Kapitel (Worin Jean Taconnats Dankbarkeit und Enttäuschung sich zu gleichen Teilen mischen)
Daya, das alte Sidi-bel-Kheradji der Araber - jetzt eine von einer Mauer mit Schießscharten und von vier Bastionen vertheidigte Stadt - beherrscht hier den Zugang nach den Hochebnen Orans.
Um den Touristen von der Anstrengung der beiden vorhergegangenen Tage ausreichende Erholung zu gönnen, war an diesem Platze eine Rast von vierundzwanzig Stunden in Aussicht genommen. Die Karawane sollte also erst am übernächsten Tage weiterziehen.
Den Aufenthalt hier hätte man sogar verlängern können, denn das Klima dieses Fleckens, der vierzehnhundert Meter hoch am Abhange eines Berges mit Pinien und Eichenbeständen liegt, ist als ganz besonders heilsam bekannt, weshalb es viele Europäer gern aufsuchen.
In der sechzehn- bis siebzehntausend fast ausschließlich eingeborne Einwohner zählenden Stadt findet man Franzosen nur als Officiere und Soldaten des Militärpostens.
Ueber den Aufenthalt der Ausflügler in Daya brauchen wir uns nicht eingehender zu verbreiten. Die Damen lustwandelten nur durch das Innre der Stadt. Die Herren wagten sich etwas weiter bis zum Abhange der Berge und in die Wälder hinaus. Einige stiegen auch hinunter nach der Ebne und bis zu den sumpfigen Gehölzen, die nach der Stadt benannt werden und in denen Betoums, Pistazien und wilde Brustbeerbäume vorkommen.
Immer der Bewundrung voll, war es Herr Dardentor, der seine Reisegenossen den ganzen Tag an sich zu fesseln wußte. Marcel Lornans wäre vielleicht lieber bei Frau und Fräulein Elissane geblieben, selbst wenn er die Désirandelle's dabei hätte mit in den Kauf nehmen müssen. Der Retter und der Gerettete durften sich indeß nicht trennen. Jean Taconnat war nothwendigerweise neben dem Perpignaneser, von dem er keinen Fuß breit abließ.
Ein Einziger betheiligte sich nicht an dem Ausfluge, und das war Agathokles, Dank dem Zureden Clovis Dardentor's, der dessen Eltern noch einmal ins Gebet genommen hatte. Seiner Ansicht nach mußte ihr Sohn bei Louise Elissane zurückbleiben, da die Damen die Herren nicht begleiteten. Eine freimüthige Erklärung würde die Verhältnisse der beiden Verlobten gleich aufhellen...
Der Augenblick zu einer solchen gegenseitigen Aussprache sei gekommen u. s. w. Kurz, Agathokles blieb auf ergangenen Befehl zurück.
Ob es zu einer Erklärung gekommen war, wußte am Abend noch niemand; doch als Herr Dardentor da Louise fragte, ob sie gut ausgeruht habe, um am nächsten Tage wieder weiter fahren zu können, antwortete sie:
„O, von der ersten Stunde an, Herr Dardentor! Ihr Gesicht verrieth dabei aber etwas, wie schreckliche Langeweile.“
„Agathokles hat Ihnen doch wohl den ganzen Tag über Gesellschaft geleistet, mein liebes Fräulein?... Da haben Sie zwanglos plaudern können... Das verdanken Sie mir...“
„Ah, also Ihnen, Herr Dardentor?“
„Ja... ich hatte den vortrefflichen Gedanken und zweifle nicht, daß Sie sich darüber gefreut haben...“
„O, ich bitte Sie, Herr Dardentor!“
Dieses „Ah“ und dieses „O“ sagten sehr viel... so viel, daß ein zweistündiges Gespräch auch nicht mehr an den Tag gebracht hätte. Unser Perpignaneser begnügte sich damit aber nicht, er setzte Louise weiter zu und entwand ihr schließlich das Geständniß, daß sie Agathokles nicht leiden könne.
„Zum Teufel,“ murmelte er im Fortgehen, „das macht sich also nicht von allein! Bah, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen!... So ein Mädchenherz ist doch unergründlich, und wie recht that ich, den Kopf nie in eine solche Schlinge zu stecken!“
So dachte Dardentor, es kam ihm dabei aber gar nicht in den Sinn, daß Marcel Lornans dem jungen Désirandelle ein Unrecht zugefügt haben könne. Seiner Meinung nach genügte die auf der Hand liegende Unbedeutendheit, die von ihm selbst nicht erkannte Beschränktheit ihres Zukünftigen, um die Mißachtung Louise Elissane's zu erklären.
Am folgenden Morgen um sieben Uhr wurde Daya wieder verlassen. Menschen und Thiere... alle waren frisch und marschbereit. Das Wetter gestaltete sich sehr günstig, wenn beim Morgengrauen auch Dunstmassen am Himmel standen, da diese sich doch bald auflösen mußten. Regen war nicht in Aussicht. Ueber der Provinz Oran condensieren sich die Wolken so selten, daß nach zwanzigjähriger Beobachtung die mittlere jährliche Regenhöhe noch keinen Meter erreicht - um die Hälfte weniger als in den andern Provinzen Algeriens. Wenn auch nicht vom Himmel, so kommt hier, Dank den vielfachen Verzweigungen der Oueds, das Wasser doch aus der Erde.
Die Entfernung zwischen Daya und Sebdou beträgt etwa vierundsiebzig Kilometer, wenn man der Fahrstraße folgt, die von Ras-el-Ma über El-Gor nach Sebdou führt. Damit macht man von Daya nach Ras-el-Ma freilich einen Umweg von fünf Lieues, doch ist dieser vorzuziehen, statt in grader Linie durch die Alfaanpflanzungen des Westens und durch die Felder der Eingebornen zu fahren. Das hügelige Land hier bietet den Reisenden nämlich nicht den erquickenden Schatten der an den Süden grenzenden Waldungen.
Von Daya aus fällt die Straße nach Sebdou zu. Bei frühzeitigem Aufbruch und Einhaltung einer etwas schnelleren Gangart der Zugthiere rechnete die Karawane darauf, El-Gor am Abend zu erreichen. Das war freilich eine tüchtige Strecke, auf der nur einmal gefrühstückt werden sollte und über die sich die Meharis, die Pferde und die Maulthiere vielleicht zu beklagen gehabt hätten, diese thaten es aber jedenfalls nicht.
So ging es in gewohnter Ordnung fort durch eine Gegend mit sehr vielen Quellbächen, dem Am-Saba, Am-Bahiri, Am-Sassa und andern, lauter Zuflüssen des Oued-Messoulen, und ferner mit Ruinen der Berber, Römer und mit arabischen Marabuts. In den beiden ersten Stunden legten die Touristen die zwanzig Kilometer bis Ras-el-Ma zurück. Das ist eine Station einer in Bau begriffnen Bahnlinie, die Sidi-el-Abbès mit der Gegend der Hochebnen verbinden soll, und gleichzeitig der südlichste Punkt der ganzen Rundreise.
