Sechstes Capitel. - Collegen, Wehmuth, Spielzeug, Blumenverkäuferin, Strickstrumpf, Wachtelhündchen.

Indessen rückte die Zeit dieser Trennung, die für den Oktober festgesetzt war, schneller heran, als man es wünschte, und der Abschied von Heidelberg fiel dem Geheimrath und seiner Frau viel schwerer, als sie es geglaubt hatten. Sie waren an das mildere Klima, an den kürzeren Winter gewöhnt. Meining hatte eine lange Reihe von Jahren dort gelebt und in manchem seiner Collegen einen Freund gefunden; Clementine konnte sich von der Schwester und namentlich von den Kindern nicht losreißen, und die Reise zu dem sehr ersehnten Ziele begann mit Thränen und mit schwerem Herzen, wie es gar so oft geschieht.
Meining und Clementine hatten sich eigentlich auf das Reisen selbst gefreut. Der Geheimrath hatte es sich zum Feste gemacht, seine junge liebenswürdige Frau all seinen alten Freunden, die sie auf dem Wege besuchen wollten, zu präsentiren und ihrer Bewunderung zu genießen; während Clementine, die noch reiselustig war, sich doppelten Genuß davon in der Gesellschaft ihres Mannes versprach. Es lag ein eigner Zauber für sie in dem Gedanken, mitten in der fremden Umgebung mit ihrem Manne allein zu sein, nur auf einander angewiesen, ganz auf sich selbst beschränkt. Sie wußte, daß ihr Herz weit und froh werde, so oft es ihr vergönnt war, wie ein leichter Zugvogel die Welt zu durchfliegen; sie hoffte dasselbe von Meining und war im Voraus entzückt über das Glück, das sie Beide in dieser Stimmung empfinden mußten. Leider aber verbitterte der Himmel selbst die erwartete Freude. Das Wetter war schon am Tage ihrer Abreise ungewöhnlich kühl und regnig geworden und blieb fast beständig schlecht. Man konnte kaum daran denken, den Wagen zu verlassen, fand es auf den Landstraßen neblig, trotz der noch frühen Jahreszeit; in den Städten still, weil der Regen die Leute zu Hause hielt. Meining, der sonst immer gesund war, hatte, darauf trotzend, sich eine Erkältung zugezogen, die, wenn auch unbedeutend, ihn doch mislaunig machte, und das Wiedersehen seiner frühern Bekannten trug noch dazu bei, ihn vollends zu verstimmen. Die Meisten hatten so gewaltig gealtert, daß ihr Anblick ihm peinlich war, weil es ihn selbst auf unangenehme Weise an seine vorgerückten Jahre mahnte. Er fand einige mitten in einer großen Familie, gedrückt von Sorgen und nicht belohnt für ihr Leben, wie sie es verdienten, Andere untergegangen in Egoismus und Pedanterie, Wenige in zusagenden Verhältnissen, verheirathet mit Frauen ihres Alters und zufrieden mit ihrem Geschicke. Diese konnten es nicht unterlassen, ihn halb im Ernste, halb scherzend darauf aufmerksam zu machen, daß er doch eine gar junge Frau gewählt hätte, was, trotz ihrer Liebenswürdigkeit, immer bedenklich sei; Jene rührten ihn durch eine Masse von Klagen, durch Leiden, denen er nicht abhelfen konnte, und je mehr er Grund hatte glücklich zu sein, um so drückender wurde ihm die Lage seiner frühern Bekannten. Unwohl und niedergeschlagen, wie er es war, drang er auf die größte Beschleunigung der Reise und beschloß Tag und Nacht zu fahren, um schneller an das Ziel und zur Ruhe zu gelangen, womit seine Frau, unter diesen Verhältnissen, nur einverstanden sein konnte.
Bei der Eile, mit welcher die Reise zurückgelegt wurde, sah sich Clementine wie mit einem Zauberstabe in ihre geliebte Vaterstadt versetzt. Als sie zuerst die bekannten Plätze erblickte, überfiel sie eine solche Wehmuth, daß ihr die Thränen aus den Augen stürzten und sie sich, wie ein banges Kind, an Meining schmiegte, nicht wissend, ob es Freude oder Schmerz, Hoffnung oder Furcht sei, was sie bewegte. Da ging die erste bekannte Person vorüber, und ein Gefühl von unbeschreiblichem Vergnügen trocknete die Thränen. Nun war es bald ein Dienstmädchen, das in ihrem elterlichen Hause gedient, ein Offizier, mit dem sie auf den Bällen getanzt, ein Fenster, an dem sie oft mit einer Freundin gestanden, ein Laden, in dem sie als kleines Kind ihr Spielzeug gekauft – kurz auf jedem Schritte neue Gegenstände der freudigsten Erinnerung. Sie war wieder zum frohen Kinde geworden, und Meining konnte gar nicht Alles sehen und bewundern, was ihm Clementine, als des Sehens und Bewunderns würdig, zeigte. Er wurde selbst heiter, als er den Ort, an dem er zu wirken berufen war, so glänzend und bewegt vor sich sah, und die Freude seiner Frau erhöhte diese gute Stimmung. Jetzt bog der Wagen in die Jägerstraße ein; sie hielten vor dem Hause von Clementinens Eltern, in dem Hause, in welchem sie jetzt wieder wohnen sollte.
