Kapitel (Ein Kapitel, das nur auf das Nächste vorbereitet)

Endlich war die Stunde gekommen, wo die verschiedenen Elemente der Gruppe Dardentor zu einer Karawane zusammenwachsen sollten. Von Saïda bis Sidi-bel-Abbès gab es keine Bahnlinie mehr, keine Beförderung in Wagen, die von der fauchenden Locomotive gezogen wurden. Einfache Fahr- und Reitwege traten nun an die Stelle der Geleise.

Dreihundertfünfzig Kilometer waren von hier aus „unter den angenehmsten Verhältnissen“, wie Herr Dardentor wiederholt versicherte, zurückzulegen. Auf Pferden, Mauleseln, auf Kameelen und Dromedaren oder im Wagen sollte es über die weiten, von Alfalieferanten ausgebeuteten Landstrecken und durch die unermeßlichen südoranischen Wälder gehen, die auf colorierten Landkarten wie Blumenkörbe aussehen, die von dem Adernnetz der Oueds der bergigen Gegend mit Wasser versorgt und erfrischt werden.


Von Oran ab und während der Fahrt von hundertsechsundsiebzig Kilometern blieb es offenbar, daß der Erbe der Désirandelle's, in seiner Bedeutungslosigkeit verharrend, sich um keinen Schritt dem Ziele genähert hatte, worauf seine Eltern ihn zudrängten. Andrerseits konnte es der Frau Elissane nicht entgehen, daß Marcel Lornans jede Gelegenheit zum Verkehr mit ihrer Tochter wahrnahm, um ein Wort mit ihr zu sprechen, was „trotz seiner Berechtigung dazu „der Schwachkopf Agathokles nicht that. Ob Louise für die Aufmerksamkeiten des jungen Mannes empfänglich war... ja, vielleicht... doch nichts weiter, dafür trat Frau Elissane ein. Ueberdies war sie nicht dazu geschaffen, von einem einmal gefaßten Beschlusse abzugehen... niemals würde Louise, die sie schon noch ins [160] Gebet nehmen wollte, es wagen, ihre Zustimmung zu der geplanten Heirat zu verweigern.

Hatte wohl Jean Taconnat Ursache, befriedigt zu sein?

„Alle Wetter... nein!“ rief er an eben diesem Morgen.

Marcel Lornans befand sich noch im Zimmer des Hôtels, wohin er in voriger Nacht geschafft worden war, und er lag auch noch auf dem Bette, obschon er jetzt schon lange wieder unbehindert athmete.

„Nein,“ wiederholte der Andre nochmals, „es scheint, als ob sich alles verschworen hätte...“

„Nicht gegen mich,“ warf sein Vetter ein.

„Auch gegen Dich, Marcell.“

„Keineswegs, denn ich habe nie die Absicht gehabt, der Adoptivsohn des Herrn Dardentor zu werden.“

„Sapperment... aus dem spricht der Verliebte.“

„Wie, der Verliebte?...“

„Schalk Du!... Es liegt doch klar am Tage, daß Du Fräulein Louise Elissane liebst!“

„Still... Jean!... Man könnte uns hören!“

„Und wenn das der Fall wäre, was erführe man da neues?... Ist es denn nicht sichtbar, wie der Mond auf drei Schritt Entfernung?... Braucht man das Fernrohr des Herrn Oriental, um zu sehen, wohin es Dich zieht?... Macht es der Frau Elissane nicht schon eine gewisse Unruhe, und glaubst Du nicht, daß Dich die Désirandelle's, Vater, Mutter und Sohn, zu allen tausend Teufeln wünschen?“

„Du übertreibst, Jean!“

„Gewiß nicht!... Nur Herr Dardentor scheint nichts davon zu merken, und vielleicht auch Fräulein Elissane nicht...“

„Sie?... Du glaubst...?“ fragte Marcel Lornans lebhafter.