Jetzt galt es nur, dem langen Bogen nachzugehen, der sich von Ras-el-Ma bis El-Gor hinzieht. Letzteres ist nicht mit einer gleichnamigen Station der genannten Eisenbahn zu verwechseln.
Ein kurzer Aufenthalt an diesem Orte, wo zur Zeit die Arbeiter am Bau der Bahn beschäftigt waren, die von der Station Magenta am linken Ufer des Oued-Hacaïba verläuft und von neunhundertfünfundfünfzig bis elfhundertvierzehn Meter ansteigt.
Erst drang man darauf in einen kleinen Wald von vier Hektaren, den Wald des Hacaïba ein, den dieser Oued vom Walde von Daya scheidet und dessen Wasser durch eine Thalsperre stromaufwärts von Magenta angesammelt wird.
Halb zwölf Uhr wurde am jenseitigen Saume des Waldes Halt gemacht.
„Meine Herren,“ begann der Beamte Derivas nach einem Zwiegespräch mit dem Führer Moktani, „ich schlage Ihnen vor, schon an dieser Stelle zu frühstücken.“
„Ein Vorschlag, der immer gern angenommen wird, wenn man vor Hunger bald umkommt!“ ließ sich Jean Taconnat vernehmen.
„Und wir sterben vor Hunger!“ setzte Dardentor dazu. „Ich fühle mich wie ein ausgeblasnes Ei!“
„Da ist auch ein Bergbach mit klarem, frischem Wasser,“ bemerkte Marcel Lornans, „und wenn der Platz hier den Damen genehm ist...“
„Der Vorschlag Moktani's,“ fuhr Herr Derivas fort, „verdient umsomehr angenommen zu werden, als es bis zum Walde von Ourgla, das heißt auf eine Strecke von zwölf bis fünfzehn Kilometern durch die Alfafelder, an jedem Schatten fehlen wird.“
„Also abgemacht, erklärte Dardentor unter Zustimmung der Uebrigen. Die Damen brauchen aber vor dem Endchen Weg im vollen Sonnenschein nicht zu erschrecken; sie werden in ihrem Wagen Schutz finden. Was uns angeht, so brauchen wir dem Tagesgestirn nur straff ins Gesicht zu sehen, da senkt es schon die Augen...“
„Die schärfer sind als die des Adlers!“ schloß Jean Taconnat.
Nun ging's, wie am Vortage, zum Frühstück aus dem Proviant des Lastwagens, der in Daya zum Theil erneuert worden war und nun bis Sebdou reichen mußte.
Zwischen den verschiednen Theilnehmern der Karawane war es schon zu größerer Vertraulichkeit gekommen, mit Ausnahme des Herrn Eustache Oriental, der noch immer für sich blieb. Sonst konnte man sich über den Verlauf des Ausflugs nur freuen und die Bahngesellschaft loben, die zur vollen Befriedigung ihrer Kundschaft für alles gesorgt hatte.
Marcel Lornans that sich durch seine Gefälligkeit hervor. Ganz instinctiv war Herr Dardentor stolz auf ihn, wie es ein Vater auf seinen Sohn ist. Er suchte ihn sogar in noch besseres Licht zu setzen und rief aufrichtig:
„Nicht wahr, meine Damen, ich habe klug daran gethan, diesen Marcel Lornans den...“
„Züngelnden Flammen eines brennenden Waggons zu entreißen!“ konnte Jean Taconnat sich nicht enthalten, den Satz zu vollenden.
„Ganz recht!... Ganz recht!“ stimmte Dardentor ein. „Der Satz mit den volltönenden, stolzen Worten rührt aber von mir her. Ist er nach Deinem Geschmack, Patrice?“
„Er klingt wirklich gut,“ antwortete der Diener lächelnd,“ und wenn sich der Herr in dieser akademischen Weise ausdrückt...“
„Wohlan, meine Herren,“ fiel der Perpignaneser das Glas erhebend ein, „auf die Gesundheit der Damen... und auf die unsrige auch! Vergessen wir nicht, daß hier das Land der Béni-Immerpumper ist!“
„Nun ja, es konnte ja nicht lange dauern!“ murmelte Patrice, den Kopf senkend.
Wir brauchen nicht zu erwähnen, daß Herr und Frau Désirandelle Marcel Lornans unausstehlich, faslig, fad und geziert fanden und sich vornahmen, Herrn Dardentor über ihn den Staar zu stechen, was freilich bei den Anschauungen des redefertigen Mannes kein leichtes Ding sein konnte.
Halb ein Uhr wurden Körbe, Flaschen und Geschirr wieder auf den Lastwagen gepackt und alles machte sich zum Aufbruch fertig. Da, im letzten Augenblicke, fiel es auf, daß Herr Eustache Oriental nicht da war.
„Ich sehe Herrn Oriental nicht mehr,“ sagte der Beamte.
Niemand bemerkte den Mann, obgleich er mit gewohnter Pünktlichkeit und Eßlust am Mahle theilgenommen hatte.
Was war aus ihm geworden?
„Herr Oriental!“ rief Clovis Dardentor mit seiner mächtigen Stimme. „Wo ist er denn hin, der Sterngucker mit seinem Taschenteleskop?... He! Herr Oriental!“
Keine Antwort.
„Wir können den Herrn aber doch nicht im Stich lassen“, sagte Frau Elissane.
Natürlich ging das nicht an. Mehrere suchten also nach ihm, und bald zeigte sich der Astronom, sein Fernrohr nach Nordwesten gerichtet, am Waldessaum.
„Wir wollen ihn nicht stören,“ ermahnte Herr Dardentor, da er eben den Horizont betrachtet. „Wissen Sie denn, daß dieser Sonderling uns gegebenen Falls große Dienste leisten kann? Nur dadurch, daß er die Sonnenhöhe abliest, würde er uns, wenn unser Führer sich verirrte, wieder auf den richtigen Weg...“
„Nach einer Speisekammer bringen,“ fiel Jean Taconnat ein.
„Ganz recht!“
Der Theil des Gebiets von Ouled-Balagh, durch den die Ausflügler auf dem Wege nach El-Gor kamen, enthält sehr ausgedehnte Alfaculturen. Der von unzähligen Gramineen, die über Sehweite hinausreichen, eingefaßte Weg bot kaum den Wagen genügenden Platz. Es mußte sich alles im Gänsemarsch vorwärts bewegen.
Eine zitternd heiße Luft lag auf dem weit offnen Lande. Die Wagen mußten mit den Vorhängen geschlossen werden. Wenn Marcel Lornans jemals das Strahlengestirn gelästert hatte, so war das heute der Fall, denn die geschlossnen Wagen verhüllten ihm ja das liebliche Gesicht Louise Elissane's. Clovis Dardentor, jetzt zwischen den beiden Höckern seines Mehari zurecht gesetzt und „beduinend wie ein echter Sohn Mohammeds“, hatte zum großen Schaden seiner Schweißdrüsen die Augen der Sonne dem Anscheine nach nicht zum Niederschlagen bringen können, und während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, bedauerte er vielleicht, keine arabische Tabourka aufzuhaben, die ihn gegen die brennenden Strahlen geschützt hätte.
