Kapitel (Worin Clovis Dardentor vom Schloss Bellver schneller zurückkehrt, als er hingekommen war)

Es war jetzt halb fünf Uhr, also noch genügend Zeit, den Ausflug bis zu jenem Castillo auszudehnen, dessen bevorzugte Lage der Führer gerühmt hatte, sein Innres zu besuchen und die Plattform seines Hauptthurms zu ersteigen, um einen Blick über das Küstenland der Bai von Palma zu genießen.

Zu Wagen kann man binnen vierzig Minuten dahin gelangen, wenn das Gespann auf den bergigen Wegen nicht gar zu langsam geht. Das war jedoch nur eine Geldfrage und diese wieder leicht zu lösen zu Gunsten der drei Ausflügler, die der Kapitän Bugarach nicht abwarten würde, wenn sie sich verspäteten. Der Perpignaneser wußte ja davon zu erzählen.


Dicht am Jesusthore hielten ein halbes Dutzend Galeras, die nur darauf warteten, im Galopp ihrer lebhaften Maulthiere nach der Straße vor der Stadt davon zu jagen. Es war das die Gewohnheit dieser leicht gebauten und beweglichen Gefährte, die über Stufen hinweg, auf abfallendem wie auf ansteigendem Wege eine andre Gangart als Galopp gar nicht zu kennen scheinen.

Der Führer winkte einen der Wagen heran, dessen Bespannung Clovis Dardentor „und der verstand sich darauf „für passend erklärte. Er war ja früher oft durch die Straßen von Perpignan gefahren und es wäre für ihn nicht das erste Mal gewesen, wenn er selbst hätte den Kutscher spielen müssen.

Jetzt bot sich aber keine Gelegenheit, seine Talente als Sportsman leuchten zu lassen, denn der wirkliche Kutscher der Galera behielt die Zügel selbst in der Hand.

Unter solchen Umständen erschien es also so gut wie gewiß, daß die Fahrt ohne Unfall verlaufen würde, und Jean Taconnat sah seine Hoffnungen auf eine „traumatische Adoption“, wie Marcel Lornans sagte, wieder einmal verblassen.

„Nun, meine Herren,“ fragte der Führer, „genügt Ihnen diese Galera?“

„Vollständig,“ versicherte Marcel Lornans, „und wenn Sie Platz nehmen wollen, Herr Dardentor...“

„Sofort, meine jungen Freunde. Nach Ihnen, Herr Marcel.“

„Nein, nach Ihnen, Herr Dardentor.“

„Ich thu' es aber nicht anders!“

Um den Austausch höflicher Redensarten nicht noch auszudehnen, stieg Marcel Lornans zuerst ein.

„Nun, und Sie, Herr Taconnat,“ fuhr Clovis Dardentor fort, „was fehlt Ihnen denn?... Sie machen ein so nachdenkliches Gesicht!... Wo ist Ihr gewohnter Humor denn hingekommen?...“

„Ich... Herr Dardentor?... Mir fehlt nichts... ich versichre Ihnen... gar nichts.“

„Sie befürchten doch nicht, daß uns mit diesem Gefährt ein Unfall zustoßen könnte?“

„Ein Unfall, Herr Dardentor?“ erwiderte Jean Taconnat, die Achseln zuckend. „Warum sollte uns denn ein Unfall zustoßen? Ich glaube an keine Unfälle!“

„Ich auch nicht, junger Mann, und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß unsre Galera nicht kentern wird...“

„Und wenn sie dennoch kentern sollte, so müßte sie dabei in einen Fluß, einen See, einen Teich, wenigstens in einen Wassertrog fallen... sonst gält' es ja nicht!

„Was... es würde nicht gelten?... O, sie ist stark, unsre Galera!...“ rief Herr Dardentor, die Augen weit aufreißend.

„Ich wollte damit sagen,“ fuhr Jean Taconnat fort, „daß der Text des Civilgesetzbuchs es ausdrücklich verlangt.. Nur wenn... Nun, ich weiß ja schon...“

Marcel Lornans mußte über die verlegnen Winkelzüge seines um eine Adoptivvaterschaft werbenden Vetters laut auflachen.