„Gut, beruhige Dich nur, Herr Todescandidat von gestern! Sollte ein junges Mädchen sich über so ein besondres heimliches Herzklopfen täuschen können?“

„Jean!“

„Was die Mißachtung betrifft, die sie gegen das Meisterwerk der Désirandelle's, das auf den Namen Agathokles hört, empfindet...“

„Weißt Du, Freund Jean, daß ich in Fräulein Louise ganz vernarrt bin...“

„Vernarrt, das ist das richtige Wort, denn wohin soll es Dich führen?... Daß Fräulein Elissane reizend ist, das sieht auch der Blinde, und ich würde sie ebenso angebetet haben, wie Du. Sie ist aber versprochen, und wenn sich's auch um keine Heirat aus Liebe handelt, so stehen dieser doch ein dicker Geldsack und der beiderseitige Wunsch der Eltern zur Seite. Es ist ein Gebäude, zu dem man schon in der Kindheit der Betheiligten den Grund gelegt hat, und Du bildest Dir ein, das einfach umblasen zu können?“

„Ich bilde mir gar nichts ein, sondern lasse den Dingen ihren Lauf.“

„Auch damit begehst Du noch ein Unrecht, Marcel.“

„Inwiefern denn?“

„Du wirst unsern ersten Plänen untreu.“

„Ich will lieber Dir freie Hand lassen, Jean!“

„Aber überlege doch, Marcel! Wenn es Dir gelänge, adoptiert zu werden...“

„Ich?“

„Ja, ja... Du!... Wenn Du dann dem Fräulein Elissane den Hof machtest, und könntest mit der Hand in der Tasche klimpern, statt jetzt nur den schmachtenden Seladon zu spielen... Da könntest Du Agathokles schon mit dem Portemonnaie allein ausbeißen, abgesehen davon, daß der neue Vater Deine Bewerbung mächtig unterstützen würde. Er zögerte gewiß auch keinen Augenblick, Louise selbst zu seiner Adoptivtochter zu machen, wenn es von der Vorsehung ihr beschieden wäre, ihn aus Wasser, Feuer oder Kampfesnoth zu retten.“

„Du faselst!“

„Ich fasele?... Ja, doch mit allem Ernste überlegenen Verstandes, und ich ertheile Dir nur guten Rath.“

„Du wirst wohl zugeben, Jean, daß ich von Anfang herein Pech gehabt habe. Da bricht nun im Zuge Feuer aus, und nicht allein bleibt es mir versagt, Herrn Dardentor zu retten, nein, er ist es sogar, der mich rettet.“

„Ja freilich, Marcel, das ist Pech, unser verteufeltes Pech! Doch, da fällt mir ein, jetzt wärst Du in der gewünschten Lage, den Perpignaneser zu adoptieren. Das käme zuletzt auf eins hinaus! So adoptiere ihn also, und er dotiert dann seinen Vater...“

„Unsinn! erklärte Marcel Lornans lachend.“

„Warum denn?“

„Weil es gesetzliche Vorschrift ist, daß der Adoptant älter als der Adoptierte sein muß, und wär's nur um einige Tage.“

„Ach, Marcel, es geht uns einmal alles gegen den Strich, und wie verflixt schwierig ist es doch, sich durch juristische Hilfsmittel einen Vater zu erobern!“

Da erscholl eine laute Stimme in dem Gange, woran das Zimmer lag.“

„Das ist er!“ sagte Jean Taconnat.“

Clovis Dardentor erschien, aufgeräumt wie immer, in der Thür, und mit einem einzigen Satze sprang er von der Schwelle bis an Marcel Lornans' Lager.

„Wie, rief er, immer noch nicht aufgestanden?... Ist er etwa krank? Fehlt es seiner Athmung an Tiefe und Regelmäßigkeit?... Soll ich ihm etwa Luft in die Lungen blasen?... Kein Genieren!... Ich habe die Brust voll ganz besonders wirksamen Sauerstoffs, zu dem ich allein das Recept besitze.“

„Herr Dardentor... mein Retter! sagte Marcel Lornans sich aufrichtend.“

„Ach nein... nein!“

„Doch... ja!“ erwiderte Jean Taconnat. „Ohne Sie wäre er erstickt! Ohne Sie wäre er gekocht, gebraten, gebacken, eingeäschert! Ohne Sie hätten wir von ihm jetzt nur noch ein Häuschen Asche übrig, die ich in einer Urne mit nach Hause nehmen könnte!“

„Armer Junge!... Armer Junge!“ wiederholte Herr Dardentor, die Hände gen Himmel erhebend.

Dann fuhr er fort:

„Es ist also doch wahr, daß ich ihn gerettet habe!“

Er betrachtete ihn gerührt und umarmte ihn in einem Anfalle von acutem „Perichonismus“, der vielleicht noch einen chronischen Charakter annahm.

Nun begannen die Drei zu plaudern.

