Kapitel (Worin Tlemcen nicht so eingehend besichtigt wird, wie es das verdient)

Sebdou, der Hauptort eines Kreises, ein gemischtes Gemeinwesen mit sechzehntausend Einwohnern - darunter kaum einige Dutzend Franzosen - liegt inmitten einer Gegend mit herrlichen Landschaften, ausnehmend gesundem Klima und unvergleichlich fruchtbarem Boden. Man sagt selbst, es sei das Tafraoua der Eingebornen gewesen. Jean Taconnat bekümmerte sich darum freilich so wenig, „wie ein Lachs um eine Zahnzange“, wie Clovis Dardentor auf die Gefahr hin, seinen treuen Diener zu verletzen, hätte sagen können.

Jean Taconnat hatte sich in der That weder nach der Ankunft in El-Gor, noch seit dem Eintreffen in Sebdou wieder beruhigen können. Während des Restes des Tages, den die Karawane in dem kleinen Städtchen zubrachte, war er nicht aus seinem Zimmer zu bringen. Marcel Lornans mußte ihn sich selbst überlassen. Er wollte niemand sehen, mit niemand sprechen. Die Dankbarkeit, die er doch dem muthigen Perpignaneser schuldete, vermochte er nicht zu empfinden, noch weniger sie auszusprechen. Ja, wenn er seinem Retter hätte an den Hals springen können, hätte er ihn am liebsten gleich erwürgt.


Infolge dessen waren es nur Herr Dardentor nebst Marcel Lornans und einige andre Touristen, die sich treu an das Reiseprogramm hielten, welche Sebdou gewissenhaft in Augenschein nahmen. Die Damen, die sich von der Aufregung und Anstrengung noch nicht recht erholt hatten, beschlossen, den Tag der Ruhe zu widmen „ein Beschluß, der Marcel Lornans nicht wenig verdroß. da er Louise Elissane nun nur beim Frühstück und beim Mittagessen zu Gesicht bekommen sollte.

Sebdou bot im Ganzen nicht viel Sehenswerthes und eine Stunde hätte genügt, das ganze Städtchen kennen zu lernen. Clovis Dardentor fand darin jedoch das gewöhnliche Contingent von Kalk- und Ziegelbrennereien nebst Getreidemühlen, die fast in allen Städten der Provinz Oran anzutreffen sind. Seine Begleiter und er wanderten um die bastionierte Mauer, die die Ortschaft einschließt. welche einige Jahre hindurch ein vorgeschobener Posten der französischen Colonie war. Da an diesem Tage, einem Mittwoch, aber großer arabischer Jahrmarkt war, hatte unser Perpignaneser mit der Beobachtung des lebhaften Verkehrs grade genug zu thun.

Am folgenden Tage, dem 19. Mai, brach die Karawane beizeiten auf, um die vierzig Kilometer, die Sebdou von Tlemcen trennen, zurücklegen zu können.

Jenseits des Oued-Merdja, eines Zuflusses des Tafna, aus der Stadt gekommen, zog sie an ausgedehnten Alfaanlagen hin, überschritt Aïns (Quellbäche) mit klarem Wasser, zog durch kleinere Wälder, hielt einmal zum Frühstück in einer fünfzehnhundert Meter hoch gelegenen Karawanserei, und erreichte, auf dem fernern Wege durch das Dorf Terni und über die Schwarzen Berge, jenseits des Oued-Sakaf, endlich Tlemcen.

Nach dem tüchtigen Marsche nahm ein gutes Hôtel die ganze Gesellschaft auf, die hier sechsunddreißig Stunden zu rasten gedachte.

Unterwegs hatte sich Jean Taconnat abseits gehalten und antwortete kaum auf die quasi-väterlichen Vorstellungen des Herrn Dardentor. Seiner Enttäuschung mischte sich eine gewisse Dosis Scham bei. Er... dem verpflichtet, den er sich verpflichten wollte! An diesem Morgen und nachdem er seit dem Vorabend geschmollt hatte, sprang er aus dem Bette und weckte Marcel Lornans mit dem Zurufe:

„Nun... was sagst Du denn dazu?“

Der Schläfer konnte gar nichts dazu sagen, einfach weil sein Mund noch ebenso geschlossen war, wie seine Augen.