Sie war immer im Besitze dieses Grundstückes geblieben, das ein Verwandter für sie verwaltet hatte, als sie Berlin verließ, und hatte sich das Quartier, welches ihre Eltern einst inne gehabt, frei machen lassen, sobald sie die Nachricht von Meining’s Berufung in ihre Vaterstadt erhalten. Jetzt trat sie wieder in die wohlbekannten Räume ein. Es war ihr, als hätte sie sie eben verlassen, als kehre sie von einem Spaziergange zurück; aber wie war Alles so fremd, so öde! Die Zimmer, kaum nothdürftig möblirt, schallten wieder von der Stimme der Sprechenden; nur die Stimme des theuern Vaters, der herzliche Willkomm der Tante tönten nicht an ihr Ohr – sie waren todt, entfernt! Und doch saß da drüben am Fenster noch die schöne, stattliche Frau mit dem Wachtelhündchen, vor der Thüre die alte Blumenverkäuferin mit dem ewigen Strickstrumpf; noch gingen die Offiziere und Referendare lorgnirend und grüßend an den Fenstern der gefeierten Sängerin vorüber; die Schauspieler eilten zur Probe in das nahe Theater; die Feinschmecker zogen zu Thiermann. Es war Alles das Alte geblieben, nur Clementine war eine Andere, eine Fremde in der Heimat geworden.
Mit diesen Gefühlen betrat sie ihr ehemaliges Stübchen und versank in tiefe Gedanken, aus denen das Fragen ihrer Jungfer und des Dieners sie rissen, die auspacken und einrichten und herstellen wollten. Dann kam Meining hinzu, die Wohnung wurde durchwandert, Rücksprache über die nöthigsten Erfordernisse genommen und das Treiben des Augenblickes machte sein Recht geltend für diesen Tag und die ganze nächste Zeit.
Auch fanden sich jetzt wirklich eine Menge Geschäfte für die Hausfrau. Der Geheimrath wünschte sich glänzend einzurichten, seine Säle zu dem Sammelplatz der geistigen Größen zu machen, und in diesem Sinne mußten die Einrichtungen getroffen werden. Clementinen’s geläuterter Geschmack, ihr angeborner Schönheitssinn kamen ihm dabei vortrefflich zu Statten. In wenigen Wochen waren die öden Zimmer in eine Wohnung verwandelt, die trotz der modernen Pracht einfach und behaglich erschien, weil ihre Besitzerin heimisch darin und für diese Umgebung geschaffen war, und Meining fand eine Freude daran, Clementine in diesen neuen Verhältnissen zu betrachten. Fast täglich wurden ihr Fremde vorgestellt. Ein großer Kreis fing an, sich um sie zu versammeln, und, obgleich das Alles sie augenblicklich zerstreute, vermißte sie doch gar sehr ihre früheren Bekannten, deren sie nur noch äußerst wenige in Berlin vorfand. Von ihren Jugendfreundinnen waren die meisten verheirathet und mit ihren Männern nach fernen Orten gezogen. Die alten Freunde ihres Vaters waren theils gestorben, theils, da sie dem Beamtenstande angehörten, ebenfalls versetzt; so, daß ihr eigentlich nur die Frau eines reichen Kaufmannes von dem früheren Kreise übrig geblieben war. Clementine hatte dieselbe erst ein Jahr vor ihrer Abreise von Berlin kennen lernen, und Beide hatten sich, vielleicht grade wegen ihrer vollkommen unähnlichen Charaktere, angezogen. Clementine war eben damals sehr niedergedrückt gewesen, und es hatte sie gefreut zu sehen, daß Jemand so lebensfroh, so vollkommen glücklich sein könne, als Marianne, deren gutmüthiges, offenes Wesen sie für dieselbe eingenommen hatte. Sie hatte Freude daran gefunden, Marianne, die arm war und bei entfernten Verwandten lebte, Theil nehmen zu lassen an den Zerstreuungen und Genüssen, die ihr elterliches Haus fast täglich bot. Dort hatte jener reiche Bankherr die Mittellose kennen gelernt, sich in sie verliebt und sie bald nach Clementinen’s Abreise geheirathet. Bezaubert von dem Liebreiz seiner Frau, hatte er ihr in der ersten Zeit ihrer Ehe in Allem den Willen gelassen, und Marianne hatte sich dann in ein Meer von Zerstreuungen gestürzt, die nicht ganz ohne nachtheiligen Einfluß auf sie geblieben waren. Eine Anlage zu Ziererei und Gefallsucht, die Clementine oft an ihr getadelt, hatte sich mehr ausgebildet; da sie ihrem Manne aber auf’s Innigste ergeben, und sehr glücklich mit ihrem kleinen Töchterchen war, ließ Clementine die Hoffnung nicht schwinden, die Lebenslustige werde von den Thorheiten, welche sie in dem Weltleben angenommen, zurückkommen, je mehr dasselbe ihr zur gleichgültigen Gewohnheit und das Kind ihr Freude und Beschäftigung werden würde. Sie gab sich also ohne Rückhalt dem Vergnügen hin, welches das Beisammensein mit der früheren Bekannten ihr gewährte; Marianne behauptete, außer sich vor Entzücken über die Rückkehr ihrer Clementine zu sein, und da ihre Männer durch Geschäfte sehr beansprucht, die Frauen also sich selber überlassen waren, kamen sie häufiger zusammen, als es eigentlich in Clementinen’s Absicht gelegen hatte.