Wie war das Feuer nach dem Coupé gekommen, worin Marcel Lornans so ruhig schlief?... Vielleicht hatte es ein Funken aus der Locomotive veranlaßt, der durch das Fenster fliegend das Polster in Brand gesetzt hatte... dann mochte dieser durch die schnelle Bewegung des Zuges weiter angefacht worden sein...

„Und die Damen?“ fragte Marcel Lornans.

„Sie befinden sich wohl und haben sich von dem Schrecken erholt, mein lieber Marcel...“

„Aha, jetzt heißt's schon „mein lieber Marcel“, schien sich Jean Taconnat zu sagen.

„Denn Sie sind in Zukunft doch fast wie mein Kind!“ setzte Clovis Dardentor hinzu.

„Sein Kind!“ murmelte der Vetter.

„Und Sie hätten nur Fräulein Elissane sehen sollen,“ fuhr der brave Mann fort, „wie sie, als der Zug endlich hielt, nach dem von den Flammen umzüngelten Waggon stürzte! Ja, bei Gott, eben so schnell wie ich! Als ich Sie dann auf der Strecke niedergelegt hatte, da war sie schon mit ihrem Taschentuche zur Hand, goß ein wenig von einer belebenden Essenz darauf und netzte damit Ihre Lippen. O, Sie hatten ihr einen gewaltigen Schreck eingejagt, und ich fürchtete immer, sie würde selbst in Ohnmacht fallen!“

Tiefer ergriffen, als er es sehen lassen wollte, faßte Marcel Lornans beide Hände des Herrn Dardentor und dankte aufrichtig für alles, was dieser für ihn gethan hatte... für seine Bemühungen... für das Taschentuch des Fräuleins Louise! Das rührte unsern Perpignaneser dermaßen, daß ihm die Augen feucht wurden.

„Ein Regentropfen zwischen zwei Sonnenstrahlen!“ dachte sich Jean Taconnat, der das ergreifende Bild mit Schalksaugen betrachtete.

„Nun, mein lieber Marcel, wollen Sie sich denn nicht aus Ihren Decken auswickeln?“

„Ich war im Begriff aufzustehen, als Sie eintraten.“

„Wenn ich Ihnen helfen kann...“

„Danke, danke, Jean ist ja da...“

„Bitte, mich nicht schonen zu wollen!... Sie gehören nun doch mir an. Ich beanspruche das Recht, für Sie sorgen zu dürfen...“

„Wie ein Vater!“ mischte sich Jean Taconnat ein.

„Ja, wie ein Vater, wie ein solcher nur sorgen kann, sonst soll mir der Teufel gleich an den Nacken fahren!“

Zum Glück war Patrice nicht anwesend.

„Doch nun, liebe Freunde, vorwärts! Wir erwarten Sie Beide im Speisesaale. Noch eine Tasse Kaffee, dann gehen wir nach dem Bahnhofe, wo ich sehen möchte, ob für unsre Karawane alles in Ordnung ist. Nachher spazieren wir durch die Stadt; das wird schnell abgemacht sein... später durch die Umgebung, und morgen, zwischen acht und neun Uhr, machen wir uns nach arabischer Mode auf den Weg. Vorwärts, Touristen!... Vorwärts, Ausflügler! Sie werden ja sehen, ob ich das richtig zugeschnittene Aussehen habe, wenn mir der Zerdani um die Schultern flattert. Ein Scheik... ein leibhaftiger Scheik aus der Scheikardie!“

Damit drückte er Marcel so kräftig die Hand, daß er ihn dabei halb aus dem Bette zerrte, und verließ das Zimmer, während er ein Volksliedchen aus den Pyrenäen vor sich hinträllerte.

„Sapperlot,“ rief Jean Taconnat, als jener verschwunden war, wo fände man Leute, die sich mit ihm und... mit ihr vergleichen könnten!... Er, mit seinem afrikanischen Zerdani... sie, mit ihrem duftenden Taschentuche!

„Jean, erwiderte Marcel etwas verletzt, Du scheinst mir über Gebühr lustig zu sein.“

„Du hast mich ja selbst dazu aufgefordert... nun bin ich lustig!“ antwortete Jean Taconnat, eine Pirouette schlagend.

Marcel Lornans begann sich anzukleiden. Er sah noch ein wenig blaß aus, doch das würde sich verlieren.