Sein Vetter lief hin und her, focht mit den Armen und kreuzte sie wieder, während er laute Anschuldigungen hören ließ. Nein, von jetzt nahm er die Sache nicht mehr, wie er versprochen hatte, von der heitern Seite. Er war entschlossen, sie nun tragisch zu nehmen.

Auf die vorige, wiederholt an ihn gestellte Frage konnte der junge Pariser, der sich nun aufrichtete, nur antworten:

„Ich sage zunächst, Jean, daß Du Dich beruhigen mußt! Wenn Einen das Pech so hartnäckig verfolgt, ist es am besten, sich zu unterwerfen....“

„Oder sich selbst wegzuwerfen!“ fiel Jean Taconnat ein. „Ich kenne das, zu meinen Wahlspruch mach' ich's aber nicht! Nein, wahrlich, das ist doch gar zu stark! Von den drei Bedingungen, die das Gesetzbuch vorschreibt, wären nun schon zwei, das Feuer und das Wasser, eingetroffen. Und dieser unqualificierbare Dardentor, der doch ebenso hätte in die Flammen des Bahnzugs gerathen oder unter dem Hochwasser des Sar verschwinden und den wir, Du oder ich, hätten retten können... Er mußte es sein, der die Rolle des Retters spielte! Und Du bist es, Marcel, den die Feuersbrunst, und ich, Jean, den das Wasser sich zum Opfer ersehen hatte....“

„Willst Du einen Rath von mir hören?“

„Nun laß' los, Marcel! »

„Ich muß Dir gestehen, ich finde die ganze Geschichte höchst drollig!“

„Ah so... Du findest das drollig?...“

„Ja, und ich meine, wenn der dritte Zufall einträfe, wenn es z. B. während des letzten Theils der Reise noch zu einem Kampfe käme, müßte ich stark irren, wenn es nicht Dardentor wäre, der uns gleich alle beide rettete!“

Jean Taconnat stampfte mit dem Fuße auf, stieß die Stühle hin und her und trommelte an die Fensterscheiben, daß sie fast zersprangen. Eigenthümlich ist es aber, daß dieser Ingrimm bei einem Phantasten seines Schlages wirklich echt war.

„Siehst Du, mein alter Jean, fuhr Marcel Lornans fort, Du wirst schon darauf verzichten müssen, Dich von Herrn Dardentor adoptieren zu lassen, wie ich für meinen Theil darauf verzichtet habe...“

„Niemals!“

„Um so mehr, als er jetzt, wo er Dein Retter geworden ist, Dich ebenso ins Herz schließen wird, wie schon vorher mich, dieser Nacheiferer des unsterblichen Perrichon!“

„Ich brauche seine Liebe und Verehrung nicht, Marcel, wohl aber seine Adoption, und Mohammed soll mir den Hals umdrehen, wenn ich nicht das Mittel entdecke, sein Sohn zu werden.“

„Und wie soll Dir das gelingen, da der Zufall ihn so unabänderlich begünstigt?“

„Ich stelle ihm Mardereisen... stoße ihn in den ersten besten Fluß, der uns in den Weg kommt... ich stecke sein Zimmer, wenn nöthig, sein Haus in Brand... ich bestelle mir eine Rotte Beduinen oder Touaregs, die uns unterwegs überfallen... überall stell' ich ihm Fallen...“

„Und weißt Du, was mit Deinen Fallen geschehen wird, Jean?“

„Nun, das liegt doch auf der Hand...“

„Du wirst selbst hineingerathen und Herr Dardentor, der Günstling der guten Feen, der Bote der Vorsehung, das Urbild der erfolgreichen Menschen, wird Dich daraus befreien, er, dem in seinem Leben alles geglückt ist, für den sich das Rad der Frau Fortuna nur im günstigen Sinne dreht.“

„Ich werde es schon durchzusetzen wissen, daß sie die Kurbel losläßt!“

„Uebrigens, Jean, befinden wir uns jetzt in Tlemcen...“

„Nun, was soll das...?“

„Binnen drei bis vier Tagen werden wir wieder in Oran sein und dort am klügsten thun, alle vagen Zukunftspläne in den Schacht der Vergessenheit zu werfen und unsern Dienstcontract zu unterzeichnen...“

Bei den letzten Worten nahm Marcel Lornans' Stimme freilich eine ganz andre Klangfarbe an.

