Kapitel (In dem die Hauptperson dieser Geschichte dem Leser nicht vorgestellt wird)

Als beide den Bahnhof von Cette – nach Ankunft mit einem Zug Paris–Mittelmeer – verließen, wandte sich Marcel Lornans an Jean Taconnat mit den Worten:

„Was beginnen wir nun hier bis zur Abfahrt des Dampfers?“


„Nichts“, antwortete Jean Taconnat.

„Wenn man sich aber auf den ‚Reiseführer‘ verlassen kann, ist Cette eine merkwürdige Stadt, zwar nicht von hohem Alter, denn sie wurde erst nach Erbauung ihres Hafens, des Auslaufs vom Kanal von Languedoc, den man Ludwig XIV. verdankt, gegründet ...“

„Und das war vielleicht das Allerklügste, was Ludwig XIV. während seiner ganzen Regierungszeit getan hat!“ fiel Jean Taconnat ein. „Der große König hat jedenfalls geahnt, daß wir uns hier am 27. April 1885 einschiffen würden.“

„Sei doch einmal ernsthaft, Jean, und vergiß nicht, daß Südfrankreich uns hören kann! Mir erscheint es am geratensten, Cette zu besuchen, da wir einmal in Cette sind, seine Kanäle, seine Bucht mit den 12 Kilometer messenden Hafendämmen, seine vom klaren Wasser eines Aquädukts berieselte Promenade zu besichtigen ...“

„Bist du nun fertig, Marcel, mir nach Joanne zu rezitieren?“

„Eine Stadt“, fuhr Marcel Lornans unbeirrt fort, „aus der ein Venedig hätte werden können ...“

„Und die sich damit begnügte, ein kleines Marseille zu bleiben!“ bemerkte Jean Taconnat.

„Wie du sagst, mein lieber Jean, die Nebenbuhlerin der stolzen provenzalischen Stadt und nach dieser der erste Freihafen am Mittelmeer, der Wein, Salz, Branntwein, Öle, chemische Erzeugnisse ausführt ...“

„Und der“, versetzte Jean Taconnat, den Kopf abwendend, „Schwätzer von deinem Schlag dafür einführt.“

„Doch auch Häute, La–Plata–Wolle, Mehl, Südfrüchte, Stockfische, Böttcherholz, Metalle ...“

„Genug ... genug!“ rief der junge Mann, den es drängte, sich dem Schwall von Belehrungen, der über seines Freundes Lippen strömte, zu entziehen.

„273.000 Tonnen im Eingang und 235.000 im Ausgang“, fuhr der herzlose Marcel Lornans fort, „ganz zu schweigen von den Anstalten zum Einmachen von Anchovis und Sardinen, von den Salzwerken, die jährlich 12– bis 14.000 Tonnen liefern, von der so bedeutenden Küferei mit 2000 Arbeitern, die 200.000 Fässer herstellen ...“

„Worin ich dich 200.000 Mal eingeschlossen wünschte, mein redseliger Freund! Doch die Hand aufs Herz, Marcel, was kann die hochentwickelte Gewerbs- und Handelstätigkeit zwei tüchtige junge Leute interessieren, die sich mit der Absicht, beim 7. Regiment der Afrikanischen Jäger einzutreten, nach Oran begeben wollen?“

„Auf der Reise ist alles interessant, selbst das Uninteressante“, versicherte Marcel Lornans.

„Gibt's denn in Cette genug Baumwolle, um sich damit die Ohren zustopfen zu können?“

„Unterwegs werden wir danach fragen.“

„Die ‚Argèlès‘ fährt in 2 Stunden ab, und meiner Ansicht nach ist es das beste, sofort an Bord des Dampfers zu gehen!“ bemerkte Jean Taconnat.

Vielleicht hatte er damit nicht unrecht. Was wäre – und vor allem mit welchem Nutzen – in 2 Stunden von der sich täglich vergrößernden Stadt zu sehen gewesen? Die jungen Leute hätten sich nach dem Strandsee Thau neben die Mündung des Kanals begeben müssen, von der aus jener anfängt, oder sie mußten den zwischen Strandsee und Meer vereinzelt aufragenden Kalksteinberg besteigen, den „Pfeiler von Saint–Clair“, dessen Seiten sich die Stadt amphitheatralisch anschmiegt und der in nächster Zukunft mit Fichtenanpflanzungen geschmückt sein wird. Gewiß lohnen sich für den Touristen einige Tage Aufenthalt an dem Hauptseehandelsplatz des südwestlichen Frankreich, der mit dem Meer durch den Canal du Midi, mit dem Landesinnern durch den Kanal von Beaucaire in Verbindung steht und den zwei Bahnlinien, die eine über Bordeaux, die andere mitten durchs Land, mit dem Herzen Frankreichs verknüpfen.