„Na, übrigens,“ phantasierte sein Vetter weiter, „wären wir unter den Siebenten Jägern noch ganz andern Abenteuern ausgesetzt. Zum Teufel, da kläng' es wohl noch anders! Ein Sturz vom Pferde, ein Schlag mit dem Hufe, und in der Schlacht... ein Bein weg... ein Arm verschwunden... ein Loch in der Brust... die Nase futsch... der Kopf zum Kuckuck, und dazu die Unmöglichkeit, gegen die Brutalität der Geschosse von zehn Centimetern und auch von geringerem Durchmesser Einspruch zu erheben!“

Da Marcel Lornans ihn einmal so im Zuge sah, verzichtete er darauf, ihn zu unterbrechen, und wartete, bis er den Hahn am Mundstück seiner Scherze selbst schließen würde.

„Spotte nur immer zu, Freund Jean, vergiß aber nicht, daß ich auf jeden Versuch verzichtet habe, mich durch meinen Retter dadurch adoptieren zu lassen, daß ich ihn auch selbst einmal errette. Mach' Du, was Du willst. Meinen Segen hast Du!“

„Ich danke, Marcel.“

„O, nicht der Rede werth, Jean... Dardentor!“

Eine halbe Stunde später betraten Beide den Speisesaal des Hotels... eigentlich eines einfachen, doch sauber gehaltenen und anheimelnden Gasthofs.

Die Familien Elissane und Dósirandelle standen an einem der Fenster zusammen.

„Da ist er!... Da ist er!“ rief Clovis Dardentor, „da ist er... Lungen und Magen noch vollständig in Ordnung... heil und gesund aus dem Backofen entwischt!“

Patrice wandte den Kopf ab, denn das unangebrachte Wort „Backofen“ schien ihm einige beklagenswerthe Vergleichungen zu erwecken.

Frau Elissane empfing Marcel Lornans mit ein paar liebenswürdigen Worten und beglückwünschte ihn, der schrecklichen Gefahr entronnen zu sein.

„Dank dem Herrn Dardentor,“ antwortete Marcel Lornans. „Ohne seine Opferfreudigkeit...“

Patrice sah mit Befriedigung, daß sein Herr sich ohne weitere Antwort begnügte, dem jungen Mann die Hand zu drücken.

Die Désirandelle's dagegen verzogen die Lippen, sahen höchst gleichgiltig aus und verneigten sich kaum zur Begrüßung der beiden Pariser.

Louise Elissane sprach selbst kein Wort; ihr Blick begegnete aber dem Marcel Lornans', und vielleicht sagten sie sich mit den Augen mehr, als die Lippen hätten aussprechen können.

Nach dem Frühstück bat Herr Dardentor die Damen, sich inzwischen fertig zu machen, während die Herren auf kurze Zeit ausgingen. Dann begaben sich die beiden jungen Leute und er, sowie die Herren Désirandelle, nach dem Bahnhofe.

Wie schon erwähnt, mündet die Bahnlinie von Arzeu nach Saïda in letztgenannter Stadt. Noch weiter und durch die Alfagebiete der franco-algerischen Actiengesellschaft hat die Südoranische Eisenbahncompagnie ihre Linie über Tafararona bis zur Station Kralfalla hinausgeschoben. Von hier giebt es drei Zweiglinien: die erste, bereits betriebene Linie verläuft über den Kreider bis Mecheria und Aïn-Sefra; die zweite, noch im Bau befindliche, erstreckt sich nach Osten hinaus in der Richtung nach Zragnet; die dritte, erst projectierte, soll über Aïn-Sfissifa bis Geryville weitergeführt werden, dessen Höhenlage fast vierzehn hundert Meter über dem Meere erreicht.

Die Lustreise sollte sich aber nicht bis so weit nach dem Süden erstrecken. Die Touristen gedachten sich vielmehr nach Westen bis Sebdou zu begeben, dann sich nach Norden zu wenden und von Sidi-bel-Abbès aus mit der Bahn nach Oran zurückzukehren.

Als Clovis Dardentor also nach dem Bahnhofe von Saïda ging, wollte er sich nur überzeugen, ob auch die Transportmittel für seine Gesellschaft bereit gestellt wären, und er konnte damit völlig zufrieden sein.

Mit Sonnenschutz versehene und mit Mauleseln bespannte offene Wagen, Pferde, Maulesel, Kameele, alles wartete nur auf die Reisenden, um sich sofort in Bewegung zu setzen.

Von den andern aus Oran gekommenen Touristen schien noch keiner Saïda verlassen zu haben, und jedenfalls war es wünschenswerth, daß die Karawane bei dieser Excursion durch die südlichen Gebiete aus vielen Personen bestand, obwohl von den dort nomadisierenden Völkern keinerlei Gefahr zu befürchten war.