„Alle Teufel,“ rief er, „dieser wandelnde Ofen, der von einem Ende des Horizonts bis zum andern hinkriecht, ist aber auch bis zur Weißgluth erhitzt. Der versengt Einem ja ganz das Oberstübchen!“
„Den Kopf... wenn ich bitten darf!“ verbesserte ihn Patrice.
Gegen Nordwesten erhoben sich die bewaldeten Höhen von Ourgla, während im Süden der mächtige Bergstock der Hochebnen aufstieg.
Um drei Uhr erreichte man den Wald, wo die Karawane unter dem undurchdringlichen Dache immergrüner Eichen eine von frischen und belebenden Düften gesättigte Luft wiederfand.
Der Wald von Ourgla ist weit und breit einer der größten, denn er bedeckt nicht weniger als fünfundsiebzigtausend Hektar Boden.
Die Landstraße durchschneidet ihn auf eine Strecke von elf bis zwölf Kilometern. Breit ausgefahren durch die Lastwagen, die die Regierung zur Zeit des Holzschlages hierher schickt, erlaubte sie den Touristen, sich nach Belieben zu gruppieren.
Die Vorhänge der Wagen wurden wieder aufgezogen und die Reiter trabten heran. Da flogen so manche Scherzworte hin und her, und Dardentor wiederholte immer, die Lobsprüche, die ihm niemand - außer den mürrischen Désirandelle's - vorenthielt, einheimsend:
„Na, liebe Freunde, wer ist denn der brave Mann, der Euch diese köstliche Reise angerathen hat?... Sind Sie zufrieden, Frau Elissane, und Sie liebes Fräulein Louise?... Und Sie zögerten noch, Ihre Wohnung in der Alten Schloßstraße einmal zu verlassen! Sagen Sie mir, ist dieser prächtige Wald nicht schöner, als die Straßen von Oran? Könnte der Boulevard Oudinot oder die Létang-Allee sich gegen ihn aufspielen?“
Nein, das konnten sie nicht, umsoweniger, als jetzt ein Haufen kleiner Affen, von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig springend, schreiend und nach Herzenslust Grimassen schneidend, der Karawane das Geleit gab. Um seine Geschicklichkeit zu zeigen „und er war geschickt, von einiger Aufschneiderei vielleicht abgesehen „kam Herrn Dardentor der Einfall, eines der gelenkigen Thiere herunter zu schießen. Da ihm das Andre gewiß nachgemacht hätten, wäre wohl eine Abschlachtung der ganzen Affenbande daraus geworden. Die Damen erhoben jedoch dagegen Einspruch, und wer hätte dem Fräulein Louise Elissane widerstehen können, wenn sie für diese hübschen Master der algerischen Fauna um Gnade bat?
„Und nebenbei bemerkt, Herr Dardentor,“ sagte Jean Taconnat, der sich in den Steigbügeln bis zum Ohr desselben erhob, „wenn Sie nach einem Affen zielen, könnten Sie Agathokles treffen!“
„Ei, ei, Herr Jean,“ antwortete der Perpignaneser, „wahrhaftig, Sie thun dem armen Jungen Unrecht!... Das ist nicht edelmüthig!“
Und als er sich nach Désirandelle Sohn umsah, den sein bockendes Maulthier eben um vier Schritt nach rückwärts abgeworfen hatte, ohne daß der Reiter dabei besondern Schaden nahm, setzte er hinzu:
„Uebrigens wäre ein Affe nicht heruntergefallen...“
„Richtig,“ erwiderte Jean, „und ich bitte alle Vierhänder wegen meines Vergleichs um Verzeihung!“
Wenn El-Gor noch vor der Nacht erreicht werden sollte, galt es, in den letzten Nachmittagsstunden tüchtig auszuschreiten.
Die Thiere wurden also in Trab gesetzt, was natürlich manche Stöße zur Folge hatte. War die Straße auch für Alfabauern und Holzfäller fahrbar, so ließ sie für eine Karawane von Lustreisenden doch viel zu wünschen übrig. Doch trotz des Schaukelns der Wagen und der Fehltritte der Reitthiere auf dem durch ausgefahrene Gleise und hervorstehende Wurzeln unebnen Wege wurde keine Klage hörbar.
Die Damen vorzüglich hatten es eilig, in El-Gor, das heißt an einer Stelle anzukommen, wo sie in Sicherheit wären. Der Gedanke, nach Sonnenuntergang hier durch den Wald zu fahren, hatte für sie gar nichts Verlockendes. Ja, einer Gesellschaft von Affen und einer Heerde von Gazellen oder Antilopen zu begegnen, das war ja ganz angenehm. Jetzt vernahm man in der Ferne aber zuweilen ein verdächtiges Gebrüll, und wenn die Höhlen erst ihre Raubthiere in der Finsterniß ausgesendet haben...
„Meine Damen,“ begann Clovis Dardentor, „erschrecken Sie nicht über etwas, worüber nicht zu erschrecken ist. Würden wir mitten im Walde von der Dunkelheit überrascht, nun ja, das wäre fatal!... Dann richtete ich Ihnen aber einen Lagerplatz inmitten der Wagen ein und wir schliefen einmal unter freiem Himmel. Ich bin überzeugt, daß Sie sich nicht fürchten würden, Fräulein Louise?...“
„So lange Sie in der Nähe sind... nein, Herr Dardentor.“
„Da hören Sie's... mit Herrn Dardentor!... Aha, meine Damen! Das liebe Kind hat Vertrauen zu mir... und mit Recht!
„So gutes Zutrauen man zu Ihrem Werthe auch haben mag,“ antwortete Frau Désirandelle, „würd' ich es doch vorziehen, ihn nicht auf die Probe gestellt zu sehen!“
Die Mutter des Agathokles sprach diese Worte in sehr trocknem Tone, der den vollen Beifall ihres Gatten fand.
„Haben Sie keine Angst, meine Damen,“ sagte jetzt auch Marcel Lornans. „Im gegebnen Fall kann Herr Dardentor auf uns alle rechnen, und wir würden erst das eigne Leben dransetzen, ehe...“
„Schöne Aussichten, meinte Herr Désirandelle, wenn wir nachher auch das unsre verlieren sollen!“
„Doch völlig logisch, alter Freund,“ erwiderte Clovis Dardentor. „Uebrigens wüßt' ich nicht, welche Gefahr...“
„Die Gefahr, von einer Bande Uebelthäter angefallen zu werden,“ sagte Frau Désirandelle.
„Ich glaube nicht, daß in dieser Hinsicht etwas zu besorgen ist,“ fiel der Beamte beruhigend ein.