Marcel Lornans bestand jedoch nicht länger auf seinen Vorschlägen und folgte gelehrig Jean Taconnat, der dem Dienstmann mit dem Gepäckkarren vorausschritt.

Das alte Bassin wurde nach kurzem Weg erreicht.

Die Reisenden vom Zug, die dasselbe Ziel wie die beiden jungen Leute hatten, waren hier schon versammelt. Eine Menge Neugieriger, wie sie ein in der Abfahrt begriffenes Schiff immer heranlockt, stand auf dem Kai, und es wäre wohl nicht übertrieben gewesen, deren Anzahl – bei einer Bevölkerung von 36.000 Seelen – auf 100 abzuschätzen.

Cette hat regelmäßigen Dampferverkehr nach Algier, Oran, Marseille, Nizza, Genua und Barcelona. Reisende scheinen da am besten zu tun, wenn sie zur Überfahrt eine Linie wählen, die im westlichen Mittelmeer durch die Küste Spaniens und die Gruppe der Balearischen Inseln mehr geschützt ist. Heute wollten sich etwa 50 auf der ‚Argèlès‘, einem Dampfer von mäßiger Größe – höchstens von 8– bis 900 Tonnen –, einschiffen, der unter Führung von Kapitän Bugarach alle wünschenswerte Sicherheit bot.

Die ‚Argèlès‘ lag, schon mit angezündeten Feuern und schwarze Rauchwirbel aus dem Schornstein blasend, im alten Hafenbassin am Molo von Frontignan im Osten. Nördlich davon erkennt man an seiner dreieckigen Gestalt das neue Bassin, in das der Seekanal mündet. Gegenüber liegt die kreisförmige Batterie, die den Hafen und den Molo von Saint–Louis verteidigt. Zwischen diesem Molo und dem von Frontignan gewährt eine leicht zugängige Durchfahrt Zutritt in das alte Bassin.

Von letzterem Molo aus begaben sich die Passagiere auf die ‚Argèlès‘, während Kapitän Bugarach die Unterbringung des Gepäcks und verschiedener Frachtstücke auf dem Verdeck persönlich überwachte. Der schon fast überfüllte Laderaum bot keinen leeren Platz mehr; überall waren darin Steinkohle, Böttcherholz, Öl, Eingesalzenes und viel von den Verschnittweinen untergebracht, die Cette herstellt und die einen wichtigen Bestandteil seiner Ausfuhr bilden. Ein paar alte Teerjacken – mit verwettertem Gesicht, unter dichten, buschigen Augenbrauen hervorglänzende Augen, mit Ohren mit großem geröteten Ohrläppchen und in den Hüften wiegendem Gang, als unterläge das Schiff einem ewigen Schwanken – plauderten, während sie gemütlich ihr Pfeifchen schmauchten. Was sie sagten, konnte den Passagieren, die eine Überfahrt von 30 bis 36 Stunden schon vorher beunruhigt, nur angenehm zu hören sein.

„Prächtiges Wetter!“ meinte der eine.

„Eine Nordostbrise, die allem Anschein nach anhalten wird“, fügte der andere hinzu.

„Da muß es bei den Balearen hübsch kühl sein“, bemerkte ein dritter, der eben die letzte Asche aus der Tonpfeife klopfte.