Marcel Lornans und Jean Taconnat als geübte Reiter suchten sich zwei Pferde aus, die ihnen passend erschienen, ein Paar jener lebhaften und ausdauernden Berberrosse, die von den südoranischen Hochebnen stammen. Herr Désirandelle entschied sich nach reiflicher Ueberlegung für einen Sitzplatz in einem der Wagen in Gesellschaft der Damen. Agathokles, der im Steigbügel nicht fest saß und dem die Pferde eine zu flotte Gangart zu haben schienen, wollte seinen Leichnam einem Maulesel anvertrauen, mit dem er zur Noth auszukommen hoffte. Clovis Dardentor, ein vortrefflicher Reiter, musterte die Pferde mit Kennerblicken, ließ aber über seinen Entschluß noch nichts verlauten.

Die Leitung der Karawane lag natürlich in den Händen eines Beamten der Bahngesellschaft. Dieser Beamte, namens Derivas, hatte noch einen Führer namens Moktani und mehrere arabische Diener zu seiner Verfügung. Ein Lastwagen sollte hinreichende Nahrungsmittel mitführen, die man in Daya, in Sebdou und in Tlemcen nach Bedarf zu erneuern gedachte. Von einem Lagern während der Nacht war keine Rede. Um die vorgesehenen Rastplätze zu erreichen, brauchte die Karawane nur gegen zehn Lieues täglich zurückzulegen und sollte dann in einem der Dörfer oder Weiler, die an ihrem Wege lagen, Halt machen.

„Alles in bester Ordnung,“ erklärte Herr Dardentor, „die ganze Organisation macht dem Director der algerischen Eisenbahnen alle Ehre. Wir können ihn wegen seiner Maßnahmen nur beglückwünschen. Morgen um neun Uhr also, Versammlung auf dem Bahnhofe, und da wir jetzt noch einen Tag vor uns haben, liebe Freunde, so wollen wir aufbrechen, um das schöne Saïa zu besichtigen.“

Als sie eben weiter gehen wollten, bemerkten Herr Dardentor und seine Begleiter in hundert Schritt Entfernung einen ihrer Bekannten.

Herr Eustache Oriental wanderte nach dem Bahnhof aus demselben Grunde, der sie hergeführt hatte.

„Da kommt er... da kommt er in höchsteigner Person!“ declamierte der Perpignaneser, daß man es weithin hörte.

Wiederum wurde ein Gruß mit dem Vorsitzenden der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar ausgetauscht, doch kein Wort dabei gewechselt. Herr Eustache Oriental schien sich auch fernerhin so abseits halten zu wollen, wie früher an Bord des „Argeles“.

„Er wird also mit im Zuge sein?“ bemerkte Marcel Lornans.

„Ja, er wird sich gleich uns mit fortschleppen lassen,“ antwortete Herr Dardentor.

„Ich hoffe, meinte Jean Taconnat, die Bahngesellschaft wird für hinreichende Nahrungsmittel gesorgt haben...“

„Spotten Sie immer über seinen guten Appetit, Herr Taconnat, erwiderte Clovis Dardentor, doch wer weiß, ob uns das Männchen unterwegs nicht von Nutzen sein kann. Nehmen Sie nur an, die Karawane verirrte sich; würde er sie nicht allein durch Befragung der Gestirne wieder auf den rechten Weg zurückführen können?“

Jedenfalls dachte man sich die Anwesenheit des Gelehrten zunutze zu machen, wenn die Umstände das erforderten.

Nach Herrn Dardentor's Vorschlag wurden nun der Vor- und der Nachmittag mit Spaziergängen innerhalb und außerhalb der Stadt zugebracht.

Saïda zählt etwa dreitausend Einwohner „eine sehr gemischte Bevölkerung, die zu einem Sechstel aus Franzosen, zu einem Zwölftel aus Juden und im übrigen aus Eingebornen besteht.

Das aus der Militär-Unterabtheilung von Mascara hervorgegangene Gemeinwesen wurde 1854 gegründet. Zehn Jahre weiterhin bestand es aber eigentlich nur aus den Ruinen der alten, von den Franzosen eingenommenen und zerstörten Stadt, deren von Mauern umschlossenes Viereck zu den festen Plätzen Abd-el-Kader's gehörte. Nachher wurde die neue Stadt zwei Kilometer südöstlich zwischen dem Tell und den Hochebnen in der Höhe von neunhundert Metern erbaut.