„Doch sage mir, mein armer Freund,“ fuhr Jean Taconnat fort, „ich glaubte doch, daß Louise Elissane...“

„Ja... Jean... ja!... Doch... warum daran denken?... An einen Traum, der sich niemals verwirklichen wird!... Jedenfalls werde ich diesem jungen Mädchen eine unauslöschliche Erinnerung bewahren.“

„So weit hast Du bereits Verzicht geleistet?“

„Ja, leider!“

„Fast so weit, wie ich auf die Hoffnung, Herrn Dardentor's Adoptivsohn zu werden!“ rief Jean Taconnat. „Wenn ich Dir gegenüber ganz offen sein soll, scheint es mir, daß von uns beiden Du die meiste Aussicht auf Erfolg hast....“

„Du bist thöricht!“

„Nein... Dich verfolgt das Pech weniger, und ich glaube, es wird Fräulein Elissane leichter sein, Frau Lornans, als Jean Taconnat einmal Jean Dardentor zu werden, obgleich es sich bei mir nur um einen Namenswechsel handelt!“

Während die beiden jungen Leute dieses Gespräch bis zum Frühstück fortsetzten, beschäftigte sich Clovis Dardentor mit Unterstützung Patrice's mit seiner Toilette. Tlemcen und dessen Umgebungen sollten erst am Nachmittage besucht werden.

„Na, Patrice,“ fragte der Herr den Diener, „was denkst Du denn von jenen beiden jungen Leuten?“

„Von Herrn Jean und Herrn Marcel?...“

„Ja, von ihnen.“

„Ich denke, der eine davon wäre in den Flammen und der andre im Wasser umgekommen, wenn der Herr sich nicht auf die Gefahr des eignen Lebens hin aufgeopfert hätte, sie einem schrecklichen Tode zu entreißen.“

„Es wäre auch schade um sie gewesen, Patrice, denn Beide verdienen ein recht langes und glückliches Leben. Mit ihrem liebenswürdigen Charakter, ihrer guten Laune, ihren Kenntnissen und ihrem Geist werden sie in der Welt schon vorwärts kommen; nicht wahr, Patrice?“

„Ich theile gänzlich die Ansicht des Herrn... der Herr wird mir aber eine Bemerkung gestatten, zu der mich persönliche Beobachtungen veranlassen.“

„Die gestatt' ich Dir, wenn Du nicht zu lange Phrasen drechselst.“

„Nun, wie? Bestätigt der Herr vielleicht die Richtigkeit meiner Beobachtungen?“

„Packe sie doch erst aus und geh' nicht wie die Katze um den Brei!“

„Den Brei... den Brei!“ stieß Patrice hervor, „der sich schon von dem „drechseln“ beleidigt gefühlt hatte.“

„Na, bist Du endlich zum Losplatzen fertig?“

„Wird der Herr mir erlauben, mein Urtheil über den Sohn des Herrn und der Frau Désirandelle auszusprechen?“

„Ueber Agathokles?... Das ist ein guter Junge... es mag ihm ein wenig... meinethalben recht viel fehlen... er will immer nur mit dem linken Fuß auftreten. Er ist eine jener Naturen, die sich erst nach der Verehelichung entwickeln. Wer weiß, er ist etwas hölzern! Gieb mir meinen Bartkamm...“

„Hier ist der Kamm des Herrn.“

„Jedenfalls aber aus dem Holz, aus dem man die besten Ehemänner schnitzt. Jetzt hat man für ihn eine vortreffliche Partie ausgesucht und ich bin überzeugt, daß das allseitig von den glücklichsten Folgen sein wird. Ich sehe aber noch nichts von Deiner Beobachtung, Patrice...“

„Sie wird sofort offenbar werden, wenn der Herr gewillt ist, noch eine zweite Frage zu beantworten, die seine Güte mir zu stellen erlaubt...“

