Kapitel (Worin Patrice wiederholt findet, dass seinem Herrn zuweilen das vornehme Auftreten abgeht)

Am nächsten Morgen um acht Uhr war noch niemand auf dem Oberdeck sichtbar. Der Zustand des Meeres verschuldete es jedoch keineswegs, daß die Passagiere so lange in ihren Cabinen blieben. Die kurze Dünung des Mittelmeers brachte kaum ein schwaches Schwanken des „Argeles“ hervor. Der friedlichen Nacht sollte ein herrlicher Tag folgen. Hatten die Passagiere ihre Lagerstätten mit Sonnenaufgang nicht verlassen, so hielt sie nur die Trägheit noch darauf zurück. Die Einen mochten noch ein Morgenchläschen machen, die Andern träumten wohl wachend, und Alle vergnügten sich gewiß, als ob sie in einer Kinderwiege lägen.

Hier sprechen wir natürlich nur von den Bevorzugten, die niemals, selbst bei schlechtem Wetter nicht, seekrank werden, und nicht von den Unglücklichen, die es stets, selbst bei schönem Wetter, sind. Zur letzteren Kategorie gehörten die Désirandelle's und manche Andre, die ihr moralisches Gleichgewicht erst wieder erlangen sollten, wenn der Dampfer im Hafen verankert lag.


Die sehr klare und reine Atmosphäre erwärmte sich unter den Strahlen der Sonne, die sich auf den leichten Meereswellen glitzernd widerspiegelten. Der „Argeles“ entwickelte jetzt eine Schnelligkeit von zehn Seemeilen in der Stunde und steuerte nach Südsüdost in der Richtung auf die Gruppe der Balearen zu. Einige Fahrzeuge zogen in der Ferne an ihm vorüber, entweder mit einer langen Rauchsäule hinter sich oder mit vollem weißen Segelwerk, das sich von dem etwas dunstigen Horizont leuchtend abhob.

Der Kapitän schritt allein auf dem Verdeck hin und her, um sich zu überzeugen, daß alles auf dem Schiffe in Ordnung war.

Da erschienen Marcel Lornans und Jean Taconnat am Aufgange nach dem Oberdeck. Sofort ging der Kapitän auf sie zu und sagte nach Auswechslung eines freundschaftlichen Händedrucks:

„Sie haben hoffentlich eine gute Nacht gehabt, meine Herren?“

„O, eine mehr als gute, Herr Kapitän,“ antwortete Marcel Lornans, „ja es möchte schwierig sein, sich eine noch bessre auszumalen. Ich kenne kein Hôtelzimmer, das sich mit einer Cabine des „Argeles“ messen könnte.“

„Ganz meine Ansicht, Herr Lornans,“ antwortete der Kapitän Bugarach, „und ich begreife kaum, wie man anderswo als an Bord eines Schiffes wohnen kann.“

„Ei, das sagen Sie nur einmal dem Herrn Désirandelle, und wenn er Ihre Ansicht theilt...“

„O, dieser Landratte ebensowenig wie ihresgleichen, die ganz unfähig sind, die Reize einer Seefahrt zu würdigen! rief der Kapitän. Das sind einfache Frachtstücke, die in den Laderaum gehörten, sie machen unsern Dampfern nur Schande. Da sie jedoch die Fahrt bezahlen...“

„Aha!“ schnitt ihm Marcel Lornans die weitre Rede ab.

Jean Taconnat, der doch sonst so redselig und mittheilsam war, hatte sich begnügt, dem Kapitän die Hand zu drücken, an dem Gespräche aber nicht theilgenommen. Er schien mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein.

Marcel Lornans dagegen richtete noch einige Fragen an den Kapitän.

„Wann dürften wir in Sicht von Majorca sein?“

„In Sicht von Majorca?... Ungefähr um ein Uhr Nachmittag. Die ersten Anhöhen der Balearen werden wir aber sehr bald sehen können.“

„Und wir bleiben in Palma eine Zeit lang liegen?“

„Bis acht Uhr abends, so viel Zeit beansprucht die Verladung der nach Oran bestimmten Waaren.“

„Da können wir wohl die Insel besichtigen?“

„Die Insel... nein, das nicht, wohl aber die Stadt Palma, was sich, wie man sagt, der Mühe lohnen soll.“

„Wie?... Wie man sagt, Herr Kapitän, sind Sie denn noch nie nach Majorca gekommen?“

„O, mindestens dreißig- bis vierzigmal.“

„Und Sie haben sich da noch niemals etwas umgesehen?“

„Ja, die Zeit dazu haben, Herr Lornans, die Zeit haben!... Wo hätte ich sie hernehmen sollen?“

„Die Zeit... und wohl auch die Lust dazu?...“

„Offen gestanden, auch die Lust dazu. Ich werde sofort landkrank, wenn ich nicht auf dem Meere bin!“

Hiermit verließ der Kapitän den jungen Mann, um die Leiter zur Commandobrücke hinaufzusteigen.