„Das sollte nicht gelten!... Das sollte sonst nicht gelten! wiederholte der Perpignaneser. Wahrlich, das ist eine der besten Einreden, die ich je gehört habe!... Doch trotz alledem... vorwärts!“

Jean Taconnat stieg nun ein und setzte sich neben seinen Vetter auf die zweite Bank. Clovis Dardentor nahm auf der ersten, neben dem Kutscher Platz und der Führer stellte sich auf den Tritt hinter dem Wagen.

Schnell ging es nun durch das Jesusthor und gleich vor diesem erblickten die Touristen schon das massige Schloß Bellver, das aus üppigem Grün hervorragte.

Als die Galera durch die Stadtmauer rollte, gelangte sie nicht sofort ins offne Land. Erst führte der Weg noch durch Terreno, eine Art Vorort der balearischen Hauptstadt hin. Dieser Vorort wird mit Recht als ein Heilbadeort in nächster Nähe von Palma betrachtet. Seine eleganten Landhäuser und hübschen Atquerias liegen geschützt unter dem erquickenden Schatten von Bäumen, besonders von alten Feigenbäumen, die eine seltsame knorrige Gestalt haben.

Die nicht geringe Anzahl weißer Häuser thront übrigens auf einer Anhöhe, deren felsiger Fuß vom Schaume der Brandung benetzt wird. Nachdem sie das reizende Terreno hinter sich gelassen hatten, konnten Clovis Dardentor und die beiden Pariser, wenn sie sich umdrehten, mit einem Blicke die ganze Stadt Palma, ihre azurblaue Bucht bis zur Grenze des hohen Meeres und die gewundnen Linien ihres Ufers umfassen.

Die Galera rollte jetzt einen aufsteigenden Weg hinan, der sich unter einer Waldung von Aleppopinien verlor, die das Dorf umkränzt und den von den Mauern des Castillo de Bellver gekrönten Hügel bekleidet.

Welch' herrliche Durchblicke über die Landschaft boten sich aber erst von etwas erhöhtem Standpunkte aus, wie reizend hoben sich die zerstreuten Häuser ab von der Farbe der Palmen, Orangen-, Granat- und Feigenbäume, von dem dunkeln Kaperngesträuch und dem Laube der Olivenbäume! Clovis Dardentor, dem das Herz immer auf der Zunge lag, verlieh auch seiner Bewundrung den beredtesten Ausdruck, obwohl ihm ähnliche Landschaftsbilder aus dem südlichen Frankreich bekannt sein mußten. Freilich mochte er so verwachsne, knorrige, höckrige und bucklige Olivenbäume und diese obendrein von so riesiger Größe wohl noch niemals gesehen haben. Wie ergötzte sich das Auge auch an den Hütten der Landleute, die, von Gemüsegärten umgeben, sich aus Myrten- und Cytisengebüsch nebst Tausenden von Blumen erhoben, darunter jene „Lagrymos“ mit dem poetischen und traurigen Namen, und deren Wetterdächer von Laub umrankt und mit Hunderten von Büscheln rothen spanischen Pfeffers geschmückt waren!

Bisher war die Fahrt ganz nach Wunsch verlaufen und die Insassen der Galera hatten keine Ursache zu dem Rufe:

„Was zum Teufel haben wir in dieser Galera zu thun!“

Nein, die Galera wurde ja von keiner Doppelreihe von Rudern auf dem unzuverlässigen Elemente fortbewegt. Hier auf dem Lande bedrohte sie kein Ueberfall durch Seeräuber aus den Barbareskenstaaten. Sie hatte die Straße, die sich weniger launisch als das Meer erwies, glücklich überschifft, und es war fünf Uhr, als sie im Hafen, oder richtiger vor dem Thore des Castillo de Bellver, eintraf.

Das feste Schloß wurde einst in dieser beherrschenden Lage erbaut. weil es bestimmt war, die Stadt Palma und ihre Bai zu vertheidigen. Mit seinen tiefen Wallgräben, dicken Steinmauern und dem aufragenden Thurme bietet es auch ganz den, für mittelalterliche Festungen gewohnten Anblick. Vier kleinere Thürme schützen seine kreisförmige Außenmauer, innerhalb derer ein zweistöckiges Bauwerk in römischem und gothischem Stile errichtet ist. Davor erhebt sich der „Torre del Homenaje“ (eigentlich der Huldigungs- oder Lehensthurm), dessen feudale Natur niemand verkennen kann.