„Bringe, stelle, lege sie vor!“

„Was denkt der Herr über Fräulein Elissane?“

„O, sie ist reizend, entzückend, gut, schön gewachsen, geistvoll, kenntnißreich, gleichzeitig übermüthig und ernsthaft... die Worte fehlen mir, ebenso wie meine Haarbürste. Wo ist denn nun wieder meine Haarbürste hinverpackt?“

„Hier ist die Haarbürste des Herrn.“

„Und wenn ich verheiratet wäre, da wünscht ich mir so eine...“

„Haarbürste?...“

„Nein, Einfaltspinsel, eine Frau, wie die liebe Louise! Das Eine sag' ich, Agathokles kann sich des Glücks rühmen, ein so großes Loos gezogen zu haben.“

„Der Herr glaubt also, daß diese Heirat so gut wie sicher sei?“

„So sicher, als ob Beide vor dem Standesamte schon das Protokoll unterschrieben hätten. Uebrigens sind wir ja einzig deshalb nach Oran gekommen. Freilich hätte ich gehofft, daß die zwei Zukünftigen auf der Reise einander mehr näher treten würden. Doch auch gut so, die Sache wird sich schon machen. Junge Damen thun ein bischen zimperlich, das liegt so in ihrer Natur. Denke dran, was ich Dir sage: In drei Wochen tanzen wir auf der Hochzeit, und da sollst Du Dein blaues Wunder sehen, da will ich ihnen schon etwas aus dem ff vorhopsen!“

Patrice verschluckte nur mit Mühe seinen Widerwillen, eine so feierliche Ceremonie durch „vorhopsen“ entweiht zu sehen.

„Na, ich bin parat,“ erklärte Herr Dardentor, „ich weiß aber immer noch nichts von Deiner durch persönliche Beobachtungen veranlaßten Bemerkung.“

„Gewiß persönliche, und ich wundere mich nur, daß diese dem Scharfblick des Herrn entgangen zu sein scheinen.“

„Nun aber vorwärts, altes Stückfaß, rolle doch, wohin man Dich treibt!... Deine Bemerkung...“

„Ist so richtig, daß sie der Herr nach einer dritten Frage selbst machen wird.“

„Noch eine dritte!“

„Wenn der Herr nicht wünscht...“

„Komm doch einmal zur Sache, Trödelfritz! Das sieht ja grade aus, als wolltest Du mich absichtlich wüthend machen.“

„Der Herr weiß, daß ich eines solchen Unterfangens gegen seine Person nicht fähig wäre.“

„Willst Du nun die dritte Frage auspacken... ja oder nein?“

„Hat der Herr nicht das Benehmen des Herrn Marcel Lornans seit der Abreise aus Oran bemerkt?“

„Des lieben Marcel?... Nun ja, er hat sich sehr dankbar gezeigt für den kleinen Dienst, den ich ihm erweisen konnte... und auch seinem Vetter... der es nicht so von sich zu geben versteht.“

„Es handelt sich hier nur um Herrn Marcel Lornans, nicht um Herrn Jean Taconnat, antwortete Patrice. Ist es dem Herrn nicht aufgefallen, daß Fräulein Elissane jenem ungemein zu gefallen scheint, daß er sich mit ihr mehr beschäftigt, als es sich gegenüber einer von den Banden der Ehe schon halb gefesselten jungen Dame schickt, und daß Herr und Frau Dósirandelle schon einen nicht unbegründeten Verdacht hegen?“

„Das hättest Du gesehen, Patrice?“

„Wenn der Herr nichts dawider hat.“

„Ja, ja, habe auch schon etwas läuten gehört... die gute Frau Dósirandelle.... Bah, es ist doch reine Einbildung...“

„Ich wage, dem Herrn zu versichern, daß Frau Dósirandelle das nicht nur allein bemerkt hat...“

„Ihr wißt nicht, was Ihr sprecht, weder die Einen, noch die Andern! rief Clovis Dardentor. Und wenn es der Fall wäre, was käme dabei heraus?... Nein, ich hab' es einmal versprochen, Agathokles und Louise zusammen zu schmieden, und die Heirat muß zustande kommen!“