„Mit Rückenwind würde die ‚Argèlès‘ leicht ihre 9 Knoten in der Stunde machen können“, mischte sich der Lotse ein, der seinen Posten auf dem Dampfer schon eingenommen hatte. „Unter dem Kommando von Kapitän Bugarach ist überhaupt nichts zu befürchten. Der hat den günstigen Wind unter der Mütze und er braucht sie nur abzunehmen, da bläst er ihm schon von der besten Seite in die Segel!“

Die alten Seebären waren ja recht guter Zuversicht. Doch gibt es nicht das Sprichwort: „Wer lügen will, braucht nur vom Wetter zu sprechen?“

Wenn die beiden jungen Leute jenen Vorhersagen nur eine mittelmäßige Beachtung schenkten und sie sich obendrein in keiner Hinsicht wegen des Zustands des Meeres noch wegen sonstiger Zwischenfälle auf der Überfahrt beunruhigten, zeigten sich die meisten Passagiere darin weniger gleichgültig oder wenigstens philosophisch. Manche durchrieselte die Angst von oben bis unten, ehe sie noch einen Fuß an Bord gesetzt hatten.

Unter den letzteren machte Jean Taconnat seinen Freund Marcel auf eine Familie aufmerksam, die ohne Zweifel ihre erste Vorstellung auf der etwas unsicheren Bühne des Mittelmeertheaters gab ... eine metaphorische Phrase des lustigsten der zwei Freunde.

Diese Familie bestand aus der dreieinigen Gruppe des Vaters, der Mutter und des Sohns. Der Vater war ein Mann von etwa 55 Jahren, mit Beamtengesicht, obwohl er weder dem sitzenden noch dem wandelnden Beamtentum angehörte, mit graumeliertem Kotelettenbart, einer wenig entwickelten Stirn, starkem Leibesumfang und – dank seinen Schuhen mit hohen Absätzen – 5 Fuß 2 Zoll groß – kurz, eines jener dicken Männchen, die man allgemein als „Tabaksbeutel“ bezeichnet. Bekleidet mit einem Sackpaletot aus starkem Diagonalstoff, die Mütze über den ergrauten Schädel bis an die Ohren heruntergezogen, hielt er in der einen Hand einen Regenschirm in glänzendem

Überzug und in der anderen eine Reisedecke mit Tigermuster, die eingerollt und mit einem Doppelriemen umschnürt war.

Die Mutter erfreute sich des Vorzugs, ihren Gatten um mehrere Zentimeter zu überragen. Es war eine trockene, magere, stocksteife Frau mit gelblichem Teint, hochmütigem Ausdruck – jedenfalls infolge ihrer Körperlänge –, mit einer Stirnbinde um das Haar, dessen Schwarz, wenn man sich den 50ern nähert, immer etwas Verdächtiges hat, einem festgeschlossenen Mund und mit Wangen, die stellenweise von leichten Bläschen besetzt waren. Die ganze Person war in einen braunwollenen, mit hellgrauem Pelzwerk besetzten Radmantel gehüllt. Eine Tasche mit Stahlbügel hing an ihrem rechten Arm und am linken ein Muff aus falschem Marder herab.

Der Sohn war so ein Bursche von vielleicht 21 Jahren, mit nichtssagendem Ausdruck und langem Hals, der, zusammen mit anderen Eigenschaften, oft das Kennzeichen angeborener Beschränktheit ist, mit blondem, eben aufkeimendem Schnurrbart, blöden Augen mit Lorgnon für Kurzsichtige, einer schlottrigen Haltung und mit dem Aussehen eines Wiederkäuers, der nicht wußte, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte, obwohl er Tanz- und Anstands-unterricht genossen hatte – mit einem Wort, einer jener Erzschwachköpfe, die zu nichts nütze sind und die, um einen Ausdruck aus der Algebra zu gebrauchen, am treffendsten mit einem Minuszeichen zu versehen wären.

Das war diese kleinbürgerliche Familie. Die Leute lebten von einer 12.000 Francs betragenden Rente, die von zwei Erbschaften herrührte, und hatten niemals etwas getan, sie zu vergrößern oder zu verkleinern. Aus Perpignan gebürtig, bewohnten sie dort ein altes Haus auf der Popinière, die sich am Têtefluß hinzieht. Wenn man sie in den Räumen der Präfektur oder der Steuereinnahme aufrief, wurden sie Herr und Frau Désirandelle und Herr Agathokles Désirandelle genannt. Am Kai und vor der Landungsbrücke, über die man zur ‚Argèlès‘ ging, angelangt, blieben sie stehen. Sollten sie sofort aufs Schiff gehen oder bis zum letzten Augenblick vor der Abfahrt warten? . . . Wirklich, eine ernste Frage.