Diesen Thurm wollten Clovis Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat bis zu seiner Plattform ersteigen, um einen Gesammtüberblick auf Stadt und Land zu gewinnen, da er sich dazu besser eignete, als eine der Thurmspitzen der Kathedrale.

Die Galera blieb vor der steinernen Grabenbrücke stehen und dem Kutscher wurde bedeutet, hier zu warten, während die Fahrgäste das Castillo mit dem Führer besuchten.

Das konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, denn es handelte sich ja nicht darum, alle Ecken und Winkel des alterthümlichen Bauwerks zu durchstöbern, sondern nur die Aussicht bis zum fernen Horizont zu genießen.

Nach flüchtiger Besichtigung einiger Zimmer im Erdgeschoß, fragte Clovis Dardentor:

„Nun, meine jungen Herren, wollen wir hinaufklettern?“

„Ganz wie Sie wünschen,“ antwortete Marcel Lornans, „nur kein zu langer Aufenthalt. Es wäre doch arg, wenn Herr Clovis Dardentor, nachdem er schon einmal die Abfahrt des „Argeles“ verfehlt hatte...“

„Jetzt zum zweiten Male zu spät käme!“ fiel der Perpignaneser lachend ein. „Nein, das wäre um so unverzeihlicher, da ich in Palma keine Schaluppe fände, um dem Dampfer nachzueilen. O, was sollte dann aus dem armen Désirandelle werden?“

Die Gesellschaft begab sich also nach dem Huldigungsthurme, der durch zwei Zugbrücken mit dem Castillo in Verbindung stand.

Dieser runde und sehr massive, aus Backsteinen von warmer Färbung erbaute Thurm steht mit dem Fuße im Wallgraben. Seine südwestliche Seite ist in der Höhe der Grabenkante von einem röthlichen Thore durchbrochen. Darüber befindet sich ein Rundbogenfenster und über diesem wieder ein Paar drohende Schießscharten. Nachher folgen nach oben hin die Mauervorsprünge, die die Brustwehr der Plattform tragen.

Dem Führer nachgehend, erstiegen Clovis Dardentor und seine Begleiter eine in der Mauer ausgesparrte und durch die erwähnten Schießscharten spärlich erleuchtete Wendeltreppe. Diese führte ziemlich steil hinauf und reichte bis zur Plattform selbst.

Der Führer hatte in der That nicht übertrieben. Von dieser Höhe aus bot sich eine überraschend prächtige Aussicht.

Vom Fuße des Castillo an fällt der, mit schwarzem Mantel von Aleppopinien bedeckte Hügel ab. Weiterhin taucht das Bild der reizenden Vorstadt Terreno auf. Tief unten glitzert die bläuliche Bai, da und dort von weißen Punkten unterbrochen, die man für Seevögel halten möchte, die aber nur die Segel flinker Tartanen sind. Noch weiter hin und zur Seite zeigt sich die amphitheatralisch gelegne Stadt mit ihrer Kathedrale und den übrigen Kirchen; ein glänzendes Gesammtbild, gebadet in der leuchtenden Atmosphäre, die die goldnen Strahlen der Sonne, wenn sie nach dem Horizont hinabsinkt, blendend durchflimmern. Ganz draußen lag endlich das unbegrenzte Meer, da und dort belebt von Fahrzeugen mit weißem Segelwerk oder von Dampfern, die ihre langen dunkeln Rauchsäulen am Himmel hin zogen. Von Minorca im Osten und von Ivitza im Südwesten war nichts zu sehen; im Süden dagegen erblickte man noch die steile Insel Cabrera, wo so viele Franzosen in den Kriegen des ersten Kaiserreichs gar elend umkamen.

Vom Thurme des Castillo de Bellver aus gesehen, gewinnt man durch einen Blick nach Norden eine Vorstellung davon, was Majorca ist, die einzige Insel des Archipels nämlich, die wirkliche Sierras (Höhenzüge) mit immergrünen Eichen und Nesselbäumen besitzt, zwischen denen Porphyr-, Grünschiefer- und Kalksteinnadeln emporragen. Auch die vorgelagerte Ebne zeigt viele Einzelhöhen, auf den Balearen „Puys“ genannt, von denen fast jede mit einem Schloß, einer Kirche oder einer Eremitage besetzt ist. Hierzu kommen noch rauschende Bergbäche in vielfachen Windungen, wovon es nach Aussage des Führers auf der Insel über zweihundert geben soll.