„So sehr ich bedauere, mich mit dem Herrn in Widerspruch zu befinden, muß ich doch dabei beharren, die suchen in meiner Weise zu sehen.“

„Beharre nur... und blase ein Lied auf der Clarinette dazu!“

„Eines, das die Leute beschuldigt, blind zu sein! bemerkte Patrice trocken.“

„Es steckt aber kein Sinn und Verstand drin, Ihr Drehköpfe! Marcel... ein Bürschchen, das ich den züngelnden Flammen entrissen habe... und ein Auge auf Louise werfen!... Das ist ebenso unsinnig, als wenn der Vielfraß Oriental daran dächte, um ihre Hand anzuhalten!“

„Von Herrn Oriental hab' ich nicht gesprochen,“ antwortete Patrice. „Herr Oriental hat mit der ganzen Sache nichts zu thun, diese geht speciell Herrn Marcel Lornans an.“

„Wo ist mein Angstrohr?“

„Des Herrn Angstrohr?...“

„Nun ja... mein Hut?...“

„Hier ist des Herrn Hut, nicht sein...“ erwiderte Patrice empört.

„Und vergiß nicht Patrice, daß Du nicht weißt, was Du fabelst, daß Du keine Ahnung von der Sache und Dich schauderhaft verrannt hast!“

Seinen Hut ergreifend, ließ Herr Dardentor seinen Diener stehen, um sich selbst wieder zurecht zu finden, so gut er konnte.

Dennoch fühlte sich Herr Dardentor nicht mehr so ganz sicher.... Der Tölpel Agathokles machte auch gar keine Fortschritte, und da wollten die Désirandelle's auch noch mit ihm ein Hühnchen rupfen, als ob er für die Gedanken Marcel Lornans' verantwortlich wäre, vorausgesetzt, daß dieser überhaupt so kühne Gedanken hegte. Gewisse Kleinigkeiten fielen ihm jetzt allerdings wieder ein.... Jedenfalls wollte er die Augen offen halten und scharf aufpassen.

Während des heutigen Frühstücks bemerkte Clovis Dardentor nichts Verdächtiges. Marcel Lornans ließ er etwas links liegen und wendete seine Freundlichkeit mehr Jean Taconnat, „seiner letzten Rettung“, zu, der nur wenig darauf antwortete.

Louise Elissane erwies sich gegen ihn sehr liebevoll, und vielleicht kam er dabei auf den Gedanken, daß sie doch viel zu reizend sei für den Tropf, den man ihr zum Gatten bestimmt hatte und mit dem sie wie Zucker und Salz zusammenzupassen schien.

„Herr Dardentor?...“ begann Frau Désirandelle, als man beim Dessert war.

„Meine vortreffliche Freundin...“ antwortete Herr Dardentor.

„Giebt es keine Eisenbahn zwischen Tlemcen und Sidi-bel-Abbès?...“

„Ja wohl... doch sie ist noch im Bau begriffen.“

„Das ist bedauerlich!“

„Warum denn?“

„Weil Herr Désirandelle und ich es vorziehen würden, damit nach Oran zurückzufahren.“

„O, gehen Sie!“ rief Clovis Dardentor. „Der Weg bis Abbès ist ganz ausgezeichnet. Da ist keine Anstrengung zu fürchten... keine Gefahr... für niemand!“

Er lächelte dabei Marcel Lornans zu, der das nicht bemerkte und auch Jean Taconnat, der mit den Zähnen knirschte, als wollte er gleich beißen.

„Ja,“ meldete sich Herr Désirandelle, „wir sind von der Reise sehr angegriffen, und es ist bedauerlich, daß sie sich nicht abkürzen läßt. Frau Elissane und Fräulein Louise würden ebenso wie wir...“

Vor Vollendung des Satzes hatte Marcel Lornans schon das junge Mädchen und diese den jungen Mann angesehen. Diesmal mußte Herr Dardentor sich sagen: Ja, es ist richtig! Und in Erinnerung an den schönen Gedanken des Dichters, daß „Gott dem Weibe den Mund gegeben hat, um zu sprechen, und die Augen, um zu antworten“, fragte er sich, welche Antwort die Augen Louises wohl gegeben haben möchten.

„Alle tausend Teufel!“ murmelte er vor sich hin.