Marcel Lornans wendete sich nun seinem Vetter zu.

„He, Jean,“ begann er, „Du bist ja heute Morgen stumm wie ein Harpokrates!“

„Weil ich nachzudenken habe.“

„Worüber denn?“

„Ueber das, was ich Dir gestern sagte.“

„Was hast Du mir gesagt?“

„Daß wir eine einzig dastehende Gelegenheit hätten, uns von dem Herrn aus Perpignan adoptieren zu lassen.“

„Daran denkst Du noch immer?“

„Ja... nachdem ich die ganze Nacht darüber gegrübelt habe.“

„Ist das Dein Ernst?...“

„Mein voller Ernst!... Er wünscht sich Adoptivkinder. Gut, er mag uns nehmen... bessre findet er doch nicht!“

„Wahrlich, ebenso bescheiden, wie phantastisch!“

„Siehst Du, Marcel, Soldat zu werden, das ist ja recht schön. Bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten, ist höchst ehrenwerth. Und doch fürcht' ich, daß das Waffenhandwerk nicht mehr so wie früher ist. In der guten alten Zeit, ja, da hatte man aller drei bis vier Jahre seinen frischen, fröhlichen Krieg; da gab es noch Avancement und regnete es Kreuze. Jetzt ist ein Krieg „ich meine, ein europäischer „so gut wie unmöglich geworden, einfach infolge der ungeheuern Heeresmassen, die nach Millionen zu bewaffnender, zu führender und zu ernährender Soldaten zählen. Unsre jungen Officiere haben jetzt keine andre Aussicht, als „wenigstens die allermeisten „pensionierte Hauptleute zu werden. Die militärische Laufbahn wird, selbst unter glücklichen Umständen, das nicht mehr bieten, was sie einstmals darbot. Man hat die großen Kriege durch die großen Manöver ersetzt. Das ist, vom socialen Gesichtspunkte aus betrachtet, gewiß ein Fortschritt, doch...“

„Jean,“ unterbrach ihn Marcel Lornans, „das hätten wir uns vor der Abreise nach Algerien überlegen sollen...“

„Verstehen wir uns recht, Marcel. Ich bin noch ebenso bereit wie Du, in Dienst zu treten. Sollte die Göttin mit den vollen Händen aber geruhen, sie noch unterwegs über uns zu öffnen...“

„Ach, Du bist ja toll!“

„Sapperment!“

„Du erblickst in jenem Herrn Dardentor schon...“

„Einen zweiten Vater!“

„Und vergißt gänzlich, daß er, um Dich adoptieren zu können, während Deiner Minorennität schon sechs Jahre für Dich gesorgt haben müßte. Wäre das etwa zufällig der Fall gewesen?“

„Daß ich nicht wüßte,“ antwortete Jean Taconnat; „mindestens hab' ich nichts davon bemerkt.“

„Ich sehe, daß Du wieder verständig wirst, lieber Jean, da Du wieder scherzen kannst.“

„Na, ich scherze und scherze auch nicht.“

„Nun, solltest Du den braven Mann vielleicht dem Feuer oder Wasser entrissen, oder ihn in einem Kampfe gerettet haben?“

„Nein... doch ich werde ihn noch retten... oder vielmehr Du und ich, wir werden ihn retten.“

„Wie denn?“

„Davon hab' ich nicht einmal eine Ahnung.“

„Soll es auf dem Lande, auf dem Meere oder in der Luft geschehen?“

„Das wird von der sich bietenden Gelegenheit abhängen, und es ist gar nicht unmöglich, daß sich eine solche findet...“

„Und wenn Du sie auch selbst herbeiführen solltest, nicht wahr?“

„Ja, warum denn nicht?... Sieh, wir sind an Bord des „Argeles“; nimm einmal an, Herr Dardentor fiele ins Wasser...“

„O, Du wirst ihn doch nicht über Bord werfen wollen...“

„Nun, nehmen wir an, er fiele hinein!... Du und ich, wir springen ihm nach wie ein heroischer Neufundländer, er wird durch besagten Neufundländer gerettet und er macht aus besagtem Neufundländer einen Hund... nein... ein Adoptivkind...“