„Wir sind viel zu zeitig gekommen, Herr Désirandelle“, murrte die Dame, „das ist bei dir aber immer so ...“

„Und du, Frau Désirandelle, hast an all und jedem etwas auszusetzen“, antwortete der Mann in demselben Ton.

Das Pärchen nannte sich nie anders, als „Herr“ und „Frau“ Soundso – öffentlich, wie unter vier Augen, was sie für besonders vornehm hielten.

„Vorwärts, wir wollen an Bord gehen“, schlug Herr Désirandelle vor.

„1 Stunde vorher“, rief Frau Désirandelle, „wo wir nachher noch 30 Stunden lang auf dem Schiff bleiben müssen, das schon jetzt wie eine Korkscheibe schaukelt!“

Obgleich das Meer ruhig war, bewegte sich die ‚Argèlès‘ in der Tat ein wenig, und zwar infolge einer leichten Dünung, die von dem alten Bassin trotz eines 500 Meter langen, einige Kabellängen von der Durchfahrt errichteten Wellenbrechers nicht ganz ferngehalten wird.

„Wenn uns schon im Hafen die Furcht vor der Seekrankheit plagt“, ergriff Herr Désirandelle wieder das Wort, „dann wär's besser gewesen, diese Reise ganz zu unterlassen.“

„Glaubst du, ich hätte ihr jemals zugestimmt, Herr Désirandelle, wenn es sich dabei nicht um Agathokles handelte ...“

„Schon gut, da sie nun einmal beschlossen ist ...“

„Hat man doch gar keine Ursache, sich früher als nötig einzuschiffen.“

„Wir müssen aber unser Gepäck unterbringen, unsere Kabine einnehmen, unsere Plätze im Speisesalon wählen, wie mir Dardentor angeraten hat ...“

„Du siehst ja aber“, erwiderte die Dame trockenen Tons, „daß dein Dardentor selbst noch nicht eingetroffen ist.“

Sie erhob sich, um ihr Gesichtsfeld zu erweitern, und ließ die Blicke über den Molo von Frontignan schweifen. Die mit dem glänzenden Namen Dardentor bezeichnete Person war jedoch nicht zu sehen.

„Ach“, rief Herr Désirandelle, „du weißt ja, das ist so eine Mode! – Er wird erst im letzten Augenblick erscheinen! Unser Freund Dardentor setzt sich immer der Gefahr aus, daß man ohne ihn abfährt.“

„Nun, ich dachte“, rief Frau Désirandelle, „wenn das jetzt zuträfe ...“

„Dann würde es nicht das erste Mal sein.“

„Warum hat er das Hotel dann schon vor uns verlassen?“

„Er wollte nach Pigorin, einen ihm befreundeten Böttcher besuchen, und hat versprochen, mit uns auf dem Dampfer zusammenzutreffen. Sobald er kommt, wird er an Bord gehen, und ich möchte wetten, daß er nicht auf dem Molo bleibt, um die Zeit zu vertrödeln.“

„Er ist aber noch gar nicht da ...“

„Das wird nicht lange dauern“, erwiderte Herr Désirandelle, der sich festen Schritts dem Landgang näherte. „Was denkst du darüber, Agathokles?“ fragte Frau Désirandelle, indem sie sich an ihren Sohn wandte.

Agathokles dachte gar nichts, einfach weil er überhaupt niemals über etwas nachdachte. Warum hätte der Tropf sich für dieses See-und Handelsleben, für den Transport von Waren, die Einschiffung von Reisenden, für den Lärm an Bord, der der Abfahrt eines Dampfers immer vorausgeht, auch interessieren sollen? Eine Seereise zu unternehmen, um ein ihm bisher unbekanntes Land kennenzulernen, erweckte in ihm nicht die freudige Neugier, die natürliche Erregung, die bei Leuten seines Alters sonst zutage zu treten pflegt. Allem gleichgültig, ja fremd gegenüberstehend, apathisch, ohne Phantasie oder Geist, ließ er den Dingen einfach ihren Lauf. Als sein Vater ihm gesagt hatte: „Wir werden nach Oran reisen“, hatte er mit einem „Ah!“ geantwortet; auf dieselbe Mitteilung seiner Mutter stieß er dasselbe „Ah!“ hervor, und als beide ihm sagten: „Wir werden dort einige Wochen bei Madame Elissane und ihrer Tochter wohnen, die du bei ihrem letzten Aufenthalt in Perpignan kennengelernt hast“, antwortete er wiederum: „Ah!“ – Dieses Ausrufwort dient gewöhnlich als Ausdruck der Freude oder des Schmerzes, der Bewunderung oder des Mitleids. Was es im Mund des Agathokles bedeutete, ist schwer zu sagen, wenn nicht etwa ein Nichts in der Dummheit oder eine Dummheit im Nichts.