Dann fuhr er laut fort:

„Was wollt Ihr denn, liebe Freunde, die Eisenbahn ist noch nicht in Gang und es giebt kein Mittel, die Karawane aus den Fugen zu bringen.“

„Könnten wir nicht wenigstens noch heute weiterziehen?“ fragte Frau Désirandelle.

„Heute!“ fuhr Herr Dardentor auf. „Weiter ziehen, ohne das prächtige Tlemcen, seine Waarenlager, seine Citadelle, seine Synagogen, Moscheen, Promenaden, seine Umgebung und alle die Wunderdinge, wovon mir unser Führer erzählt hat, gesehen zu haben? Dazu reichen zwei Tage kaum aus!“

„Die Damen sind zu ermüdet, um einen solchen Ausflug zu unternehmen, Dardentor,“ antwortete Herr Désirandelle frostig, „und ich werde ihnen auch Gesellschaft leisten. Wir gehen einmal in die Stadt, mehr machen wir nicht. Ihnen steht es ja frei, mit den Herren, die Sie aus den züngelnden Flammen und den Fluthen gerettet haben, das prächtige Tlemcen gründlich anzusehen. Doch was auch komme, nicht wahr, morgen in aller Frühe brechen wir auf?“

Das war deutlich genug, und Clovis Dardentor, der die gelegentlichen Anzüglichkeiten des Herrn Désirandelle nicht recht verdauen konnte, bemerkte, daß sich die Gesichter Marcel Lornans' und Louise Elissane's etwas verfärbten. In dem Gefühle, hier nicht weiter widersprechen zu sollen, verließ er die Damen nach einem letzten Blicke auf das etwas betrübte junge Mädchen.

„Kommt Ihr, Marcel?... Und auch Jean? fragte er.“

„Wir folgen Ihnen,“ antwortete der Eine.

„Er wird uns zuletzt noch duzen!“ murmelte der Andre etwas verächtlich.

Unter den vorliegenden Umständen blieb ihnen nichts anders übrig, als sich von Herrn Dardentor ins Schlepptau nehmen zu lassen. Der junge Désirandelle hatte sich schon aus dem Staube gemacht und suchte mit Herrn Oriental eifrig alle Läden mit Eßwaaren und alle Conditoreien ab. Der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft hatte in ihm jedenfalls die natürliche Anlage zum Feinschmecker herausgefunden.

Bei ihrer Gemüthsverfassung konnten die jungen Leute sich für das merkwürdige Tlemcen nur sehr mäßig interessieren... für das berühmte Bab-el-Gharb der Araber, das mitten im Becken der Isser und in einem von der Tafna gebildeten Halbkreise liegt. Und doch ist es so schön, daß man es das afrikanische Granada nennt. Das alte, südöstlich gelegne und verlassne Pomaria der Römer, an dessen Stelle mehr im Westen später Tagrart trat, ist das moderne Tlemcen geworden.

Seinen „Reiseführer“ in der Hand, konnte Herr Dardentor zwar nach Belieben predigen, daß es schon im 15. Jahrhundert durch Handel, Gewerbfleiß, Kunst und Wissenschaft unter dem Einflusse von Berberrassen in hoher Blüthe stand, daß es damals fünfundzwanzigtausend Haushaltungen zählte, daß es heute mit seinen fünfundzwanzigtausend Einwohnern, darunter je dreitausend Franzosen und Juden, die fünfte Stadt Algeriens ist, daß es 1553 von den Türken, 1836 von den Franzosen erobert, später an Abd-el-Kader abgetreten und 1842 endgiltig wieder eingenommen wurde, daß es einen strategischen Punkt von hoher Bedeutung an der marokkanischen Grenze bildet... er erzwang sich damit doch nur sehr geringe Aufmerksamkeit und erhielt blos oberflächliche Antworten.

Der würdige Mann fragte sich auch, ob er nicht besser gethan hätte, die beiden „verstimmten Geigen“ zu Hause zu lassen, um sich dort auszubrummen. Doch nein, er liebte sie einmal und bestrebte sich deshalb, keine üble Laune darüber zu verrathen.