Der Geheimrath hatte zwar anfangs seinen Vorsatz, keine Praxis zu übernehmen, durchaus festhalten wollen; er konnte es aber nicht durchführen, da er bald von den angesehensten Familien der Residenz in bedenklichen Fällen zu Rath gezogen wurde, und die Hülfe, die der Vornehme und Reiche forderte, dem Armen nicht versagen durfte. Dadurch machte es sich ganz anders, als er es beschlossen hatte. Eine ausgedehnte Praxis nahm ihn bald so sehr in Anspruch, daß er kaum Zeit behielt, seinen Vorlesungen an der Universität gerecht zu werden, und Clementine sah ihn also fast noch weniger, als in Heidelberg, da er sich in Berlin der Gesellschaft nicht entziehen konnte und wollte, und somit auch die wenigen freien Abendstunden besetzt waren, die sie in Heidelberg doch immer mitsammen verlebt hatten. Oft traf es sich, daß die Eheleute, die sich Morgens nur flüchtig gesprochen hatten, erst bei dem späten Mittagessen wieder zusammentrafen, welches sie bald als Gäste außer dem Hause oder mit Gästen in ihrem Hause einnahmen, und daß dann Meining, wenn er anderweit in Anspruch genommen war, seiner Frau dringend zuredete, den Abend nicht allein zu verleben, sondern das Theater oder eine Gesellschaft zu besuchen, in welcher sie sich zu unterhalten hoffen konnte.
So geschah es auch, als sie eines Mittags in kleinerm Kreise im Hause des Bankiers gegessen hatten. Die Gesellschaft war zeitig aus einander gegangen, und Marianne bat ihre Freundin, den Rest des Abends bei ihr zuzubringen, um, wie in alten guten Tagen, ein wenig von alten guten Tagen zu plaudern. Später, zum Thee, sollten die Männer zurückkehren.
Marianne hatte der Geheimräthin nie so nahe gestanden, daß diese zu einer besonders vertrauten Unterhaltung mit ihr geneigt sein konnte. Sie versprach sich deshalb von dem Abende keine wesentliche Befriedigung, willigte aber doch ein, ihn mit Marianne zu verleben, weil dieser viel daran gelegen zu sein schien. Nachdem die Männer sich entfernt hatten, zogen sich die beiden Frauen dann in ein kleineres Zimmer zurück, setzten sich behaglich nieder, und, wie immer, begann die Unterhaltung von ganz äußerlichen Dingen. Man sprach von Moden – und von Kleidung, und Marianne meinte: Mit Dir ist im Grunde nicht davon zu reden, denn Du, meine Beste! kleidest Dich wirklich wie eine Nonne! Schon als Mädchen haben Deine ewigen, dunkeln Kleider, Deine einfachen Hüte mich tödtlich gelangweilt; nun aber, wenn man Deine neue Equipage und die Diener in Eurer Livree sieht, müßte man wirklich meinen, nun werde eine Dame in strahlender Toilette daraus hervorsehen – aber nein! eine Herrenhuterin, eine barmherzige Schwester sieht heraus, mit edlen Zügen, dunkeln Augen, mit freundlicher Miene; und man erfährt verwundert, die Dame im schwarzen schlichten Kleide, die in sanfter Nachlässigkeit in den Wagenkissen lehnt, sei die junge, reiche Geheimräthin von Meining, die Frau eines unserer berühmtesten Männer, der sie unaufhörlich mit Schmuck und Putz überhäuft. Weißt Du, lieber Schatz! daß Du damit Deinem Manne zu nahe trittst? Man muß ja glauben, daß Du nicht glücklich bist, wenn Du Dich so aufgiebst. Die junge, schöne Frau eines alten Mannes, die so schmachtend aussieht und jeden Schmuck verschmäht, muß man durchaus für unglücklich halten. Aber Scherz bei Seite! bist Du denn glücklich verheirathet? Ich konnte mir gar nicht denken, daß Du Dich jemals einem so alten Manne verbinden könntest. Wie lebst Du denn eigentlich mit Deinem Manne?