Als seine Mutter ihn aber fragte, was er darüber denke, so zeitig an Bord zu gehen, oder noch auf dem Kai zu bleiben, folgte er seinem Vater, als er diesen den Landgang betreten sah, einfach nach, und Frau Désirandelle mußte sich beiden wohl oder übel anschließen.

Die beiden jungen Leute hatten auf dem Oberdeck des Dampfers bereits Platz genommen. Die lebhafte Bewegung ringsumher amüsierte sie. Das Erscheinen des einen oder andern Passagiers regte sie, je nach dem Typus des Individuums, zu dem oder jenem Gedanken an. Die Zeit der Abfahrt kam heran. Die Dampfpfeife zerriß die Luft.

Dichter wirbelte der Rauch aus dem dicken Schornstein nah am Großmast, dessen Segelwerk von seinen gelblichen Hüllen bedeckt war.

Die Passagiere der ‚Argèlès‘ waren zum größten Teil Franzosen, die sich nach Algerien begaben, Soldaten auf dem Rückweg zu ihren Regimentern oder Bataillonen, einige Araber und auch einzelne Marokkaner mit Oran als Ziel ihrer Reise. Die letzteren wendeten sich gleich nach dem Betreten des Decks dem für die 2. Klasse bestimmten Teil des Schiffes zu. Auf dem Hinterteil vereinigten sich die Passagiere 1. Klasse, denen das Oberdeck, der allgemeine und der Spielsalon darunter, letztere mit Deckfenstern, die ihnen genügendes Licht zuführten, allein zugänglich waren. Die an den Seiten gelegenen Kabinen wurden durch Luken mit Linsengläsern erhellt. Auf der ‚Argèlès‘ herrschte offenbar weder der Luxus noch die Bequemlichkeit wie auf den Fahrzeugen der Transatlantischen Gesellschaft oder der Messageries maritimes. Die zwischen Marseille und Algerien verkehrenden Dampfer haben größeren Tonnengehalt, schnelleren Gang und im allgemeinen bessere Einrichtung. Bei einer so kurzen Überfahrt wie hier, braucht man aber nicht zu wählerisch zu sein. Den Schiffen zwischen Cette und Oran, die geringere Fahr- und Frachtpreise fordern, fehlte es denn auch niemals weder an Passagieren noch an Frachtgütern.

Wenn sich heute gegen 60 Passagiere auf dem Vorderteil befanden, schien es, daß die des Hecks die Zahl von 20 bis 30 nicht überstiegen. Einer der Matrosen läutete jetzt um 2 Uhr 30 Minuten. In einer halben Stunde sollte die ‚Argèlès‘ ihre Sorrtaue einziehen, und bei der Abfahrt von Dampfern gibt es meist nicht viele Nachzügler.

Von ihrer Einschiffung an hatte sich die Familie Désirandelle einen Platz nah der doppelflügligen Tür gesucht, die nach dem Speisesalon führte.

„Ach, wie das Schiff schon schaukelt!“ hatte sich Agathokles' Mutter auszurufen nicht enthalten können.

Der Vater hütete sich, ihr zu antworten. Er beschäftigte sich ausschließlich mit der Auswahl einer Kabine für drei Personen und mit dem Belegen von drei Plätzen im Speisesalon in der Nähe des Anrichtezimmers. Hier kamen die Speisen zuerst auf die Tafel und man hatte die Auswahl unter den besten Stücken und war nicht auf das angewiesen, was die anderen übrig gelassen hatten.

Die Kabine, der er den Vorzug gab, trug die Nummer 19. An Steuerbord gelegen, befand sie sich ziemlich mittschiffs, wo das Stampfen des Fahrzeugs am geringsten ist. Vor dem Rollen und Schlingern konnte man sich freilich nirgends schützen. Am Bug wie am Heck sind diese Bewegungen dieselben und gleichermaßen unangenehm für die Passagiere, die den Reiz einer wiegenden Bewegung nicht zu schätzen wissen.