„Du hast gut reden, Jean, Du kannst schwimmen, ich kann es nicht, und wenn ich nur diese Gelegenheit finde, den vortrefflichen Herrn zu retten...“

„Ganz richtig, Marcel. Ich werde meine Sache auf dem Meere machen, Du die Deine auf dem Lande. Ueber Eines wollen wir uns aber im voraus verständigen: wenn Du Marcel Dardentor wirst, werde ich nicht eifersüchtig sein; fiele mir aber dieser prächtige Name zu... wenn nicht uns Beiden...“

„Darauf mag ich Dir gar nicht antworten, mein armer Jean!“

„Ich erlasse Dir's auch unter der Bedingung, daß Du mich schalten und walten läßt, mir keine Hindernisse bereitest...“

„Was mich beunruhigt, Jean, unterbrach ihn Marcel Lornans, ist allein, daß Du diesen Zwiebelzopf von Thorheiten mit einem, an Dir ganz ungewöhnlichen Ernst abhaspelst...“

„Weil die Sache höchst ernsthaft ist. Uebrigens beruhige Dich nur, ich werde die Geschichte von der lustigen Seite her anfassen, und wenn ich scheitre... na. da blas' ich mir das Gehirn auch noch nicht aus dem Schädel.“

„Hast Du denn noch welches darin?“

„O... noch ein paar Gramm!“

„Ich wiederhole Dir, Du bist toll!“

„Sapperment!“

In dieser Weise setzten die Beiden noch eine Zeit lang ihr Gespräch fort, dem Marcel Lornans im Grunde gar keine Bedeutung zumessen wollte, rauchten dabei ihre Cigarren und wanderten auf dem Deck hin und her.

Als sie sich dabei einmal dem Vordertheile näherten, erblickten sie den Diener Clovis Dardentor's, der unbeweglich in seiner einwurfsfrei correcten Reiselivrée neben dem Ueberbau der Maschine stand.

Was machte er da und worauf wartete er, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld? Er wartete auf das Erwachen seines Herrn. So war dieses Original im Dienste des Herrn Clovis Dardentor... ein Original, nicht weniger als dieser selbst. Doch welcher Unterschied des Temperaments und Charakters zwischen den beiden Persönlichkeiten!

Patrice... so lautete sein Name, obwohl er nicht schottischer Herkunft war, und er verdiente diesen Namen, der von den Patriciern des alten Rom abgeleitet ist.

Es war ein Mann von vierzig Jahren und so „comme il faut“ wie nur möglich. Seine vornehmen Manieren contrastierten stark gegen das Sichgehenlassen des Perpignanesers, dem zu dienen er das Glück und das Unglück hatte. Die Züge seines glatten, stets frisch rasierten Gesichts, die etwas abfallende Stirn, sein Blick, worin sich ein gewisser Stolz ausdrückte, sein Mund mit halbgeschlossnen Lippen, die zwei Reihen schöner Zähne sehen ließen, sein blondes, sorgfältig geordnetes Haar, seine gemessne Stimme und sein ganzes vornehmes Aeußre gestatteten, ihn dem Typus zuzuzählen, der nach den Physiologen die „länglich runden Köpfe“ umfaßt. Er glich fast einem Mitgliede des englischen Oberhauses. Jetzt seit fünfzehn Jahren in seiner Stellung, hatte er diese schon viele Male aufgeben wollen. Umgekehrt hatte Clovis Dardentor nicht minder häufig Lust gehabt, ihm die Thür zu weisen. In Wahrheit konnten sie einander aber nicht entrathen, obgleich man sich kaum zwei noch verschiednere Naturen vorstellen kann. Was Patrice an das Haus in Perpignan fesselte, das war nicht sein übrigens recht hoher Lohn, sondern die Gewißheit, daß er sich des unbedingten und auch wohlverdienten Vertrauens seines Herrn erfreute. Wie schwer fühlte sich Patrice aber in seiner Eigenliebe verletzt, wenn er die Vertraulichkeit, die Redseligkeit, die südländische Ueberschwenglichkeit seines Herrn mit ansehen mußte! In seinen Augen fehlte es Herrn Dardentor an Anstand. Er verleugnete die Würde, deren Bewahrung seine sociale Stellung ihm auferlegte. In seiner Art des Grüßens, des sich Vorstellens und des Ausdrucks schlug ihn immer wieder der alte Tonnenbinder in den Nacken. Kurz, es fehlten ihm alle guten Manieren, die er sich freilich beim Zusammenzimmern und Bereisen Tausender von Fässern nicht hatte aneignen können. Patrice nahm sich auch gar kein Blatt vor den Mund, das gelegentlich gegen ihn auszusprechen.

