilstrecke bis Daya zurückzulegen.

Vor dem Aufbruche aber hatte Herr Dardentor mit Herrn und Frau Désirandelle, die er etwas bei Seite führte, folgendes Gespräch:

„Sagt mir nur, liebe Freunde, wie steht das mit Eurem Sohne... und dem Fräulein Louise?... Die Geschichte scheint mir nicht vom Flecke zu rücken. Zum Teufel, er muß einmal zum Sturme übergehen...

„Ja, was denken Sie denn, Herr Dardentor,“ antwortete Herr Désirandelle, „er ist so discreter Natur... hält sich in der Reserve...“

„Schöne Reserve! fiel der Perpignaneser das Wort aufgreifend ein. Bleibt mir weg... er ist ja noch nicht einmal in der Landwehr! Er sollte doch immer neben Eurem Wagen hertrotten, der Tropf, sollte sich bei den Halteplätzen um seine Verlobte bekümmern, freundlich mit ihr schwatzen und ihr über ihre gute Haltung und ihr hübsches Aussehen ein paar Schmeicheleien sagen, mit einem Wort, den ganzen Rosenkranz von Nichtsen ableiern, den man unter solchen Umständen einem jungen Mädchen vorbetet. Nein, er thut aber den Schnabel nicht auf, dieser Satan von Agathokles!“

„Herr Dardentor,“ begann da Frau Désirandelle, „wollen Sie, daß ich Ihnen etwas sage... alles, was ich auf dem Herzen habe?“

„Schießen Sie los, geehrte Frau!“

„Nun, es war unrecht von Ihnen, die beiden Pariser mitzubringen!“!

„Jean und Marcel?“ erwiderte der Perpignaneser. „Erstens hab' ich sie nicht mitgebracht... sie sind ganz allein gekommen! Daran konnte sie doch niemand hindern...“

„Desto schlimmer, denn das ist sehr ärgerlich!“

„Ja, warum denn?“

„Weil sich der eine mit Louise mehr zu schaffen macht, als recht und billig ist. Frau Elissane ist sein Benehmen auch schon aufgefallen.“

„Welchen meinen Sie denn?“

„Nun. den Herrn Lornans... den ich nicht ausstehen kann.“

„Ich auch nicht, stimmte Herr Désirandelle ein.“

„Wie,“ rief Dardentor, „meinen Freund Marcel? Ihn, den ich den züngelnden Flammen entrissen habe...“

Er verschluckte aber diesmal einen Theil des schönen Satzes.

„Ich bitt' Euch, liebe Freunde,“ fuhr er fort, „da seid Ihr wohl auf dem Holzwege! Marcel Lornans beschäftigt sich mit unsrer lieben Louise nicht mehr, als ein Flußpferd mit einem Veilchensträußchen!... Nach Beendigung unsres Ausflugs kehren Jean Taconnat und er nach Oran zurück, um bei den Siebenten Jägern einzutreten. Geht mir, das habt Ihr geträumt!... Wenn Marcel nicht gekommen wäre, hätt' ich auch gar nicht Gelegenheit gehabt, ihn...“

Der Satz endigte mit den vier Worten „brennenden Waggons zu entreißen“.

In der That war der würdige Mann bezüglich jener Andeutungen noch recht naïv, und doch, wenn „es mit Agathokles nicht vorwärts ging“, so war gar nicht zu leugnen, daß „es sich mit Marcel machte“.

Gegen neun Uhr gelangte die Karawane in den ausgedehntesten Wald der ganzen Provinz, in den von Zegla, den die Landstraße schief durchschneidet, indem sie sich nach Daya zu hinabsenkt. Jener Wald umfaßt übrigens achtundsechzigtausend Hektar.

Zu Mittag war die nächste Theilstrecke überwunden, und wie am Vortage frühstückte man im kühlen Baumschatten am Ufer des Oued-Sefioum.

Herr Dardentor befand sich dabei in der Gemüthsverfassung, daß er gar nicht darauf achtete, ob Marcel Lornans sich gegen Fräulein Elissane besonders aufmerksam erwies oder nicht.

Während des Frühstücks bemerkte Jean Taconnat, daß Herr Oriental seiner Reisetasche verschiedne Süßigkeiten entnahm, die er, ohne jemand davon anzubieten, mit dem Behagen eines echten Leckermauls verzehrte. Wie immer, hatte er es auch jetzt auf die besten Stücke der Mahlzeit abgesehen.

„Diese zu entdecken, braucht er sein Fernrohr nicht,“ sagte Jean Taconnat zu Herrn Dardentor.

Am Nachmittage gegen drei Uhr machten Wagen, Pferde, Kameele und Maulthiere vor den Berberruinen von Taourira Halt, für die zwei Touristen, mehr Archäologen als die andern, besondres Interesse bekundeten.

Auf dem weitern Wege nach Südwesten trat die Karawane auf das Gebiet von Djafra-Thouama und Mehamid über, das vom Oued-Taoulita bewässert wird. Hier bedurfte es nicht einmal des Ausspannens der Wagen, um diesen mittelst einer gangbaren Furt zu überschreiten.

Der Führer zeigte übrigens viele Intelligenz - jene Intelligenz, die ein reichliches Trinkgeld erwartet, wenn die Reise zur allgemeinen Zufriedenheit abge laufen ist.

Gegen acht Uhr abends endlich tauchte am Ende eines kleinen gleichnamigen Waldes im Dämmerlichte der Flecken Daya auf.

Ein ziemlich gutes Gasthaus empfing die ganze, etwas ermüdete Gesellschaft.

Vor dem Zubettgehen sagte einer der Pariser zum andern:

„Na, Marcel, wenn wir nun von Raubthieren überfallen würden, wenn wir das Glück hätten, Herrn Dardentor aus den Klauen eines Löwen oder eines Panthers zu retten, sollte das nicht zählen?“

„Gewiß.“ antwortete Marcel schon halb im Einschlafen. „Ich sage Dir aber im voraus, daß Er es nicht ist. den ich bei einem Angriffe dieser Art zu retten suchen würde...“

„Sapperment... das ist stark!“ stieß Jean Taconnat hervor.

Als er sich dann niedergelegt hatte und ein gewisses Brüllen in der Umgebung des Fleckens vernahm, rief er:

„Still geschwiegen, dummes Viehzeug, das den ganzen schönen Tag verschläft!“

Und ehe er die Augen schloß. setzte er noch hinzu:

„Es steht also im Schicksalsbuch geschrieben, daß ich nicht der Sohn... nicht einmal der Enkel des vortrefflichen Mannes werden soll!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
012a Weiter ging es längs des Waldes von Djeffra-Cheraga hin.

012a Weiter ging es längs des Waldes von Djeffra-Cheraga hin.

012b Es war unrecht von Ihnen, die beiden Pariser mitzubringen!

012b Es war unrecht von Ihnen, die beiden Pariser mitzubringen!

alle Kapitel sehen