Nach Inbesitznahme der Kabine und Ablegung des Handgepäcks, begab sich Herr Désirandelle, der die Verpackung ihrer Kolli seiner Gattin überließ, mit Agathokles nach dem Speisesalon. Da sich das Anrichtezimmer an der Backbordseite befand, wandte er sich eben dahin, um sich am Ende der Tafel drei Plätze, die er beanspruchte, durch Belegung mit seiner Karte zu sichern.

Ein Reisender saß schon an diesem Ende, während sich der Oberkellner nebst seinen Leuten damit beschäftigte, die einzelnen Kuverts für die Mittagstafel um 5 Uhr in Ordnung zu bringen.

Der erwähnte Reisende hatte also schon von einem solchen Platz Besitz genommen und seine Karte zwischen die Falten der Serviette gesteckt, die auf einem mit dem Monogramm der ‚Argèlès‘ geschmückten Teller stand. Ohne Zweifel wollte er, in der Befürchtung, daß ihm ein Eindringling diesen Platz abspenstig machen könnte, bis zur Abfahrt des Dampfers vor seinem Kuvert gleich sitzen bleiben.

Herr Désirandelle warf ihm einen flüchtigen Blick zu und erhielt einen solchen zurück. Dabei hatte er aber die beiden Namen „Eustache Oriental“ auf der Karte des Tischgenossen lesen können, dann belegte er dem Mann gegenüber seine drei Plätze und verließ den Speisesalon, um nach dem Oberdeck zurückzukehren.

An der Abfahrtszeit fehlten jetzt nur noch 12 Minuten, und die auf dem Kai von Frontignan etwa verspäteten Passagiere mußten nun bald das letzte Signal der Dampfpfeife zu hören bekommen. Kapitän Bugarach überschritt den Landgang. Vom Vorderkastell aus überwachte der Obersteuermann der ‚Argèlès‘ die Lösung der Haltetaue.

Herr Désirandelle wurde immer unruhiger und rief wiederholt mit ungeduldiger Stimme:

„Wenn er nun gar nicht käme! ... Wo mag er stecken? ... Was macht er denn? ... Er muß doch wissen, daß es jetzt 3 Uhr ist! .. . Er wird den Dampfer verfehlen! ... Agathokles?“

„Was denn?“ fragte näselnd der jüngere Désirandelle, ohne daß er zu begreifen schien, was seinen Vater in so außergewöhnliche Aufregung versetzte.

„Du siehst Herrn Dardentor nicht?“

„Ist er denn nicht gekommen?“

„Nein, bis jetzt noch nicht ... Woran denkst du den?“

Agathokles dachte an nichts.

Herr Désirandelle lief auf dem Oberdeck von einem Ende zum anderen, richtete einmal den Blick nach dem Kai von Frontignan und dann wieder nach der gegenüberliegenden Hafenmauer des alten Bassins. Der Ausgebliebene konnte nämlich auch auf dieser Seite auftauchen, und ein Boot hätte ihn mit wenigen Ruderschlägen an die Seite des Dampfers befördert.

Kein Mensch war da zu sehen.

„Was wird Frau Désirandelle sagen!“ rief Herr Désirandelle in heller Verzweiflung. „Sie sorgt sich so um ihn ab! ... Ich kann es ihr doch nicht verhehlen! Wenn dieser Teufel von Dardentor nicht binnen 5 Minuten hier ist, was soll denn dann werden?“

Marcel Lornans und Jean Taconnat belustigten sich über die Verlegenheit des Männchens. Jedenfalls wurden die Sorrtaue der ‚Argèlès‘ nun sehr bald losgeworfen, wenn der Kapitän nicht näher unterrichtet wurde und wenn man annahm, daß dieser keine hergebrachte Gnadenviertelstunde bewilligte – was übrigens kaum geschieht, wenn es sich um Personenschiffe handelt –, dann würde man ohne Herrn Dardentor abfahren.

Jetzt zitterten und dröhnten die Kessel schon unter dem Hochdruck des Dampfs und aus dem Abblaserohr schossen weiße Wolken hervor; der Dampfer stieß sich an der Mauer gegen seine aus Stricken geflochtenen Schutzballons, während der Maschinist die Kolben langsam in Gang setzte und die Schraube sich etwas einlaufen ließ.