„Für Herrn Dardentor zweihundert Gelegenheiten, hineinzufallen,“ dachte Jean Taconnat, „wir werden aber sehen, daß er dieses Kunststück auch nicht ein einziges Mal fertig bringt!“

An die neueste Zeit erinnerte in dem Landschaftsbilde nur die Eisenbahn, die durch den innern Theil von Majorca führt. Sie verläuft von Palma nach Alcudia durch die Bezirke von Santa-Maria und Benisalem, und man spricht davon, ihr Zweigstrecken durch die malerischen Thäler der Bergkette anzugliedern, die ihre höchsten Spitzen bis zu tausend Metern über dem Meere emporsendet.

Nach seiner Gewohnheit gerieth Clovis Dardentor bei Betrachtung des herrlichen Bildes geradezu in Begeisterung. Marcel Lornans und Jean Taconnat theilten übrigens diese ganz gerechtfertigte Bewunderung. Es war wirklich schade, daß der Aufenthalt im Schlosse Bellver nicht verlängert werden konnte und eine spätere Rückkehr hierher ausgeschlossen war, da der „Argeles“ schon in wenigen Stunden weiterfahren sollte.

„Ja, wahrhaftig,“ erklärte der Perpignaneser, „hier verlohnt sich ein Aufenthalt von Wochen... Monaten...“

„O, meldete sich der Führer,“ dem es an Anekdoten nicht zu fehlen schien, „das ist einem Ihrer Landsleute, meine Herren, freilich etwas gegen seinen Willen, widerfahren...“

„So?... Und wie hieß er?“

„François Arago. »

„Arago!... Arago!“ rief Clovis Dardentor, „eine der Leuchten des gelehrten Frankreich!“

Thatsächlich war der berühmte Astronom im Jahre 1808 nach den Balearen gekommen, um die Messung eines Meridianbogens zwischen Dünkirchen und Formentera zu vollenden. Von der majorcanischen Bevölkerung verdächtigt und sogar mit dem Tode bedroht, wurde er im Schlosse Bellver zwei Monate lang gefangen gehalten und diese Gefangenschaft hätte gewiß noch weit länger gedauert. wenn es ihm nicht gelungen wäre, durch ein Fenster des Castillo zu flüchten und eine Barke zu miethen, die ihn nach Algier überführte.

„Arago,“ wiederholte Clovis Dardentor, „der weltberühmte Sohn von Estagel, das ruhmreiche Kind des Arrondissements meines Perpignan, meiner Ostpyrenäen!“

Inzwischen drängte die Zeit zum Verlassen der Plattform, von der aus man, wie vom Nachen eines Luftschiffs, das unvergleichlich schöne Land überblickte. Clovis Dardentor konnte sich von dem Bilde vor ihm kaum abwenden... noch immer lief er hin und her und beugte sich überall über die Brustwehr hinaus.

„Nehmen Sie sich in Acht,“ rief ihm Jean Taconnat zu und hielt ihn dabei am Kragen des Jackets zurück.

„In Acht nehmen?...“

„Gewiß... etwas mehr... Sie wären bald hinuntergestürzt!... Warum wollen Sie uns einen solchen Schreck einjagen...“

Ein sehr legitimer Schreck, denn wenn der ehrenwerthe Mann über die Brustwehr gepurzelt wäre, hätte Jean Taconnat dem Fall des Adoptivvaters in den Wallgraben hinunter nur beiwohnen, jenem aber doch keine Hilfe bringen können.

Höchst bedauernswerth blieb es immer, daß die so spärlich zugemessne Zeit einen eingehenden Besuch des herrlichen Majorca unmöglich machte. Es genügt hier ja nicht, die verschiednen Quartiere seiner Hauptstadt durchwandert zu haben, man muß auch dessen andre Städte besuchen, und würdigere, um Touristen anzulocken, als Soller, Ynca, Pollensa, Manacor und Valldmosa dürfte es nirgends wieder geben. Und dann die natürlichen Höhlen von Arta und von Drach, die für die schönsten der Erde gehalten werden, mit ihren sagenreichen Seen, ihren Stalaktitenkapellen, ihren Bädern mit klarem, frischem Wasser, mit ihrem Theater, ihrer Hölle u. s. w.... freilich lauter Phantasiebezeichnungen, die aber für die Wunder dieser großen unterirdischen Welt ganz passend erscheinen.