Zuweilen war Clovis Dardentor, der, wie der Leser schon weiß, die Manie hatte, „Phrasen zu drechseln“, in der Laune, die Bemerkungen seines Dieners gutmüthig hinzunehmen. Er lachte darüber, spöttelte über den Mentor in Livrée und machte sich's zum Spaß, diesen noch mehr in die Wolle zu bringen.

Manchmal aber, bei schlechter Laune, wurde er böse, schickte den unglückseligen Berather zum Kuckuck und kündigte ihm für die nächsten acht Tage... acht Tage, die niemals kamen.

Wenn Patrice einerseits nämlich ärgerlich war, im Dienste eines Herrn, der sich wenig gentlemanlike benahm, zu stehen, so war Clovis Dardentor andrerseits stolz auf einen so vornehmen Diener.

Gestern hatte sich Patrice auch weidlich geärgert. Er beklagte sich dem Restaurateur gegenüber, daß Herr Clovis Dardentor bei Tafel seiner Zunge gar so ungezügelten Lauf gelassen und dummes Zeug geschwätzt. in den andern Herren aber eine so klägliche Vorstellung von einem Eingebornen der Ostpyrenäen erweckt habe.

Nein, Patrice war unzufrieden und bemühte sich auch gar nicht, das zu verhehlen. Eben deshalb hatte er auch, ohne gerufen worden zu sein, schon zu früher Morgenstunde an die Thür der Cabine Nr. 13 geklopft.

Das erste Mal erfolgte darauf keine Anwort; jetzt klopfte er stärker.

„Wer da?...“ grollte eine schlaftrunkne Stimme.

„Patrice...“

„Ach was, geh' zum Teufel!“

Ohne diesem liebenswürdigen Rathe zu folgen, hatte Patrice sich zurückgezogen; ihn durchfröstelte aber jene unparlamentarische Antwort, obwohl er an deren Art gewöhnt sein mußte.

„Mit diesem Menschen ist doch nichts Gescheidtes anzufangen!“ brummte er vor sich hin.

Voller Würde und Vornehmheit des „englischen Lords“ wie immer, war er nach dem Verdeck hinausgegangen und wartete hier geduldig auf das Erscheinen seines Herrn.

Die Wartezeit zog sich recht lange hin, denn Herr Dardentor spürte gar keinen Drang, sein Lager so schnell zu verlassen. Endlich knarrte die Thür der Cabine, nachher die zum Oberdeck und die Hauptperson dieser Geschichte trat daraus hervor.

Jean Taconnat und Marcel Lornans, die am Vordercastell lehnten, wurden seiner sofort gewahr.

„Achtung!... Unser Vater!“ rief Jean Taconnat leise.

Der ebenso ungereimten wie vorzeitigen Bezeichnung gegenüber konnte sich Marcel Lornans des lauten Auflachens nicht enthalten.

Inzwischen ging Patrice gemessnen Schrittes und strengen Gesichts mit mißbilligendem Ausdruck auf Herrn Dardentor zu, um, wenn auch mit Widerwillen, die Befehle seines Herrn entgegenzunehmen.

„Aha, da bist Du ja, Patrice... Du, der mich aus dem besten Schlafe geweckt hat, als ich mich noch in den rosigsten Träumen wiegte...“

„Der Herr werden zugestehen, daß meine Pflicht...“

„Deine Pflicht war es, zu warten, bis ich nach Dir klingelte.“

„Der Herr glaubt wohl in Perpignan zu sein, in seinem Hause am Logeplatze...“

„Ich weiß recht gut, wo ich bin,“ versetzte Herr Dardentor, „und wenn ich Dich brauchte, hätte ich Dich holen lassen... unseliger Schlummerstörenfried!“

In Patrice's Gesicht zuckte es leicht und er sagte in ernstem Tone:

„Ich ziehe es vor, den Herrn nicht zu verstehen, wenn der Herr seinen unfreundlichen Gedanken in solchen Worten Ausdruck giebt. Uebrigens möcht' ich den Herrn darauf hinweisen, daß die niedrige runde Mütze, womit er sich zu bedecken beliebte, mir für einen Passagier erster Cajüte nicht passend erscheint.“

In der That sah die, Clovis Dardentor im Nacken sitzende, baskische Kappe nicht grade vornehm aus.