Siehst Du das nicht, Marianne? sehr zufrieden. Meining ist nicht mehr jung, aber er ist so gut, so geistreich, so brav und hat mich so lieb, daß mir gar Nichts zu wünschen bleiben kann. Und in der That! jung bin ich ja auch nicht mehr; Meining ist dreiundfünfzig Jahre, aber ich bin auch schon dreißig Jahre alt, und damit ist man eben keine junge Frau.
Marianne lachte laut auf. Als ob ich jünger wäre! und doch behandelt mich mein vierunddreißigjähriger Mann ebenso wie er unsere kleine Nanny behandelt; nur daß er gern möchte, die Kleine lernte sprechen und ich schweigen. Mutter und Tochter verrathen aber wenig Anlage zu den Eigenschaften, die man ihnen wünscht. Schade überhaupt, daß Du nicht meinen Mann geheirathet hast. Er ist bezaubert von Deinem ruhigen Anstande, von Deinem verständigen, geistreichen Wesen, und als der Geheimrath neulich erzählte, daß Ihr in Heidelberg ganz wie die Einsiedler gelebt hättet, und wie häuslich Du eigentlich wärest, schien das meinem Manne der Gipfel des Glücks zu sein; während ich mir fest vornahm, Dich für die fabelhafte Langeweile zu entschädigen. Was hast Du denn eigentlich dort angefangen?
Oh! ich habe dort sehr angenehm gelebt! Besonders scheint es mir in der Erinnerung so. Freilich war ich viel allein – aber hier sehe ich Meining fast gar nicht; und wenn mich auch augenblicklich das Leben in der Gesellschaft noch unterhält, so werde ich seiner doch bald wieder müde werden und Meining vielleicht noch früher als ich. Dann beginnen wir wahrscheinlich unser stilles Leben wieder, und Du kannst dann selber sehen kommen, wie wir’s eben treiben.
Um Alles nicht! lieber Engel, damit bleibe mir fern. Sage mir nur in aller Welt, was Du solch einen langen Tag hindurch beginnst? Ich stürbe bei dem bloßen Gedanken an solche einsame Glückseligkeit.
Ich habe gelesen, liebste Marianne! Habe selbst den Haushalt besorgt, Mariens Kinder unterrichtet, und damit ist mir die Zeit vergangen. Ich bin ja immer gern zu Hause gewesen.
Marianne lächelte, sah der Freundin fest in’s Auge und sagte mit schmeichelnder Stimme: Erlauben Sie, gnädige Frau! daß ich an allen Ihren Worten zweifle. Mir ist es vorgekommen, als hätten Dero Gestrengen, was man so nennt, eine unglückliche Liebe gehabt, und als hätten Sie sich nachher aus – nun aus dépit amoureux verheirathet.
Sie hielt plötzlich inne, da sie sah, daß die Geheimräthin die Farbe wechselte und ihr die Antwort schuldig blieb, wie man sie einem zudringlichen Kinde weigert; und als könne sie eine Ungeschicktheit durch die zweite vergessen machen, rief sie: Ich schwöre Dir, ich habe es in der That geglaubt, als ich Dich kennen lernte, aber ich habe nie gewagt, Dich damals darum zu befragen. Nur Frau Thalberg bin ich, ehe sie Berlin verließ, einmal deshalb angegangen, weil Du mit ihr früher so bekannt warst, und sie sagte mir, sie hätte nie davon gehört. So wollte ich Dich’s heute einmal selber fragen, und da wirst Du böse! Wie ist das nur möglich, bei einer lange abgethanen Sache. Ich hab’ es ja nicht bös’ gemeint! Es war im Grunde nur ein Scherz – ein Zeitvertreib! –
Ich weiß, ich weiß das! entgegnete Clementine, die ihrer Aufwallung schnell wieder Meister geworden und bemüht war, der peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen. Sie bat darauf, man möge ihr die kleine Nanny holen lassen, und in dem Tändeln mit dem Kinde verging die Zeit bis zu der Männer Rückkehr. Der Geheimrath aber fand seine Frau verstimmt; sie klagte über Ermüdung und man brach früher als gewöhnlich auf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clementine