Und was soll man von Miramar sagen, von dem unvergleichlichen Besitzthum des Erzherzogs Ludwig Salvator, von den tausendjährigen Wäldern, deren alten Bestand der gelehrte und kunstliebende Fürst sorgsam erhalten läßt; von seinem Schlosse auf einer überhöhten Terrasse in reizender Lage an der Küste und von der „Hospederia“, dem auf Kosten Sr. kaiserl. Hoheit verwalteten Gasthause, das Allen, die dort vorsprechen, zwei Tage lang Unterkunft und Verpflegung unentgeltlich gewährt und wo selbst die, die es wünschten, es vergeblich versuchen, sich durch ein Geschenk an die Leute des Erzherzogs für die gastliche Aufnahme dankbar zu erweisen.

Einen Besuch verdient ferner die jetzt öde, stille verlassne Chartreuse de Valldmosa, wo Georges Sand und Chopin eine Saison verlebten, ein Aufenthalt, dem die Welt zwei weitbekannte Werke, „Ein Winter auf Majorca“ und den merkwürdigen Roman „Spiridion“ zu verdanken hat.

Das erzählte der Führer in seiner unversieglichen Redseligkeit und in den stereotypen Sätzen, die seinem Ciceronegehirn einmal fest eingeprägt waren. Kein Wunder also, daß Clovis Dardentor seinem Bedauern, diese Oase des Mittelmeeres verlassen zu müssen, den lebhaftesten Ausdruck gab, daß er sich vornahm, mit den beiden jungen Leuten und neugewonnenen Freunden hierher zurückzukehren, wenn sie jemals dazu Zeit hätten...

„Es ist bereits sechs Uhr,“ bemerkte Jean Taconnat.

„Ja, es ist schon sechs Uhr, setzte Marcel Lornans hinzu, wir können die Rückkehr nicht länger aufschieben, da noch ein Theil von Palma übrig ist, den wir besuchen wollten....“

„So brechen wir also auf!“ antwortete Clovis Dardentor fast seufzend.

Die kleine Gesellschaft gönnte sich noch einen letzten Blick auf das wechselreiche Landschaftsbild im Westen, auf die Sonne, deren herabsinkende Scheibe über dem Horizonte schwebte und mit ihren schrägen Strahlen die weißen Villen von Terreno vergoldete.

Dann lenkten Alle nach dem engen Schraubengange ein, der sich innerhalb der Mauer hinabwand, überschritten die Brücke und den Hof und traten zum Thore hinaus.

Die Galera wartete an der Stelle, wo sie zurückgelassen worden war; der Kutscher schlenderte am Wallgraben hin.

Als der Führer ihn heranrief, wendete er sich mit jenem ruhigen, geometrisch gemessnen Schritte zurück, der den privilegierten Sterblichen eigen ist, die in keinem Falle Eile haben, vorzüglich nicht hier in dem glückseligen Lande, wo das Leben so gemächlich hinfließt.

Herr Dardentor stieg schon auf den Wagen, ehe der Kutscher auf der Vorderbank seinen Platz eingenommen hatte.

In dem Augenblicke aber, wo Marcel Lornans und Jean Taconnat den Fuß auf den Auftritt setzen wollten, jagte die Galera so schnell davon, daß sie zurückspringen mußten, um nicht bei Seite geschleudert zu werden.

Der Kutscher stürzte sich nun zwar auf sein Gespann, um die Thiere zurückzuhalten, doch vergebens. Die Maulthiere bäumen sich, werfen den Mann um, und es ist ein Wunder, daß er von den Rädern des Wagens, der hüpfend davonrollt, nicht überfahren wurde.

Der Kutscher und der Führer schreien gleichzeitig laut auf. Beide stürzen sich auf die Straße von Bellver, die die Galera in sausendem Galopp hinunterfliegt, jeden Augenblick in Gefahr, entweder die seitlichen Abhänge hinabzustürzen oder an den Tannen des düstern Hochwalds zu zerschellen.

„Herr Dardentor!... Herr Dardentor!“ rief Marcel Lornans mit aller Kraft seiner Lungen. „Er wird sich umbringen!... Schnell, Jean, ihm nach!“

„Ja wohl,“ antwortete Jean Taconnat, „und doch... wenn dieser Zufall gelten sollte...“

Wie es damit auch stand, jedenfalls galt es, die Gelegenheit am Schopfe zu erfassen, d. h. hier, die Maulthiere am Kopfe zu packen. Diese rasten aber so schnell davon, daß man kaum hoffen konnte, sie einzuholen.