Saïda „die Schöne“, wie die Stadt genannt wird, bildet mit ihrer halbmodernen und den Landessitten angepaßten Organisation nur einen Abklatsch von Saint-Denis du Sig oder Mascara. Auch hier gab es den unvermeidlichen Friedensrichter, den Personal-, Grundsteuer- und Acciseeinnehmer, den Forstaufseher und das hergebrachte arabische Bureau. Von Bau-oder Kunstdenkmälern, wie von einer Localfärbung war nichts zu entdecken, was bei einer verhältnißmäßig so neuen Stadt nicht wundernehmen kann.

Herrn Dardentor fiel es deshalb aber gar nicht ein, sich zu beklagen. Seine Neugier fand Befriedigung, oder seine industriellen Instincte wurden vielmehr neu aufgefrischt, wenn das Tiktak der Mahlmühlen oder das Kreischen der Sägen aus den Schneidemühlen an sein Ohr schlug. Höchstens bedauerte er, nicht an einem Mittwoch, dem Tage des großen arabischen Wollmarkts, nach Saïda gekommen zu sein. Seine Anlage zum tot admirari sollte indeß während des ganzen Ausfluges nicht unerprobt bleiben, und so wie man ihn am Anfange der Fahrt sah, erwies er sich gewiß auch noch am Ende derselben.

Zum Glück bieten die Umgebungen von Saïda hübsche Bilder, Landschaften die das Auge entzücken müssen, und reizende Aussichten, die einem Maler den Pinsel in die Hand drücken könnten. Auch hier prangen herrliche Weingelände und reiche Baumschulen und Gärten, worin die ganze algerische Flora vertreten ist. Wie überhaupt die drei Provinzen der französischen Colonie, zeigt auch die saïdische Landschaft überall den Charakter der Fruchtbarkeit. Eine halbe Million Hektar sind hier allein der Cultur der Alfa gewidmet. Der Erdboden ist von bester Beschaffenheit und die Thalsperre des Oued-Méniarin versorgt ihn mit dem nöthigen Wasser. So liefert das Land reiche Ernten, neben denen auch ausgedehnte Brüche von gelbgeadertem Marmor eine gutbezahlte Ausbeute sichern.

Das veranlaßte Herrn Dardentor zu der auch von andern hellen Köpfen wiederholt erörterten Frage:

„Wie kommt es, daß Algerien sich trotz seiner natürlichen Hilfsquellen doch nicht selbst erhalten kann?“

„Hier wachsen zu viele Beamte und zu wenig Colonisten, die von den ersteren erstickt werden, wie Nutzpflanzen durch überwuchernde Disteln!“

Der Spaziergang wurde bis auf zwei Kilometer nordwestlich von Saïda fortgesetzt. Hier, auf einer Berglehne, an deren Fuß der Méniarin gegen hundert Meter tiefer dahinplätschert, erhob sich einst die alte Stadt, freilich nur Ruinen der Festung des berühmten arabischen Häuptlings, den das schließliche Los aller Eroberer traf.

Zur Essenszeit kehrte die Gruppe Dardentor nach dem Hôtel zurück, und nach der Tafel verschwand jedermann bald in seinem Zimmer, um die letzten Vorbereitungen zur Abreise zu treffen.

Wenn für Jean Taconnat auch dieser Tag mit sich aufhebendem Nutzen und Verlust abschloß, konnte doch Marcel Lornans seine Activseite durch einen glücklichen Eintrag bereichern... hatte er doch Gelegenheit gefunden, sich mit Louise Elissane zu unterhalten, sich für ihre Bemühungen zu bedanken...

„Ach, Herr Lornans,“ hatte das junge Mädchen geantwortet, „als ich Sie so leblos, kaum athmend da liegen sah, fürchtete ich, daß... Nein, diese Minuten werd' ich niemals vergessen!“

Offenbar bezeichneten diese Worte weit mehr, als der „gewaltige Schreck“, von dem Herr Dardentor gesprochen hatte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
011a Clovis Dardentor hatte nicht gezögert, durch die Flammen zu dringen.

011a Clovis Dardentor hatte nicht gezögert, durch die Flammen zu dringen.

011b „Da ist er!.. Da ist er!“ rief Clovis Dardentor.

011b „Da ist er!.. Da ist er!“ rief Clovis Dardentor.

011c Der Perpignaneser begrüßte seine Reisegefährten.

011c Der Perpignaneser begrüßte seine Reisegefährten.

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