„Meine Mütze gefällt Dir also nicht, Patrice?...“

„So wenig, wie die wollne Joppe, in die sich der Herr wohl in der Vorstellung gesteckt hat, daß man auf einer Seereise auch wie ein Seemann aussehen müsse.“

„Da hast Du völlig recht!“

„Wäre ich von dem Herrn eingelassen worden, so würd' ich ihn gewiß gehindert haben, sich in dieser Weise zu kleiden!“

„Du würdest mich gehindert haben, Patrice?...“

„Ich bin nicht gewöhnt, dem Herrn meine Meinung vorzuenthalten, auch wenn ihn das erzürnen sollte, und was ich in Perpignan, im Hause des Herrn thue, das kann ich hier an Bord eines Dampfers auch nicht lassen.“

„Beliebt es Ihnen, nun fertig zu sein, Herr Patrice?...“

„Trotz der Höflichkeit dieses Ausdrucks muß ich gestehen, fuhr Patrice fort, noch nicht alles gesagt zu haben, was mir auf dem Herzen liegt, und zwar in erster Linie, daß der Herr gestern bei Tafel hätte mehr auf sich achten sollen...“

„Auf mich achten... bezüglich des Essens?...“

„Und bezüglich des Poculierens, das etwas übers Maß hinausging... Nach dem, was mir der Restaurateur, ein Mann comme il faut, erzählt hat...“

„Was hat Ihnen denn dieser Mann comme il faut hinterbracht?“ fragte Clovis Dardentor, der Patrice nicht mehr duzte, wenn es in ihm bald zum Ueberkochen kam.

„Daß der Herrsuchen...suchen gesprochen hat, über die man meiner Meinung nach besser schweigt, wenn einem die Personen, mit denen man spricht, unbekannt sind. Das ist nicht nur eine Regel der Klugheit, sondern auch des Selbstgefühls...“

„Herr Patrice?...“

„Was wünscht der Herr?...“

„Sind Sie dahin gegangen. wohin ich Sie schickte, als Sie heute früh so voreilig tölpelhaft an meine Thüre donnerten?...“

„Ich erinnere mich dessen nicht...“

„So will ich Ihr Gedächtniß auffrischen!... Zum Teufel... zum Teufel habe ich Sie, mit aller Rücksicht, die Ihnen zukam, gehen heißen. Ich erlaube mir auch, Sie noch einmal dahin zu schicken, und da bleiben Sie gefälligst, bis ich nach Ihnen klingle!“

Patrice kniff halb die Augen zu und spitzte den Mund; dann machte er auf der Stelle Kehrt und begab sich nach dem Vorderdeck, als Herr Désirandelle grade auf dem Oberdeck erschien.

„Ah, mein vortrefflicher Freund!“ rief Clovis Dardentor, als er diesen bemerkte.

Herr Désirandelle hatte sich hier hinauf gewagt, um etwas sauerstoffreichere Luft als die der Cabinen zu athmen.

„Nun, mein lieber Désirandelle,“ nahm der Perpignaneser das Wort, „wie ist's Ihnen denn seit gestern gegangen?“

„Eigentlich gar nicht.“

„Nur Muth, alter Freund, nur Muth! Sie sehen zwar noch so bleich aus, wie ein frisch gewaschnes Oberhemd. das Auge ist gläsern. die Lippen sind bläulich... doch das thut nichts... die Ueberfahrt wird schon...“

„Schlecht ablaufen, Dardentor!“

„Sie sind ein Schwarzseher erster Sorte!... Den Kopf hoch! Sursum corda, wie man an den hohen katholischen Festtagen singt!“

Wahrlich, ein glückliches Citat angesichts eines Mannes, dem sich, wie man sagt, das Herz im Leibe umdreht!

„Binnen wenigen Stunden,“ fuhr Clovis Dardentor fort, können Sie den Fuß übrigens auf festes Land setzen, denn der „Argeles“ wird in Palma für längere Zeit anlegen...“

„Und doch nur einen halben Tag liegen bleiben,“ seufzte Herr Désirandelle. „Wenn dann der Abend kommt, muß man sich immer wieder auf diese abscheuliche Schaukel setzen!... Ach, wenn sich's nicht um Agathokles' Zukunft handelte!...“

„Gewiß, Désirandelle, das verdiente schon diese kleine Unbequemlichkeit. O, mein alter Freund, mir ist's, als seh' ich da unten schon das reizende Kind am algerischen Ufer mit der Lampe in der Hand wie Hero auf Leander, ich wollte sagen, auf Agathokles wartend. Doch nein, das Gleichniß hinkt, da der unglückliche Leander der Sage nach unterwegs ertrank. Werden Sie denn heute mit uns frühstücken?...“