Der Kutscher, der Cicerone und die beiden jungen Leute nebst einigen Bauern, die dazugekommen waren, nahmen nun, wie man sagt, die Beine unter den Arm.

Inzwischen hatte Clovis Dardentor, der seine Kaltblütigkeit unter keinen Umständen verlor, die Zügel mit kräftiger Hand ergriffen und versuchte die Maulthiere, die er zurückzerrte, zum Stehen zu bringen. Das war aber dasselbe, als wenn er sich bemüht hätte, ein Geschoß in dem Momente aufzuhalten, wo es aus dem Feuerschlunde flog, und für Vorüberkommende, die es versuchten, dasselbe, als wenn sie es im Fluge hätten abfangen wollen.

Die Straße hinunter ging es in tollster Fahrt, in wüthenden Sätzen über den Bergbach hin. Clovis Dardentor, der den Kopf oben behielt und der seine Galera wenigstens mitten auf der Straße zu halten vermochte, sagte sich, daß diese Höllenfahrt jedenfalls erst vor der Stadtmauer ein Ende nehmen und die erregten Thiere nicht durch das Thor derselben jagen würden.

Wenn er die Zügel wegwarf und aus dem Gefährte zu springen versuchte, wußte er recht gut, welcher Gefahr er sich aussetzte und daß es gerathen wäre, in seiner Lage auszuharren, ob der Wagen nun um und um stürzte, so daß die Räder nach oben standen, oder ob er an irgend einem Hinderniß zertrümmert wurde.

Die verteufelten Maulthiere jagten aber mit einer Geschwindigkeit weiter, die auf Majorca und auf den andern Inseln des Archipels noch kein Menschenkind beobachtet hatte.

Hinter Terreno folgte die Galera der Außenmauer, oft im schrecklichen Zickzack hin- und hergeschleudert, hüpfend wie eine Ziege, springend wie ein Känguruh, an den ersten Thoren der Mauer vorüber, bis sie nach der Puerta Pintada an der Nordostecke der Stadt gelangte.

Die beiden Maulthiere mußten dieses Thor besonders gut kennen, denn sie stürmten ohne jedes Zaudern darunter weg. Jetzt gehorchten sie offenbar weder der Stimme noch den Händen Clovis Dardentor's. Sie allein gaben der Galera die Richtung, kamen in gestrecktem Laufe immer mehr ins Feuer, ohne auf Passanten zu achten, die entsetzt aufschrien, sich unter den Hausthüren verkrochen oder in die Seitengassen flüchteten. Die boshaften Thiere sahen aus, als sagten sie sich ins Ohr: Wir laufen, soweit es uns beliebt, und wenn sie nicht kentert, dran und drauf mit der Galera!

Und mitten durch die Irrgänge, die sich in diesem Winkel der Stadt ,ein richtiges Labyrinth, durchkreuzten, flog das wilde Gespann mit verdoppelter Wuth.

Aus dem Innern der Häuser, aus den Läden heraus riefen die Leute aus vollem Halse um Hilfe. An den Fenstern erschienen entsetzte Gesichter. Das ganze Stadtviertel war in höchster Aufregung, wie einige Jahrhunderte früher, als der Schreckensruf „Die Mauren kommen!... Die Mauren kommen!“ von Mund zu Mund flog. In den engen, gewundenen Straßen, die zum Theil nach der Calle des Capuchinos ausmünden, konnte die Sache nicht ohne furchtbares Unglück ausgehen.

Clovis Dardentor bemühte sich inzwischen unablässig, die tollen Maulthiere zu zügeln. Um den unsinnigen Galopp zu mäßigen, zerrte er an den Zügeln auf die Gefahr hin, sie zu zerreißen oder sich die Arme auszurenken. In der That war es aber mehr das Gespann, das an ihm zog und ihn unter unglücklichen Umständen aus dem Wagen zu schleudern drohte.