„Ja, woher wissen Sie das?“ fuhr die Dame fort, die sich nicht ergeben wollte. „Dann kommen auch noch die Raubthiere in Frage, die in der Nacht umherschweifen...“
„Von denen ist erst recht nichts zu befürchten,“ versicherte Dardentor. „Wir stellen an den vier Ecken des Lagerplatzes Wachtposten auf, unterhalten bis zum Tagesanbruch mehrere Feuer, Agathokles bekommt die Flinte Castibelza's und erhält seinen Platz...“
„Ich bitte Sie dringend, Agathokles da zu lassen, wo er eben ist!“ entgegnete Frau Désirandelle erschrocken.
„Gut, er mag bleiben! Die Herren Marcel und Jean werden schon ihre Sache machen...“
„Gern zugegeben,“ erklärte Frau Elissane, „am besten ist es aber doch, noch bis El-Gor zu kommen.“
„Vorwärts also, Pferde, Maulesel und Meharis!“ rief Clovis Dardentor. „Drauf, und laßt sie die Köpfe zwischen die Beine nehmen!“
„Der Mann kann doch nie mit einer anständigen Rede schließen!“ dachte Patrice.
Dabei versetzte er seinem Maulthiere einen Schlag mit der Reitgerte, den er lieber seinem Herrn hätte zukommen lassen.
Schließlich trabte die Karawane ziemlich schnell von dannen und hielt gegen sechs Uhr an der entgegengesetzten Seite des Waldes von Ourgla ein wenig an. Von hier aus trennten sie nur noch fünf bis sechs Kilometer von El-Gor, wo sie vor Einbruch der Nacht anlangen mußte.
An dieser Stelle wurde ein Flußübergang nöthig, der sich weniger leicht als die früheren gestaltete.
Ein ziemlich breiter Oued durchschnitt die Straße. Der Sar, ein Seitenarm des Oued-Slissen, hatte Hochwasser, wahrscheinlich infolge der theilweisen Leerung einer stromaufwärts gelegnen, überfüllten Thalsperre. Die Furten, durch die die Karawane zwischen Saïda und Daya gezogen war, hatten kaum die Füße der Gespanne benetzt, da sie fast trocken lagen. Diesmal handelte es sich um achtzig bis neunzig Centimeter Wassertiefe, was indeß den Führer, der die Furt genau kannte, gar nicht in Verlegenheit setzte.
Moktani wählte also eine weniger steil abfallende Stelle aus, wo die Personen- und der Lastwagen bequemer nach dem Bett des Oued hinabgelangen konnten. Da das Wasser kaum bis über die Nabe der Räder reichen sollte, würden die Sitzkasten trocken bleiben und die Insassen konnten darauf rechnen, ungefährdet nach dem andern, etwa zehn Meter entfernten Ufer zu gelangen.
Der Führer ritt voraus; Derivas und Dardentor folgten ihm. Von der Höhe seines gewaltigen Reitthiers beherrschte letzterer sozusagen die Fläche des Flusses, ähnlich einem Wasserungethüm der antediluvianischen Epoche.
Zu beiden Seiten des Wagens, worin die Damen saßen, hielten sich Marcel Lornans zur Linken und Jean Taconnat zur Rechten. Dann folgten die andern beiden Wagen, von denen die Touristen nicht abgestiegen waren. Die auf den Lastwagen sitzenden Eingebornen bildeten die Nachhut der Karawane.
Agathokles hatte auf das bestimmte Verlangen seiner Mutter von dem Maulthiere absitzen und mit in den Wagen steigen müssen. Frau Désirandelle wollte ihren Sohn keinem unfreiwilligen Bade im Sar ausgesetzt sehen, für den Fall, daß das launische Thier wieder einige Bocksprünge wagte, denen sein Reiter rettungslos zum Opfer gefallen wäre.
Die Durchfahrt ging in der von Moktani eingehaltenen Richtung bisher ohne Unfall von statten. Da sich das Flußbett allmählich vertiefte, sanken die Gespanne nur nach und nach ins Wasser. Dieses reichte ihnen, selbst in der Mitte des Oued, noch nicht einmal bis an den Bauch. Wenn die Reiter auch die Beine emporhoben, hatten das Herr Dardentor und der Führer auf ihren Meharis nicht nöthig.
Die Hälfte der kleinen Strecke war bereits überwunden, als sich ein Schrei vernehmen ließ.
Louise Elissane hatte ihn ausgestoßen, als sie Jean Taconnat verschwinden sah, dessen Pferde es für alle vier Füße plötzlich an Grund fehlte.
Rechts von der Furt befand sich nämlich eine fünf bis sechs Meter tiefe Depression, die der Führer dadurch vermied, daß er sich etwas weiter stromauf davon hielt.
Der Aufschrei des Fräulein Elissane brachte die Karawane zum Stehen.
Jean Taconnat als guter Schwimmer wäre nicht gefährdet gewesen, wenn er sich von den Steigbügeln befreit hätte. Von dem plötzlichen Vorgang überrascht, fand er aber keine Zeit dazu und wurde gegen die Seite seines Pferdes geworfen, das heftig ausschlug.
Marcel Lornans riß in dem Augenblicke, wo sein Vetter verschwand, sein Pferd schnell nach rechts.
„Jean, rief er, Jean!...“
Trotz seiner Unfähigkeit zu schwimmen, wollte er doch, auf die Gefahr, selbst zu ertrinken, den Versuch machen, ihm Hilfe zu bringen, als ein Andrer ihm schon zuvorkam. Dieser Andre war Clovis Dardentor. Nach Abwerfung seines Zerdani stürzte sich der Perpignaneser vom Rücken seines Mehari in den Sar und schwamm nach der Stelle, wo sich noch ein Wirbeln des Wassers zeigte.
Regungslos, kaum athmend und starr vor Schreck folgten Aller Augen dem kühnen Retter. Sollte er seine Kräfte nicht überschätzt haben und waren am Ende gar zwei Opfer statt eines zu zählen?
Nach wenigen Secunden tauchte Clovis Dardentor wieder auf und zog den halberstickten Jean Taconnat, den er glücklich aus den Steigbügeln losgemacht hatte, nach sich. Er hatte ihn am Halskragen gepackt, hielt seinen Kopf mit der einen Hand über Wasser und steuerte mit der andern Hand den seichteren Stellen zu.
Einige Augenblicke später erstieg die Karawane das jenseitige Ufer. Alles verließ die Wagen und die Pferde und drängte sich um den jungen Mann, der bald wieder zum Bewußtsein kam, während Clovis Dardentor sich wie ein durchnäßter Neufundländer schüttelte.
Jean Taconnat begriff nun, was vorgegangen war, wem er das Leben verdankte, und streckte seinem Retter die Hand entgegen; doch statt diesem zu danken, sagte er:
„Das ist eben mein Unglück!“
Diese Antwort wurde natürlich von niemand, außer von Freund Marcel, richtig verstanden.
Hinter einem Baumdickicht, wenige Schritte vom Ufer, wohin ihnen Patrice aus ihren Reisetaschen einen andern Anzug gebracht hatte, kleideten sich Clovis Dardentor und Jean Taconnat vom Kopf bis zu den Füßen um.