Wiederholt wandelte Herrn Dardentor zwar die Lust an, Marcel Lornans aufs Gewissen zu fragen und ihm zuzurufen:

„Ist's denn wahr?... Ist es ernsthaft?... So schlagen Sie mir doch das Buch des Herzens auf, damit ich darin lesen kann!“

Er that es aber nicht. Wozu hätte es auch gedient?.. Die praktische und genau rechnende Frau Elissane hätte den unvermögenden jungen Mann doch nicht als Schwiegersohn angenommen. Und dann... er selbst... der Freund Désirandelle's...

Diese Sachlage verschuldete denn auch, daß unser Perpignaneser nicht den erhofften Genuß von der Stadt hatte, die auf einer Terrasse in achthundert Meter Höhe unter dem steil abfallenden Berge Terni eine reizende Lage hat. Letzterer gehört zum Gebirgsstock des Nador, von dem aus man die Ebnen des Isser und der Tafna, sowie die niedriger gelegnen Thäler mit ihren Weinpflanzungen und Gärten überblickt... das Ganze ein grünes Land von zwölf Kilometern Länge, reich an Orangenhainen und Olivenwäldern, hundertjährigen Nußbäumen und üppig gedeihenden Terpentinsichten, ohne von dem Reichthume an Obstbäumen jeder Art zu sprechen.

Das Räderwerk der französischen Verwaltung in Tlemcen fungiert mit der Regelmäßigkeit einer Corliß-Dampfmaschine. Was industrielle Anlagen betrifft, so hätte Herr Dardentor zwischen Getreide- oder Oelmühlen und Webereien „vorzüglich solchen, die den Stoff für die schwarzen Burnusse herstellen „die Wahl gehabt. In einem Laden des Cavaignacplatzes erkaufte er sich zum Andenken wenigstens ein Paar sehr hübsche Babuschen.

„Die scheinen mir für Sie etwas zu klein zu sein,“ bemerkte Jean Taconnat spöttelnden Tones.

„Sapperment!“

„Und ein wenig theuer?“

„O, man hat es ja dazu!“

„Wem haben Sie die Dinger zugedacht?“ fragte Marcel Lornans.

„Einem niedlichen Persönchen,“ antwortete Herr Dardentor mit leichtem Augenzwinkern.

Das hätte sich Marcel Lornans freilich nicht gestatten dürfen, so gern er sein ganzes Reisegeld zu Geschenken für das junge Mädchen verwendet hätte.

Wenn in Tlemcen der Handelsverkehr des Westens mit dem der arabischen Stämme, die Getreide, Schlachtvieh, Häute, Webstoffe und Straußfedern hierher bringen, zusammentrifft, so bietet die Stadt doch auch Verehrern des Alterthums werthvolle Erinnerungen. So finden sich hier und da zahlreiche Reste von arabischer Architektur, Ruinen der drei Städte mit Befestigungen, die jetzt durch eine vier Kilometer lange moderne Mauer mit neun Thoren ersetzt sind, maurische Viertel mit krummen Gäßchen und noch einige von den früher vorhandnen sechzig Moscheen. Die jungen Leute mußten wohl oder übel die ehrwürdige Citadelle, den Mechouar, einen alten Palast aus dem 12. Jahrhundert, besichtigen, und auch die Kissaria, jetzt eine Kaserne für Spahis, wo sich früher die genuesischen, pisanischen und provençalischen Kaufleute zusammenfanden. Ferner die Moscheen mit ihrer Unmenge von weißen Minarets, ihren kleinen Mosaiksäulen, Malereien und Fayencen, die Moschee von Djema-Kebir, die des Abdul-Hassim, deren drei Gewölbe auf Onyxpfeilern ruhen und worin die Araberjungen im Lesen, Schreiben und Rechnen an derselben Stelle unterrichtet werden, wo einst Boabdil, der letzte König von Granada, die Augen schloß.

Nachher durchstreifte das Trio verschiedne Straßen und regelrecht angelegte Plätze, ferner einen Stadttheil mit Häusern von Eingebornen und Europäern und andre mehr moderne Theile. Ueberall waren Springbrunnen erbaut, der schönste auf dem Saint-Michel-Platze. Zuletzt und vor der Rückkehr nach dem Hôtel bot die mit vier Baumreihen geschmückte Esplanade von Mechouar den Touristen eine unvergleichliche Aussicht über die Landschaft der Umgebung.