In diesem Augenblick erschien Frau Désirandelle auf dem Oberdeck. Trockner als sonst und blasser als gewöhnlich, wäre sie wohl in ihrer Kabine geblieben und hätte diese während der ganzen Fahrt nicht verlassen, wenn nicht auch sie eine wirkliche Unruhe hinaufgetrieben hätte. Im Vorgefühl, daß Herr Dardentor doch nicht an Bord war, wollte sie trotz ihrer Schwäche Kapitän Bugarach ersucht sehen, auf den noch ausgebliebenen Passagier zu warten.

„Nun ...?“ redete sie ihren Gatten an.

„Er ist nicht eingetroffen!“ lautete die Antwort. „Ohne Dardentor können wir aber unmöglich abreisen ...“

„Ja, wenn er jedoch ...“

„So sprich doch mit dem Kapitän, Herr Désirandelle! Du siehst ja, daß mir die Kraft fehlt, zu ihm hinaufzuklettern!“

Kapitän Bugarach, der ein Auge auf alles hat und der jetzt einen Befehl nach dem Vorderdeck und dann einen nach Hinterdeck erteilte, schien nicht von leicht zugänglicher Natur zu sein. An seiner Seite auf der Kommandobrücke und die Hände auf dem Rad stand der Steuermann und wartete nur auf den Befehl, die Ketten des Steuerruders in Bewegung zu setzen. Jetzt war's der unpassendste Augenblick, ein Anliegen an ihn vorzubringen; auf Betreiben der ungeduldigen Frau Désirandelle kletterte der gehorsame Gatte aber doch die eiserne Leiter hinauf und hielt sich dann an den mit weißer Leinwand überzogenen Leitstangen fest.

„Herr Kapitän?“ begann er.

„Was wünschen Sie?“ antwortete ziemlich barsch „der Herr nächst Gott“ mit einer Stimme, die durch seine Zähne rollte wie der Donner durch eine Wetterwolke.

„Sie wollen abfahren?“

„Genau um 3 Uhr – und daran fehlt nur noch 1 Minute ...“

„Doch einer unserer Reisegenossen hat sich verspätet ...“

„Desto schlimmer für ihn.“

„Könnten Sie denn nicht etwas warten?“

„Nicht eine Sekunde!“

„Es handelt sich aber um Herrn Dardentor!“

Herr Désirandelle nahm mit Sicherheit an, daß die Nennung dieses Namens genügen würde, den Kapitän zu veranlassen, daß er die Mütze ziehend sich verneigte.

„Wer ist das? ... Dardentor? ... Kenne ich nicht!“

„Herr Clovis Dardentor ... aus Perpignan ...“

„Schön! Wenn Herr Clovis Dardentor aus Perpignan nicht binnen 40 Sekunden an Bord ist, wird die ‚Argèlès‘ ohne Herrn Dardentor abfahren ... Die Taue vorn losmachen!“

Herr Désirandelle kam mehr purzelnd als gehend die Leiter hinunter und auf dem Deck an.

„Es soll also fortgehen?“ rief Frau Désirandelle, der der Zorn die schon erbleichenden Wangen für eine Sekunde mit Purpur übergoß.

„Der Kapitän ist der reine Unhold! .. . Er hört auf keine Bitte und will abfahren!“

„Dann steigen wir augenblicklich wieder aus!“

„Frau Désirandelle, das geht nicht! ... Unser größeres Gepäck ist mit in den Frachtraum hinuntergeschafft ...“

„Wir steigen aus, sag' ich dir!“

„Unsere Plätze sind schon bezahlt ...“

Bei dem Gedanken an den dreifachen Verlust des Fahrpreises von Cette nach Oran wurde Frau Désirandelle wieder leichenblaß.

„Die gute Frau streicht die Flagge!“ sagte Jean Taconnat. „Sie wird sich also ergeben!“ fügte Marcel Lornans hinzu.

Und sie ergab sich wirklich, doch nicht ohne einen Schwall nutzloser Vorwürfe loszulassen.