Nach kurzem Halt setzte sich die Karawane wieder in Bewegung und halb neun Uhr abends hatte sie die lange Strecke bis El-Gor glücklich hinter sich.
Um den Touristen von der Anstrengung der beiden vorhergegangenen Tage ausreichende Erholung zu gönnen, war an diesem Platze eine Rast von vierundzwanzig Stunden in Aussicht genommen. Die Karawane sollte also erst am übernächsten Tage weiterziehen.
Den Aufenthalt hier hätte man sogar verlängern können, denn das Klima dieses Fleckens, der vierzehnhundert Meter hoch am Abhange eines Berges mit Pinien und Eichenbeständen liegt, ist als ganz besonders heilsam bekannt, weshalb es viele Europäer gern aufsuchen.
In der sechzehn- bis siebzehntausend fast ausschließlich eingeborne Einwohner zählenden Stadt findet man Franzosen nur als Officiere und Soldaten des Militärpostens.
Ueber den Aufenthalt der Ausflügler in Daya brauchen wir uns nicht eingehender zu verbreiten. Die Damen lustwandelten nur durch das Innre der Stadt. Die Herren wagten sich etwas weiter bis zum Abhange der Berge und in die Wälder hinaus. Einige stiegen auch hinunter nach der Ebne und bis zu den sumpfigen Gehölzen, die nach der Stadt benannt werden und in denen Betoums, Pistazien und wilde Brustbeerbäume vorkommen.
Immer der Bewundrung voll, war es Herr Dardentor, der seine Reisegenossen den ganzen Tag an sich zu fesseln wußte. Marcel Lornans wäre vielleicht lieber bei Frau und Fräulein Elissane geblieben, selbst wenn er die Désirandelle's dabei hätte mit in den Kauf nehmen müssen. Der Retter und der Gerettete durften sich indeß nicht trennen. Jean Taconnat war nothwendigerweise neben dem Perpignaneser, von dem er keinen Fuß breit abließ.
Ein Einziger betheiligte sich nicht an dem Ausfluge, und das war Agathokles, Dank dem Zureden Clovis Dardentor's, der dessen Eltern noch einmal ins Gebet genommen hatte. Seiner Ansicht nach mußte ihr Sohn bei Louise Elissane zurückbleiben, da die Damen die Herren nicht begleiteten. Eine freimüthige Erklärung würde die Verhältnisse der beiden Verlobten gleich aufhellen...
Der Augenblick zu einer solchen gegenseitigen Aussprache sei gekommen u. s. w. Kurz, Agathokles blieb auf ergangenen Befehl zurück.
Ob es zu einer Erklärung gekommen war, wußte am Abend noch niemand; doch als Herr Dardentor da Louise fragte, ob sie gut ausgeruht habe, um am nächsten Tage wieder weiter fahren zu können, antwortete sie:
„O, von der ersten Stunde an, Herr Dardentor! Ihr Gesicht verrieth dabei aber etwas, wie schreckliche Langeweile.“
„Agathokles hat Ihnen doch wohl den ganzen Tag über Gesellschaft geleistet, mein liebes Fräulein?... Da haben Sie zwanglos plaudern können... Das verdanken Sie mir...“
„Ah, also Ihnen, Herr Dardentor?“
„Ja... ich hatte den vortrefflichen Gedanken und zweifle nicht, daß Sie sich darüber gefreut haben...“
„O, ich bitte Sie, Herr Dardentor!“
Dieses „Ah“ und dieses „O“ sagten sehr viel... so viel, daß ein zweistündiges Gespräch auch nicht mehr an den Tag gebracht hätte. Unser Perpignaneser begnügte sich damit aber nicht, er setzte Louise weiter zu und entwand ihr schließlich das Geständniß, daß sie Agathokles nicht leiden könne.
„Zum Teufel,“ murmelte er im Fortgehen, „das macht sich also nicht von allein! Bah, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen!... So ein Mädchenherz ist doch unergründlich, und wie recht that ich, den Kopf nie in eine solche Schlinge zu stecken!“
So dachte Dardentor, es kam ihm dabei aber gar nicht in den Sinn, daß Marcel Lornans dem jungen Désirandelle ein Unrecht zugefügt haben könne. Seiner Meinung nach genügte die auf der Hand liegende Unbedeutendheit, die von ihm selbst nicht erkannte Beschränktheit ihres Zukünftigen, um die Mißachtung Louise Elissane's zu erklären.
Am folgenden Morgen um sieben Uhr wurde Daya wieder verlassen. Menschen und Thiere... alle waren frisch und marschbereit. Das Wetter gestaltete sich sehr günstig, wenn beim Morgengrauen auch Dunstmassen am Himmel standen, da diese sich doch bald auflösen mußten. Regen war nicht in Aussicht. Ueber der Provinz Oran condensieren sich die Wolken so selten, daß nach zwanzigjähriger Beobachtung die mittlere jährliche Regenhöhe noch keinen Meter erreicht - um die Hälfte weniger als in den andern Provinzen Algeriens. Wenn auch nicht vom Himmel, so kommt hier, Dank den vielfachen Verzweigungen der Oueds, das Wasser doch aus der Erde.
Die Entfernung zwischen Daya und Sebdou beträgt etwa vierundsiebzig Kilometer, wenn man der Fahrstraße folgt, die von Ras-el-Ma über El-Gor nach Sebdou führt. Damit macht man von Daya nach Ras-el-Ma freilich einen Umweg von fünf Lieues, doch ist dieser vorzuziehen, statt in grader Linie durch die Alfaanpflanzungen des Westens und durch die Felder der Eingebornen zu fahren. Das hügelige Land hier bietet den Reisenden nämlich nicht den erquickenden Schatten der an den Süden grenzenden Waldungen.
Von Daya aus fällt die Straße nach Sebdou zu. Bei frühzeitigem Aufbruch und Einhaltung einer etwas schnelleren Gangart der Zugthiere rechnete die Karawane darauf, El-Gor am Abend zu erreichen. Das war freilich eine tüchtige Strecke, auf der nur einmal gefrühstückt werden sollte und über die sich die Meharis, die Pferde und die Maulthiere vielleicht zu beklagen gehabt hätten, diese thaten es aber jedenfalls nicht.
So ging es in gewohnter Ordnung fort durch eine Gegend mit sehr vielen Quellbächen, dem Am-Saba, Am-Bahiri, Am-Sassa und andern, lauter Zuflüssen des Oued-Messoulen, und ferner mit Ruinen der Berber, Römer und mit arabischen Marabuts. In den beiden ersten Stunden legten die Touristen die zwanzig Kilometer bis Ras-el-Ma zurück. Das ist eine Station einer in Bau begriffnen Bahnlinie, die Sidi-el-Abbès mit der Gegend der Hochebnen verbinden soll, und gleichzeitig der südlichste Punkt der ganzen Rundreise.
Jetzt galt es nur, dem langen Bogen nachzugehen, der sich von Ras-el-Ma bis El-Gor hinzieht. Letzteres ist nicht mit einer gleichnamigen Station der genannten Eisenbahn zu verwechseln.