„O, diese Spitzbuben, dieses Höllengespann!“ sagte er sich. „Ich sehe keinen Grund dafür, daß sie anhalten sollten, so lange sie noch vier Beine am Leibe haben!... Und das geht immer bergab... immer steil hinunter!“

Thatsächlich führte der Weg immer abwärts, vom Castillo de Bellver an bis zum Hafen hinunter, und die Galera machte zuletzt vielleicht einen Kopfsprung ins Wasser der Bai, was wenigstens die Maulthiere abzukühlen versprach.

Kurz, sie flogen nach links, sie sausten nach rechts, sie rasten nach der Plaza de Olivar und um diesen Platz herum, wie dereinst die römischen Rennwagen auf der Fahrbahn des Colosseums, und doch war hier kein Wettbewerb zu schlagen, kein Preis einzuheimsen!

Vergebens versuchten auf diesem Platze drei Polizisten, sich auf die Maulthiere zu werfen, die dadurch nur noch rasender ausgriffen. Vergebens suchten sie einer unvermeidlichen Katastrophe zu steuern... ihre Aufopferung war fruchtlos. Der eine wurde umgestoßen und stand verletzt nur mühsam wieder auf, der andre mußte die Zügel fahren lassen. Kurz, die Galera stürmte nur mit immer zunehmender Schnelligkeit weiter, als wäre sie den Gesetzen des freien Falles unterthan.

Man hätte wenigstens glauben können, daß diese sinnlose Jagd ein freilich unglückseliges Ende nehmen müßte, als das Gespann der Calle de Olivar zusauste.

Diese sehr abhängige Straße wird nämlich von einer Treppe mit fünfzehn Stufen unterbrochen, und wenn die Straße überhaupt kaum befahrbar ist, so ist sie es an dieser Stelle erst recht nicht.

Die Rufe verdoppelten sich, von allen Seiten bellten die Hunde. Die Maulthiere kümmerten sich darum ebenso wenig, wie um die paar Treppenstufen. Jetzt polterten die Räder schon auf der Treppe und stießen den Wagenkasten auf und ab, als müsse er nun aus den Fugen gehen und das ganze Gefährt in Stücke zerfallen...

Doch nein, nichts von alledem! Das Vordergestell blieb trotz der heftigsten Stöße mit dem Hintergestell verbunden, der Wagenkasten hielt zusammen, die Gabeldeichseln widerstanden und auch die beiden Hände Clovis Dardentor's ließen bei dem entsetzlichen Hinunterpurzeln die Zügel nicht los.

Hinter der Galera her lief eine immer anwachsende Menschenmenge, unter der Marcel Lornans, Jean Taconnat, der Cicerone und der Kutscher sich noch nicht befanden.

Nach der Calle de Olivar ging die Jagd weiter durch die Calle de San Miguel hierauf über die Plaza de Abastos, wo eines der Maulthiere zweimal stürzte, doch unverletzt sofort wieder aufsprang, nachher durch die Calle de la Plateria und endlich über die Plaza de Santa Eulalia.

„Offenbar,“ dachte Clovis Dardentor, „wird die Galera soweit gehen, bis es ihr an Erdboden unter den Rädern fehlt, und das kann am letzten Ende doch nur in der Bai von Palma sein!“

Auf dem Platze der heiligen Eulalia erhebt sich die dieser Märtyrerin geweihte Kirche, die bei den Baleariern die höchste Verehrung genießt. Vor langer, langer Zeit diente genannte Kirche als Freistatt, und Verbrecher, denen es gelang, dahin zu flüchten, waren damit den Händen der Polizei entzogen.

Diesmal war es freilich kein Verbrecher, den ein glücklicher Stern dahinführte, sondern unser Clovis Dardentor, der noch unerschüttert auf der Vorderbank des Wagens saß.

Eben stand das prächtige Portal der Eulalienkirche weit offen. Im Innern betete eine gläubige Gemeinde. Der Gottesdienst nahte sich dem Ende und der der frommen Versammlung zugewendete Priester erhob grade die Arme, um jener den Segen zu ertheilen.

Doch welch' ein Lärm, welche Aufregung der Versammlung, welche Schreckensrufe, als die Galera plötzlich schaukelnd und hüpfend über die Steinplatten des Ganges im Mittelschiffe hereinpolterte. Doch welch' wunderbarer Effect auch, als das Gespann endlich vor den Stufen des Altarplatzes im letzten Augenblicke Halt machte.

„Et spiritu sancto!“ erklang es vom Munde des Geistlichen.

„Amen!“ antwortete eine helltönende Stimme.