„Ach, dieser Dardentor . . . er ist doch unverbesserlich! . . . Niemals da, wo er sein sollte! . . . Statt geradewegs nach dem Schiff zu gehen, nein, da muß er hoch einmal zu jenem Pigorin laufen! ... Und was werden wir ... da draußen ... in Oran .. . ohne ihn anfangen?“

„Oh, wir erwarten ihn einfach bei Madame Elissane“, antwortete Herr Désirandelle tröstend, „er wird uns mit dem nächsten Dampfer nachkommen, und sollt' er auch einen von Marseille aus benützen.“

„Nein, dieser Dardentor! ... dieser Dardentor!“ wiederholte die Dame, deren Blässe bei den ersten leisen Bewegungen der ‚Argèlès‘ noch zunahm. „Ach, wenn es nicht um unseres Sohnes willen wäre ... wenn sich's nicht um sein Glück und die Zukunft meines Agathokles handelte!“

Ob seine Zukunft und sein Glück dem unbedeutenden Burschen, dieser negativen Größe, wirklich so besonders am Herzen lagen, das hätte man, wenn man ihn bei der leiblichen und geistigen Unruhe seiner Eltern so gleichgültig sah, gewiß verneinen mögen.

Frau Désirandelle war am Ende ihrer Kräfte, und sie konnte unter schwerem Aufseufzen nur die Worte rufen:

„Meine Kabine! ... Meine Kabine!“

Der Landgang des Dampfers war eben von einigen Leuten nach dem Kai zurückgezogen worden. Nachdem der Dampfer sich am Vorderteil ein wenig von der Mauer entfernt hatte, machte er eine Wendung, um in die Richtung nach der Durchfahrt zu liegen zu kommen. Die Schraube arbeitete erst langsam rückwärts und erzeugte auf der Oberfläche des alten Bassins einen weißlichen Wasserwirbel.

Die Dampfpfeife ließ ihren ohrzerreißenden Ton vernehmen, um in der Durchfahrt freies Fahrwasser für den Fall zu finden, daß noch ein Schiff hätte von außen da einlaufen wollen.

Herr Désirandelle warf noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Menschen, die der Abfahrt des Dampfers beiwohnten, und dann längs des Kais von Perpignan bis zu dessen Ende hin, wo der Nachzügler hätte auftauchen können ... Mit einem Boot wär es ihm ja auch jetzt noch möglich gewesen, die ‚Argèlès‘ zu erreichen.

„Meine Kabine ... meine Kabine!“ murmelte Frau Désirandelle mit fast ersterbender Stimme.

Ärgerlich über den widrigen Zufall und erbost über das Jammern seiner Frau, hätte er diese samt Herrn Dardentor am liebsten zum Henker gejagt. Das Dringlichste war jedoch, Frau Désirandelle wieder in ihre Kabine zu schaffen, die sie gar nicht hätte verlassen sollen. Er bemühte sich also, sie auf der Bank, auf der sie halb ohnmächtig lag, emporzurichten. Dann faßte er sie um die Taille und trug sie mit Hilfe einiger Stewards vom Oberdeck nach dem Verdeck hinab. Nachdem sie so durch den Spielsalon und bis in ihre Kabine geschleppt worden war, wurde sie zum Teil entkleidet, niedergelegt und in Decken gewickelt, um ihre halb entschwundene Körperwärme wieder herzustellen.

Nach Vollendung dieser beschwerlichen Operation stieg Herr Désirandelle wieder zum Oberdeck hinauf, von wo aus seine wütenden und drohenden Blicke die Hafendämme des alten Bassins überflogen.

Der Nachzügler war nicht da, und wäre er dagewesen, was hätte er anders tun können, als seine Schuld eingestehend sich an die Brust zu schlagen?

Nachdem die ‚Argèlès‘ gewendet hatte, dampfte sie mitten in die Durchfahrt hinein, wobei ihr eine Menge Leute, die sich teils auf dem Hafendamm, teils um den Molo Saint–Louis drängten, noch Abschiedsgrüße zuwinkten. Dann fiel sie leicht nach Backbord hin ab, um einer Goélette auszuweichen, die eben ins Bassin eingelaufen war. Nach Passierung der Durchfahrt endlich ließ Kapitän Bugarach so steuern, daß sie nördlich vom Wellenbrecher vorüberfuhr und das Cap von Cette mit halber Dampfkraft umschiffte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor

Der Hafen von Cette und der Berg Saint-Clair.

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