Ein kurzer Aufenthalt an diesem Orte, wo zur Zeit die Arbeiter am Bau der Bahn beschäftigt waren, die von der Station Magenta am linken Ufer des Oued-Hacaïba verläuft und von neunhundertfünfundfünfzig bis elfhundertvierzehn Meter ansteigt.
Erst drang man darauf in einen kleinen Wald von vier Hektaren, den Wald des Hacaïba ein, den dieser Oued vom Walde von Daya scheidet und dessen Wasser durch eine Thalsperre stromaufwärts von Magenta angesammelt wird.
Halb zwölf Uhr wurde am jenseitigen Saume des Waldes Halt gemacht.
„Meine Herren,“ begann der Beamte Derivas nach einem Zwiegespräch mit dem Führer Moktani, „ich schlage Ihnen vor, schon an dieser Stelle zu frühstücken.“
„Ein Vorschlag, der immer gern angenommen wird, wenn man vor Hunger bald umkommt!“ ließ sich Jean Taconnat vernehmen.
„Und wir sterben vor Hunger!“ setzte Dardentor dazu. „Ich fühle mich wie ein ausgeblasnes Ei!“
„Da ist auch ein Bergbach mit klarem, frischem Wasser,“ bemerkte Marcel Lornans, „und wenn der Platz hier den Damen genehm ist...“
„Der Vorschlag Moktani's,“ fuhr Herr Derivas fort, „verdient umsomehr angenommen zu werden, als es bis zum Walde von Ourgla, das heißt auf eine Strecke von zwölf bis fünfzehn Kilometern durch die Alfafelder, an jedem Schatten fehlen wird.“
„Also abgemacht, erklärte Dardentor unter Zustimmung der Uebrigen. Die Damen brauchen aber vor dem Endchen Weg im vollen Sonnenschein nicht zu erschrecken; sie werden in ihrem Wagen Schutz finden. Was uns angeht, so brauchen wir dem Tagesgestirn nur straff ins Gesicht zu sehen, da senkt es schon die Augen...“
„Die schärfer sind als die des Adlers!“ schloß Jean Taconnat.
Nun ging's, wie am Vortage, zum Frühstück aus dem Proviant des Lastwagens, der in Daya zum Theil erneuert worden war und nun bis Sebdou reichen mußte.
Zwischen den verschiednen Theilnehmern der Karawane war es schon zu größerer Vertraulichkeit gekommen, mit Ausnahme des Herrn Eustache Oriental, der noch immer für sich blieb. Sonst konnte man sich über den Verlauf des Ausflugs nur freuen und die Bahngesellschaft loben, die zur vollen Befriedigung ihrer Kundschaft für alles gesorgt hatte.
Marcel Lornans that sich durch seine Gefälligkeit hervor. Ganz instinctiv war Herr Dardentor stolz auf ihn, wie es ein Vater auf seinen Sohn ist. Er suchte ihn sogar in noch besseres Licht zu setzen und rief aufrichtig:
„Nicht wahr, meine Damen, ich habe klug daran gethan, diesen Marcel Lornans den...“
„Züngelnden Flammen eines brennenden Waggons zu entreißen!“ konnte Jean Taconnat sich nicht enthalten, den Satz zu vollenden.
„Ganz recht!... Ganz recht!“ stimmte Dardentor ein. „Der Satz mit den volltönenden, stolzen Worten rührt aber von mir her. Ist er nach Deinem Geschmack, Patrice?“
„Er klingt wirklich gut,“ antwortete der Diener lächelnd,“ und wenn sich der Herr in dieser akademischen Weise ausdrückt...“
„Wohlan, meine Herren,“ fiel der Perpignaneser das Glas erhebend ein, „auf die Gesundheit der Damen... und auf die unsrige auch! Vergessen wir nicht, daß hier das Land der Béni-Immerpumper ist!“
„Nun ja, es konnte ja nicht lange dauern!“ murmelte Patrice, den Kopf senkend.
Wir brauchen nicht zu erwähnen, daß Herr und Frau Désirandelle Marcel Lornans unausstehlich, faslig, fad und geziert fanden und sich vornahmen, Herrn Dardentor über ihn den Staar zu stechen, was freilich bei den Anschauungen des redefertigen Mannes kein leichtes Ding sein konnte.
Halb ein Uhr wurden Körbe, Flaschen und Geschirr wieder auf den Lastwagen gepackt und alles machte sich zum Aufbruch fertig. Da, im letzten Augenblicke, fiel es auf, daß Herr Eustache Oriental nicht da war.
„Ich sehe Herrn Oriental nicht mehr,“ sagte der Beamte.
Niemand bemerkte den Mann, obgleich er mit gewohnter Pünktlichkeit und Eßlust am Mahle theilgenommen hatte.
Was war aus ihm geworden?
„Herr Oriental!“ rief Clovis Dardentor mit seiner mächtigen Stimme. „Wo ist er denn hin, der Sterngucker mit seinem Taschenteleskop?... He! Herr Oriental!“
Keine Antwort.
„Wir können den Herrn aber doch nicht im Stich lassen“, sagte Frau Elissane.
Natürlich ging das nicht an. Mehrere suchten also nach ihm, und bald zeigte sich der Astronom, sein Fernrohr nach Nordwesten gerichtet, am Waldessaum.
„Wir wollen ihn nicht stören,“ ermahnte Herr Dardentor, da er eben den Horizont betrachtet. „Wissen Sie denn, daß dieser Sonderling uns gegebenen Falls große Dienste leisten kann? Nur dadurch, daß er die Sonnenhöhe abliest, würde er uns, wenn unser Führer sich verirrte, wieder auf den richtigen Weg...“
„Nach einer Speisekammer bringen,“ fiel Jean Taconnat ein.
„Ganz recht!“
Der Theil des Gebiets von Ouled-Balagh, durch den die Ausflügler auf dem Wege nach El-Gor kamen, enthält sehr ausgedehnte Alfaculturen. Der von unzähligen Gramineen, die über Sehweite hinausreichen, eingefaßte Weg bot kaum den Wagen genügenden Platz. Es mußte sich alles im Gänsemarsch vorwärts bewegen.
Eine zitternd heiße Luft lag auf dem weit offnen Lande. Die Wagen mußten mit den Vorhängen geschlossen werden. Wenn Marcel Lornans jemals das Strahlengestirn gelästert hatte, so war das heute der Fall, denn die geschlossnen Wagen verhüllten ihm ja das liebliche Gesicht Louise Elissane's. Clovis Dardentor, jetzt zwischen den beiden Höckern seines Mehari zurecht gesetzt und „beduinend wie ein echter Sohn Mohammeds“, hatte zum großen Schaden seiner Schweißdrüsen die Augen der Sonne dem Anscheine nach nicht zum Niederschlagen bringen können, und während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, bedauerte er vielleicht, keine arabische Tabourka aufzuhaben, die ihn gegen die brennenden Strahlen geschützt hätte.