Bezüglich der sonstigen Nachbarschaft Tlemcens, seiner bäuerlichen Dörfchen, der Koubbas von Sidi-Daoudi und von Sidi-Abd-es-Salam, des rauschenden Wasserfalls von El-Ourit, mit dem der Saf-Saf vierundzwanzig Meter herabstürzt, sowie bezüglich mehrerer andrer Sehenswürdigkeiten, mußte Clovis Dardentor sich begnügen, sie nach den Angaben seines Reisehandbuchs zu bewundern.

Es hätte wirklich mehrerer Tage bedurft, um Tlemcen und seine Umgebungen zu studieren. Ein solcher Vorschlag wäre aber Leuten gegenüber, die so schnell und auf so kurzem Wege wie möglich weiter wollten, doch vergebliche Mühe gewesen. So vieler Autorität - die übrigens etwas vermindert war - Clovis Dardentor bei seinen Reisegefährten auch genoß, wagte er so etwas doch nicht.

„Nun, mein lieber Marcel und mein bester Taconnat, was denken Sie nun über Tlemcen?“

„O, eine recht nette Stadt,“ begnügte sich der Eine zerstreut zu antworten.

„Nett... jawohl...“ fügte der Andre, kaum die Lippen bewegend, hinzu.

„Ei, Ihr lustigen Brüder, hab' ich nicht recht daran gethan, Sie, Marcel, am Kragen, und, Sie Jean, am Rockärmel aus der Tinte zu ziehen? Wie viele herrliche Dinge hätten Sie sonst nicht mehr zu sehen bekommen!“

„Sie haben Ihr Leben für das unsre eingesetzt, Herr Dardentor,“ sagte Marcel Lornans, und seien Sie überzeugt, daß unsre Dankbarkeit...“

„Ah, Herr Dardentor,“ fragte Jean Taconnat, seinem Vetter das Wort abschneidend, ist es Ihre Gewohnheit als Retter von...“

„Na, es ist mir schon wiederholt vorgekommen, und ich könnte mir die Brust mit einer hübschen Menge von Medaillen pflastern! Die Folge davon ist, daß ich, trotz meiner Lust, Adoptivpapa zu werden, doch niemand adoptieren konnte.“

„Freilich, Sie waren es immer selbst,“ bemerkte Jean Taconnat, „der Andre...“

„Wie Sie sagen, mein Kleiner!“ bestätigte Clovis Dardentor nicht die Worte, doch den Gedanken des jungen Mannes. „Jetzt heißt's aber: die Beine unter die Arme!“

Nun ging's schnell nach dem Hôtel zurück. Das Essen verlief nicht angenehm. Die Tischgäste sahen alle aus wie Leute, die ihr Bündel schon geschnürt haben und die der Zug erwartet. Beim Nachtisch bot der Perpignaneser die kleinen hübschen Babuschen noch der, für die sie bestimmt waren, an.

„Zur Erinnerung an Tlemcen, liebes Fräulein!“ sagte er.

Frau Elissane konnte für die freundliche Aufmerksamkeit des Herrn Dardentor nur durch ein Lächeln danken, während in der Gruppe der Désirandelle's der eine Theil den Mund verzog und der andre mit den Schultern zuckte.

Das Gesicht Louisens heiterte sich auf, ein Blitz der Befriedigung leuchtete aus ihren Augen und sie sagte:

„Ich danke Ihnen, Herr Dardentor! Gestatten Sie, daß ich Sie umarme?“

„Sapperment, deshalb hatt' ich sie eben gekauft!... Ein Kuß für ein Paar Babuschen!“

Und freudigen Herzens schloß das junge Mädchen Herrn Dardentor in die Arme.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
014a Er stürzte sich vom Rücken seines Mehari in den Sar.

014a Er stürzte sich vom Rücken seines Mehari in den Sar.

014b Die Umkreisung von Mansourah.

014b Die Umkreisung von Mansourah.

Hier und da finden sich zahlreiche Reste arabischer Architektur.

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