Es war die des Perpignanesers, der eben einen gewiß verdienten Segen empfangen hatte.

Nach dieser unerwarteten Lösung des Knotens wird es niemand verwundern, daß die Leute dieses tiefreligiösen Landes dabei an ein Wunder glaubten, und es wäre gar nichts Erstaunliches, wenn man zukünftig in der Kirche der heiligen Eulalia an jedem 28. April das Fest der „Santa Galera de Salud“ feierte.

Eine Stunde später hatten Marcel Lornans und Jean Taconnat ihren Clovis Dardentor neben einer Fonda der Calle de Miramar wieder entdeckt, wo der außerordentliche Mann sich von seiner Aufregung und Anstrengung erholte. Von Aufregung darf man übrigens kaum sprechen, wenn es sich um einen solch' stahlharten Charakter handelt.

„Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat.

„Ah, meine jungen Freunde,“ antwortete der Held des Tages, „das war eine Fahrt, die mich bald ein bischen durchgerüttelt hätte.

„Sie sind ohne Schaden davongekommen?“ fragte Marcel Lornans.

„Ja... vollständig, ich glaube sogar, daß ich mich niemals wohler befunden habe!... Auf Ihre Gesundheit, meine Herren!“

Die beiden jungen Leute mußten ein paar Gläser des vortrefflichen Benisalemweines leeren, dessen Ruf weit über die Balearen hinausreicht.

Als Jean Taconnat seinen Vetter dann einmal bei Seite nehmen konnte, raunte er ihm zu:

„Eine verfehlte Gelegenheit!“

„Doch nein, Jean!“

„Doch ja, Marcel, denn selbst angenommen, ich hätte Herrn Dardentor durch das Aufhalten der Galera gerettet, so wirst Du doch, da ich ihn nicht dem Wasser, nicht den Flammen entrissen und auch aus keinem Kampfe herausgehauen habe, mir nicht wollen glauben machen, daß...“

„Ein hübsches Thema, vor einem Civilgerichtshof zu verfechten!“ begnügte sich Marcel Lornans zu antworten.

Um acht Uhr abends waren alle, die den „Argeles“ verlassen hatten, wieder an Bord zurück.

Keiner hatte sich diesmal verspätet, weder die Herren Désirandelle Vater und Sohn, noch Herr Eustache Oriental.

Ob der Astronom seine Zeit wohl damit verbracht hatte, die Sonne über dem Horizonte der Balearen zu beobachten? Niemand hätte das sagen können. Jedenfalls brachte er aber mehrere Packete mit solchen Eßwaaren mit, die diesen Inseln eigenthümlich sind, z. B. „Encimados“, eine Art Kuchen aus Blätterteig, der statt mit Butter, mit Fett gebacken wird, doch deshalb nicht weniger schmackhaft ist, und auch ein halbes Dutzend „Lippfische“, denen die Fischer vom Cap Formentor mit Vorliebe nachstellen und die der Koch des Dampfers für ihn besonders sorgsam zubereiten mußte.

Der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar war offenbar mehr mit dem Munde als mit den Augen thätig... mindestens seit seiner Abfahrt von Frankreich.

Gegen achteinhalb Uhr wurden die Haltetaue losgeworfen und der „Argeles“ verließ den Hafen von Palma, ohne daß der Kapitän Bugarach seinen Passagieren gestattet hatte, sich den ganzen Abend in der majorcanischen Hauptstadt aufzuhalten. Deshalb war es Clovis Dardentor nicht vergönnt, die Stimmen der hiesigen „Serenos“ und ihre Abendgesänge zu vernehmen, so wenig wie die Refrains der „Habaneras“ und der nationalen „Jotas“, die mit den melodiösen Tönen von Guitarren begleitet werden und von denen die Patios (Höfe) der balearischen Häuser bis zum frühen Morgen widerklingen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
007a Niemals mochte er so höckrige Olivenbäume gesehen haben.

007a Niemals mochte er so höckrige Olivenbäume gesehen haben.

007b Die Maulthiere bäumen sich auf.

007b Die Maulthiere bäumen sich auf.

007c Jetzt polterten die Räder schon auf der Treppe.

007c Jetzt polterten die Räder schon auf der Treppe.

007d „Amen!“ antwortete eine helltönende Stimme.

007d „Amen!“ antwortete eine helltönende Stimme.

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