„Ach, Dardentor, bei meinem traurigen Zustande...“

„Bedauerlich... höchst bedauerlich! Das gestrige Diner verlief so heiter und das Essen war so vorzüglich!... Die Speisen zeigten sich der Tischgäste würdig! Der Doctor Bruno!... Dem braven Manne hab' ich auf echt provençalische Art zugesetzt!... Und die beiden jungen Leute!... Welch liebenswürdige Reisegesellschaft!... Und wie rühmenswerth hat sich Ihr Agathokles verhalten!... Wenn er den Mund auch zum Sprechen nicht aufthat, so desto fleißiger zum Essen!... Er hat sich bis zur Zungenwurzel vollgestopft!“

„Und daran sehr recht gethan.“

„Gewiß!... Ah, da denk' ich an Frau Désirandelle. Werden wir sie denn heute Morgen zu sehen bekommen?“

„Ich glaube kaum; weder heute Morgen, noch später...“

„Was, nicht einmal in Palma?“

„Sie ist nicht im Stande aufzustehen.“

„Die arme Frau!... Wie ich sie bedaure und doch bewundre! All' diese Noth und Plage für ihren Agathokles! Sie ist eine Mutter nach Vorschrift und mit einem Herzen!... Doch sprechen wir nicht vom Herzen. Kommen Sie mit nach dem Oberdeck?“

„Nein, Herr Dardentor, das könnt' ich nicht; ich bleibe lieber im Salon. Das ist sichrer. Ach, wann wird man einmal Schiffe bauen, die nicht so tanzen, und warum versteift man sich darauf, mit solchen Maschinen zu fahren!“

„Natürlich, Désirandelle, auf dem Lande würden sich die Schiffe um kein Rollen und Stampfen scheeren. Wir sind nur noch nicht so weit! Das wird aber noch kommen!“

In Erwartung der Einführung dieses Fortschritts mußte Herr Désirandelle vorläufig damit fürlieb nehmen, daß er sich auf den Polsterbänken des Salons ausstreckte, die er vor dem Eintreffen an den Balearen nicht wieder verlassen sollte. Clovis Dardentor, der ihn dahin begleitet hatte, drückte ihm noch die Hände, ging wieder nach dem Verdeck hinaus und mit der weit zurückgeschobnen Mütze auf dem Kopfe, mit strahlendem Gesicht wie ein ergrauter Seebär nach dem Oberdeck hinauf, wo seine Joppe wie die Flagge eines Admirals im Winde flatterte.

Die beiden Vettern traten auf ihn zu. Erst wurden freundschaftliche Begrüßungen untereinander gewechselt, dann fragte man sich gegenseitig nach dem Befinden... ob Herr Clovis Dardentor nach den hübschen, bei Tafel verbrachten Stunden auch gut geschlafen habe... Vorzüglich... ein ununterbrochener, stärkender Schlummer in Morpheus' Armen... was man so sagt, wie ein Murmelthier im Winter!

O, wenn Patrice wieder solche Worte aus dem Munde seines Herrn mit angehört hätte!...

„Und Sie, meine Herren; auch gut geschlafen?...“

„In einemweg, mit fest zugekleisterten Augen!“ antwortete Jean Taconnat, der in der vulgären Sprechweise Clovis Dardentor's bleiben zu sollen glaubte.

Zum Glück war Patrice nicht gegenwärtig. Er erging sich eben seinem neuen Freunde, dem Restaurateur gegenüber in sein gedrechselten Redewendungen. Eine gute Meinung von dem jungen Pariser, der sich in solchem Gassenjargon ausdrückte, hätte er gewiß nicht bekommen.

Das Gespräch spann sich nun in vertraulicher Tonart weiter. Clovis Dardentor konnte sich wegen seiner Beziehungen zu den jungen Leuten nur beglückwünschen. Und diese wieder... wie gütig hatte es der Zufall gefügt, der sie einen so angenehmen Reisegenossen finden ließ. Das gab ja Hoffnung, zu Herrn Dardentor auch noch in intimere Verhältnisse zu treten. In Oran würde man sich wiedertreffen... Sollten die Herren dort längre Zeit verweilen?...