„Alle Teufel,“ rief er, „dieser wandelnde Ofen, der von einem Ende des Horizonts bis zum andern hinkriecht, ist aber auch bis zur Weißgluth erhitzt. Der versengt Einem ja ganz das Oberstübchen!“
„Den Kopf... wenn ich bitten darf!“ verbesserte ihn Patrice.
Gegen Nordwesten erhoben sich die bewaldeten Höhen von Ourgla, während im Süden der mächtige Bergstock der Hochebnen aufstieg.
Um drei Uhr erreichte man den Wald, wo die Karawane unter dem undurchdringlichen Dache immergrüner Eichen eine von frischen und belebenden Düften gesättigte Luft wiederfand.
Der Wald von Ourgla ist weit und breit einer der größten, denn er bedeckt nicht weniger als fünfundsiebzigtausend Hektar Boden.
Die Landstraße durchschneidet ihn auf eine Strecke von elf bis zwölf Kilometern. Breit ausgefahren durch die Lastwagen, die die Regierung zur Zeit des Holzschlages hierher schickt, erlaubte sie den Touristen, sich nach Belieben zu gruppieren.
Die Vorhänge der Wagen wurden wieder aufgezogen und die Reiter trabten heran. Da flogen so manche Scherzworte hin und her, und Dardentor wiederholte immer, die Lobsprüche, die ihm niemand - außer den mürrischen Désirandelle's - vorenthielt, einheimsend:
„Na, liebe Freunde, wer ist denn der brave Mann, der Euch diese köstliche Reise angerathen hat?... Sind Sie zufrieden, Frau Elissane, und Sie liebes Fräulein Louise?... Und Sie zögerten noch, Ihre Wohnung in der Alten Schloßstraße einmal zu verlassen! Sagen Sie mir, ist dieser prächtige Wald nicht schöner, als die Straßen von Oran? Könnte der Boulevard Oudinot oder die Létang-Allee sich gegen ihn aufspielen?“
Nein, das konnten sie nicht, umsoweniger, als jetzt ein Haufen kleiner Affen, von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig springend, schreiend und nach Herzenslust Grimassen schneidend, der Karawane das Geleit gab. Um seine Geschicklichkeit zu zeigen „und er war geschickt, von einiger Aufschneiderei vielleicht abgesehen „kam Herrn Dardentor der Einfall, eines der gelenkigen Thiere herunter zu schießen. Da ihm das Andre gewiß nachgemacht hätten, wäre wohl eine Abschlachtung der ganzen Affenbande daraus geworden. Die Damen erhoben jedoch dagegen Einspruch, und wer hätte dem Fräulein Louise Elissane widerstehen können, wenn sie für diese hübschen Master der algerischen Fauna um Gnade bat?
„Und nebenbei bemerkt, Herr Dardentor,“ sagte Jean Taconnat, der sich in den Steigbügeln bis zum Ohr desselben erhob, „wenn Sie nach einem Affen zielen, könnten Sie Agathokles treffen!“
„Ei, ei, Herr Jean,“ antwortete der Perpignaneser, „wahrhaftig, Sie thun dem armen Jungen Unrecht!... Das ist nicht edelmüthig!“
Und als er sich nach Désirandelle Sohn umsah, den sein bockendes Maulthier eben um vier Schritt nach rückwärts abgeworfen hatte, ohne daß der Reiter dabei besondern Schaden nahm, setzte er hinzu:
„Uebrigens wäre ein Affe nicht heruntergefallen...“
„Richtig,“ erwiderte Jean, „und ich bitte alle Vierhänder wegen meines Vergleichs um Verzeihung!“
Wenn El-Gor noch vor der Nacht erreicht werden sollte, galt es, in den letzten Nachmittagsstunden tüchtig auszuschreiten.
Die Thiere wurden also in Trab gesetzt, was natürlich manche Stöße zur Folge hatte. War die Straße auch für Alfabauern und Holzfäller fahrbar, so ließ sie für eine Karawane von Lustreisenden doch viel zu wünschen übrig. Doch trotz des Schaukelns der Wagen und der Fehltritte der Reitthiere auf dem durch ausgefahrene Gleise und hervorstehende Wurzeln unebnen Wege wurde keine Klage hörbar.
Die Damen vorzüglich hatten es eilig, in El-Gor, das heißt an einer Stelle anzukommen, wo sie in Sicherheit wären. Der Gedanke, nach Sonnenuntergang hier durch den Wald zu fahren, hatte für sie gar nichts Verlockendes. Ja, einer Gesellschaft von Affen und einer Heerde von Gazellen oder Antilopen zu begegnen, das war ja ganz angenehm. Jetzt vernahm man in der Ferne aber zuweilen ein verdächtiges Gebrüll, und wenn die Höhlen erst ihre Raubthiere in der Finsterniß ausgesendet haben...
„Meine Damen,“ begann Clovis Dardentor, „erschrecken Sie nicht über etwas, worüber nicht zu erschrecken ist. Würden wir mitten im Walde von der Dunkelheit überrascht, nun ja, das wäre fatal!... Dann richtete ich Ihnen aber einen Lagerplatz inmitten der Wagen ein und wir schliefen einmal unter freiem Himmel. Ich bin überzeugt, daß Sie sich nicht fürchten würden, Fräulein Louise?...“
„So lange Sie in der Nähe sind... nein, Herr Dardentor.“
„Da hören Sie's... mit Herrn Dardentor!... Aha, meine Damen! Das liebe Kind hat Vertrauen zu mir... und mit Recht!
„So gutes Zutrauen man zu Ihrem Werthe auch haben mag,“ antwortete Frau Désirandelle, „würd' ich es doch vorziehen, ihn nicht auf die Probe gestellt zu sehen!“
Die Mutter des Agathokles sprach diese Worte in sehr trocknem Tone, der den vollen Beifall ihres Gatten fand.
„Haben Sie keine Angst, meine Damen,“ sagte jetzt auch Marcel Lornans. „Im gegebnen Fall kann Herr Dardentor auf uns alle rechnen, und wir würden erst das eigne Leben dransetzen, ehe...“
„Schöne Aussichten, meinte Herr Désirandelle, wenn wir nachher auch das unsre verlieren sollen!“
„Doch völlig logisch, alter Freund,“ erwiderte Clovis Dardentor. „Uebrigens wüßt' ich nicht, welche Gefahr...“
„Die Gefahr, von einer Bande Uebelthäter angefallen zu werden,“ sagte Frau Désirandelle.
„Ich glaube nicht, daß in dieser Hinsicht etwas zu besorgen ist,“ fiel der Beamte beruhigend ein.
„Ja, woher wissen Sie das?“ fuhr die Dame fort, die sich nicht ergeben wollte. „Dann kommen auch noch die Raubthiere in Frage, die in der Nacht umherschweifen...“
„Von denen ist erst recht nichts zu befürchten,“ versicherte Dardentor. „Wir stellen an den vier Ecken des Lagerplatzes Wachtposten auf, unterhalten bis zum Tagesanbruch mehrere Feuer, Agathokles bekommt die Flinte Castibelza's und erhält seinen Platz...“
„Ich bitte Sie dringend, Agathokles da zu lassen, wo er eben ist!“ entgegnete Frau Désirandelle erschrocken.
„Gut, er mag bleiben! Die Herren Marcel und Jean werden schon ihre Sache machen...“
„Gern zugegeben,“ erklärte Frau Elissane, „am besten ist es aber doch, noch bis El-Gor zu kommen.“
„Vorwärts also, Pferde, Maulesel und Meharis!“ rief Clovis Dardentor. „Drauf, und laßt sie die Köpfe zwischen die Beine nehmen!“
„Der Mann kann doch nie mit einer anständigen Rede schließen!“ dachte Patrice.
Dabei versetzte er seinem Maulthiere einen Schlag mit der Reitgerte, den er lieber seinem Herrn hätte zukommen lassen.
Schließlich trabte die Karawane ziemlich schnell von dannen und hielt gegen sechs Uhr an der entgegengesetzten Seite des Waldes von Ourgla ein wenig an. Von hier aus trennten sie nur noch fünf bis sechs Kilometer von El-Gor, wo sie vor Einbruch der Nacht anlangen mußte.
An dieser Stelle wurde ein Flußübergang nöthig, der sich weniger leicht als die früheren gestaltete.
Ein ziemlich breiter Oued durchschnitt die Straße. Der Sar, ein Seitenarm des Oued-Slissen, hatte Hochwasser, wahrscheinlich infolge der theilweisen Leerung einer stromaufwärts gelegnen, überfüllten Thalsperre. Die Furten, durch die die Karawane zwischen Saïda und Daya gezogen war, hatten kaum die Füße der Gespanne benetzt, da sie fast trocken lagen. Diesmal handelte es sich um achtzig bis neunzig Centimeter Wassertiefe, was indeß den Führer, der die Furt genau kannte, gar nicht in Verlegenheit setzte.
Moktani wählte also eine weniger steil abfallende Stelle aus, wo die Personen- und der Lastwagen bequemer nach dem Bett des Oued hinabgelangen konnten. Da das Wasser kaum bis über die Nabe der Räder reichen sollte, würden die Sitzkasten trocken bleiben und die Insassen konnten darauf rechnen, ungefährdet nach dem andern, etwa zehn Meter entfernten Ufer zu gelangen.
Der Führer ritt voraus; Derivas und Dardentor folgten ihm. Von der Höhe seines gewaltigen Reitthiers beherrschte letzterer sozusagen die Fläche des Flusses, ähnlich einem Wasserungethüm der antediluvianischen Epoche.
Zu beiden Seiten des Wagens, worin die Damen saßen, hielten sich Marcel Lornans zur Linken und Jean Taconnat zur Rechten. Dann folgten die andern beiden Wagen, von denen die Touristen nicht abgestiegen waren. Die auf den Lastwagen sitzenden Eingebornen bildeten die Nachhut der Karawane.
Agathokles hatte auf das bestimmte Verlangen seiner Mutter von dem Maulthiere absitzen und mit in den Wagen steigen müssen. Frau Désirandelle wollte ihren Sohn keinem unfreiwilligen Bade im Sar ausgesetzt sehen, für den Fall, daß das launische Thier wieder einige Bocksprünge wagte, denen sein Reiter rettungslos zum Opfer gefallen wäre.
Die Durchfahrt ging in der von Moktani eingehaltenen Richtung bisher ohne Unfall von statten. Da sich das Flußbett allmählich vertiefte, sanken die Gespanne nur nach und nach ins Wasser. Dieses reichte ihnen, selbst in der Mitte des Oued, noch nicht einmal bis an den Bauch. Wenn die Reiter auch die Beine emporhoben, hatten das Herr Dardentor und der Führer auf ihren Meharis nicht nöthig.
Die Hälfte der kleinen Strecke war bereits überwunden, als sich ein Schrei vernehmen ließ.
Louise Elissane hatte ihn ausgestoßen, als sie Jean Taconnat verschwinden sah, dessen Pferde es für alle vier Füße plötzlich an Grund fehlte.
Rechts von der Furt befand sich nämlich eine fünf bis sechs Meter tiefe Depression, die der Führer dadurch vermied, daß er sich etwas weiter stromauf davon hielt.
Der Aufschrei des Fräulein Elissane brachte die Karawane zum Stehen.
Jean Taconnat als guter Schwimmer wäre nicht gefährdet gewesen, wenn er sich von den Steigbügeln befreit hätte. Von dem plötzlichen Vorgang überrascht, fand er aber keine Zeit dazu und wurde gegen die Seite seines Pferdes geworfen, das heftig ausschlug.
Marcel Lornans riß in dem Augenblicke, wo sein Vetter verschwand, sein Pferd schnell nach rechts.
„Jean, rief er, Jean!...“
Trotz seiner Unfähigkeit zu schwimmen, wollte er doch, auf die Gefahr, selbst zu ertrinken, den Versuch machen, ihm Hilfe zu bringen, als ein Andrer ihm schon zuvorkam. Dieser Andre war Clovis Dardentor. Nach Abwerfung seines Zerdani stürzte sich der Perpignaneser vom Rücken seines Mehari in den Sar und schwamm nach der Stelle, wo sich noch ein Wirbeln des Wassers zeigte.
Regungslos, kaum athmend und starr vor Schreck folgten Aller Augen dem kühnen Retter. Sollte er seine Kräfte nicht überschätzt haben und waren am Ende gar zwei Opfer statt eines zu zählen?
Nach wenigen Secunden tauchte Clovis Dardentor wieder auf und zog den halberstickten Jean Taconnat, den er glücklich aus den Steigbügeln losgemacht hatte, nach sich. Er hatte ihn am Halskragen gepackt, hielt seinen Kopf mit der einen Hand über Wasser und steuerte mit der andern Hand den seichteren Stellen zu.
Einige Augenblicke später erstieg die Karawane das jenseitige Ufer. Alles verließ die Wagen und die Pferde und drängte sich um den jungen Mann, der bald wieder zum Bewußtsein kam, während Clovis Dardentor sich wie ein durchnäßter Neufundländer schüttelte.
Jean Taconnat begriff nun, was vorgegangen war, wem er das Leben verdankte, und streckte seinem Retter die Hand entgegen; doch statt diesem zu danken, sagte er:
„Das ist eben mein Unglück!“
Diese Antwort wurde natürlich von niemand, außer von Freund Marcel, richtig verstanden.
Hinter einem Baumdickicht, wenige Schritte vom Ufer, wohin ihnen Patrice aus ihren Reisetaschen einen andern Anzug gebracht hatte, kleideten sich Clovis Dardentor und Jean Taconnat vom Kopf bis zu den Füßen um.
Nach kurzem Halt setzte sich die Karawane wieder in Bewegung und halb neun Uhr abends hatte sie die lange Strecke bis El-Gor glücklich hinter sich.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
013a Man frühstückte aus dem Proviant des Lastwagens.
013b „Ein Affe wäre nicht heruntergefallen...“
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