„Jedenfalls,“ erklärte Marcel Lornans, „denn wir beabsichtigen dort ein Engagement...“

„Ein Engagement... beim Theater?...“

„Nein, Herr Dardentor, bei den Siebenten Afrikanischen Jägern.“

„Ah, ein schönes Regiment, meine Herren, ein vortreffliches Regiment, da werden Sie schon vorwärts kommen!... Das ist also beschlossne Sache...“

„Wenigstens dann,“ glaubte Jean Taconnat hier erläuternd einfügen zu sollen, „wenn nicht etwas Besondres dazwischenkommt...“

„Meine Herren,“ antwortete Clovis Dardentor, „welcher Laufbahn Sie sich auch widmen mögen, ich bin überzeugt, daß Sie dabei Ehre einlegen werden!“

O, wenn diese Worte hätten bis zu Patrice's Ohren dringen können! Dieser war aber in Begleitung des Restaurateurs nach der Offiz hinunter gegangen. wo der Kaffee mit Sahne aus den großen Schiffslassen duftete.

Jedenfalls stand es fest, daß die Herren Clovis Dardentor, Jean Taconnat und Marcel Lornans über ihr Zusammentreffen sehr erfreut waren; sie hofften sogar, daß die Ausschiffung in Oran keine plötzliche Trennung herbeiführen werde, wie das unter Reisegenossen sonst der Fall zu sein pflegt.

„Wenn es Ihnen genehm ist,“ sagte Clovis Dardentor, „können wir ja in dem nämlichen Hôtel Wohnung nehmen.“

„Höchst angenehm,“ beeilte sich Jean Taconnat zu antworten, „das bietet sogar unbestreitbare Vortheile.“

„Also abgemacht, meine Herren!“

Ein neuer Austausch von Händedrücken, worin Jean Taconnat etwas Väterliches und Kindliches zu fühlen meinte.

„Und.“ dachte er dabei, „wenn in dem Hôtel zufällig Feuer ausbräche. welch herrliche Gelegenheit, diesen ausgezeichneten Herrn aus den Flammen zu retten!“

Gegen elf Uhr wurden die noch entfernten Umrisse des Archipels der Balearen im Südosten gemeldet. In weniger als drei Stunden sollte der Dampfer in Sicht von Majorca sein. Bei dem günstigen Seegange, der ihn von rückwärts traf, würde er keine Verzögerung erleiden und mit der Pünktlichkeit eines Schnellzugs in Palma eintreffen. Dieselben Passagiere, die gestern an der Tafel theilgenommen hatten, begaben sich jetzt nach dem Speisesalon hinunter.

Der Erste, den sie bemerkten, war Herr Eustache Oriental, welcher wieder „am guten Ende“ des Tisches saß.

Wer war nun eigentlich diese so zähe und wenig gesellige Persönlichkeit, dieser Chronometer aus Fleisch und Bein, dessen Zeiger nur die Stunden der Mahlzeiten angaben?

„Ob er wohl die ganze Nacht auf seinem Platze zugebracht hat?“ fragte Marcel Lornans.

„Wahrscheinlich,“ meinte Jean Taconnat.

„Man wird vergessen haben, ihn vom Stuhle loszuschrauben!“ setzte unser Perpignaneser hinzu.

Der Kapitän Bugarach, der die Gäste erwartete, wünschte ihnen Guten Tag und gab der Hoffnung Ausdruck, daß das Frühstück ihr Lob verdienen werde.

Dann begrüßte der Doctor Bruno die Tafelrunde. Er hatte einen Bären-, natürlich Seebärenhunger, und das dreimal des Tages. Er erkundigte sich auch ganz besonders nach der außergewöhnlichen Gesundheit des Herrn Clovis Dardentor.

Herr Clovis Dardentor hatte sich niemals besser befunden... zum Leidwesen des Doctors, wie er sagte, dessen kostbare Dienste er nicht in Anspruch nehmen würde.

„Man soll nie auf etwas schwören, Herr Dardentor,“ erwiderte der Doctor Bruno. „Gar manche Leute, die die ganze Ueberfahrt gut ausgehalten hatten, sind noch angesichts des Hafens zusammengeknickt!“

„Aber ich bitte Sie, Doctor, das klingt ja so, als wenn Sie einer Robbe empfehlen wollten, sich vor der Seekrankheit in Acht zu nehmen...“

„Ich habe schon Robben gesehen, die daran litten,“ erwiderte der Doctor, „wenn man sie mittels einer Harpune aus dem Wasser zog!“

Agathokles nahm seinen gestrigen Platz wieder ein. Drei oder vier neue Gäste setzten sich ebenfalls an die Tafel. Der Kapitän Bugarach mochte darüber das Gesicht verziehen. Die seit gestern zum Hungern verurtheilten Magen zeigten gewiß eine entsetzliche Leere und dann könnte in das Frühstück eine schreckliche Bresche gelegt werden!

Trotz der Bemerkungen, die sich Patrice über seinen Herrn erlaubt hatte, führte dieser doch auch heute wieder das große Wort. Diesmal sprach unser Perpignaneser weniger von seiner Vergangenheit, sondern mehr von seiner Zukunft, und unter dieser Zukunft verstand er den Aufenthalt in Oran. Er wollte die ganze Provinz, vielleicht ganz Algerien besuchen, wenn es anging, bis zur Wüste vordringen. Warum auch nicht? Bei dieser Gelegenheit erkundigte er sich, ob es in Algerien auch noch Araber gebe.

„O ja, einzelne,“ antwortete Marcel Lornans. „Man bewahrt sie wegen der Localfärbung.“

„Und Löwen?...“

„Freilich, ein reichliches halbes Dutzend,“ erwiderte Jean Taconnat, „sie sind aber in Schaffelle gekleidet und haben Rollen an den Tatzen.

„Verlassen Sie sich darauf nicht zu sehr, meine Herren!“ glaubte der Kapitän Bugarach warnen zu müssen.

Man aß gut und trank noch besser. Die neuen Theilnehmer hielten sich schadlos. Man hätte sie Danaïdenfässer nennen mögen. Ach, wenn Herr Désirandelle mit dagewesen wäre! Doch besser, daß er fehlte, denn zuweilen klirrten Gläser aneinander und die Teller gaben den scharfen Ton bewegten Tischgeschirrs von sich.

Die Mittagsstunde war bereits vorüber, als sich die Tafelrunde nach eingenommenem Kaffee und einigen nachgesendeten Likören endlich erhob, den Speisesaal räumte und Schutz unter dem Zelte des Oberdecks sachte.

Nur Herr Eustache Oriental blieb auf seinem Platze, was Clovis Dardentor zu der Frage veranlaßte, wer denn dieser zur Essenszeit so pünktliche und sich sonst so abseits haltende Passagier sei.

„Ich weiß nichts weiter,“ antwortete der Kapitän Bugarach, „als daß er sich Herr Eustache Oriental nennt.

„Und wohin geht er? Woher kommt er?... Was ist sein Beruf?“

„Ich glaube, das weiß niemand.“

Patrice trat heran, seine Dienste anzubieten, wenn sie nöthig wären. Da er die von seinem Herrn gestellten Fragen gehört hatte, glaubte er sich zu den Worten ermächtigt:

„Wenn der Herr mir erlaubt, bin ich in der Lage, über den betreffenden Passagier Auskunft geben zu können.

„Du kennst ihn also?“

„Nein; doch ich habe vom Restaurateur gehört, daß er von dem Commissionär des Hôtels in Cette gehört hat...

„Setze einen Sperrhaken an den Dudelsack, Patrice, und sage in drei Worten, wer der merkwürdige Mann ist.“

„Der Präsident der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar,“ antwortete Patrice trocken.

Ein Astronom... Herr Eustache Oriental war ein Astronom. Das stimmte zusammen mit dem Fernrohr, das er an einem Riemen trug und mit dem er den Horizont an allen Seiten durchmusterte, wenn er sich entschloß, auf dem Oberdeck zu erscheinen. Jedenfalls schien er keine Neigung zu spüren, sich an jemand anzuschließen.

„Er wird gewiß von seiner Astronomie völlig in Anspruch genommen!“ begnügte sich Clovis Dardentor zu antworten.

Gegen ein Uhr zeigte Majorca die Wellenlinien sei nes Uferlandes und die malerischen Höhen, die es beherrschen.

Der „Argeles“ machte eine Schwenkung, um die Insel zu umschiffen, und fand unter dem Schutz des Landes ruhigeres Wasser, was eine Anzahl Passagiere aus ihren Cabinen hervorlockte.

Der Dampfer glitt bald an dem gefährlichen Felsen von Dragonera vorüber, auf dem ein Leuchtthurm steht, und lief dann in die enge Wasserstraße von Friou mit ihren steinichten, schroffen Uferwänden ein. Hierauf wurde das Cap Calanguera an Backbord passiert und der „Argeles“ dampfte in den Eingang zur Bai von Palma ein, wo er an deren Molo vorbeifahrend sich an dem von Neugierigen besetzten Kai festlegte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
005a Der Diener stand unbeweglich neben dem Überbau der Maschine.

005a Der Diener stand unbeweglich neben dem Überbau der Maschine.

005b Herr Désirandelle streckte sich auf den Polsterbänken des Salons aus.

005b Herr Désirandelle streckte sich auf den Polsterbänken des Salons aus.

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