Neuntes Capitel. - Thiergarten, Kupferstich, Promenade, Obrist, Süpha, Buch der Lieder von Heine, Schwermuth, Elenore Prohaska, das Mädchen von Saragossa, Kosmopoliten, Weltfreiheitsideen, Emancipation.

Am nächsten Morgen hatte Clementine eben ihren Wagen zu einer Fahrt in den Thiergarten vorfahren lassen, als man ihr Thalberg anmeldete. Sie empfing ihn, und er entschuldigte sich, daß er den Kupferstich selbst bringe; er habe sich aber das Vergnügen, sie zu sehen, nicht versagen können. Doch wolle er sie von ihrer Promenade nicht abhalten und bäte um die Erlaubniß, sie zu ihrem Wagen führen zu dürfen. So geschah es. Während sie die Treppe hinunterstiegen, überlegte Clementine, was sie nun eigentlich thun solle. Jeden Andern hätte sie augenblicklich aufgefordert, den Abend in ihrem Hause zuzubringen, und Thalberg darum zu bitten, konnte sie sich nicht überwinden. Was würde aber Meining dazu sagen, wenn sie ihm erzählte, wie flüchtig sie Thalberg abgefertigt hätte, und was würde dieser selbst von ihr denken? So entschloß sie sich, ihn für den Abend einzuladen, und er sagte freudig zu.
Am Mittage erzählte sie dem Geheimrath von dem Besuch und von ihrer Einladung, der sich derselben freute und hinzufügte, er habe den Obrist B. und den Maler R., die er zufällig gesprochen, zu einer Partie bei sich geladen. Wir machen dann ruhig unser Spiel, sagte er, und Du mußt Deinen Gast, da er nicht spielt, selbst unterhalten, bis zum Abendessen.
So waren denn, als die drei Herren sich zum Spiele gesetzt hatten, Robert und Clementine allein an ihrem Theetische, und sie fühlte eine fast mädchenhafte Scheu, als sie nun nach langjähriger Trennung, zum ersten Mal mit dem geliebten Manne, der ihr ein Fremder sein mußte, sich allein befand, allein in jenen Zimmern, in denen sie so oft in glücklicher Unbefangenheit und im Gefühl der wärmsten Liebe beisammen gewesen waren. Nun war das Alles anders. – Ihre Befangenheit entging dem scharfen Auge Thalberg’s nicht, dessen Blicke an ihr hingen, denn auch er war von lebhaften Erinnerungen bewegt. Dadurch wollte anfangs kein rechtes Gespräch in den Gang kommen, und Thalberg blätterte in halber Zerstreutheit in einem Buche, das zufällig auf dem Sopha lag. Es war das Buch der Lieder von Heine, auf dessen Schriften sich nun die Unterhaltung wandte.
Lieben Sie Heine noch so als früher? fragte Robert, ich weiß, daß Sie von den ersten Heine’schen Gedichten, die Sie kennen lernten, sehr entzückt waren; und wie mir dies Buch beweist, dauert diese Vorliebe fort.
Nicht so unbedingt als Sie glauben, entgegnete sie. Ich bekenne, daß mich Vieles in den Liedern, die ich damals einzeln kennen lernte, lebhaft ergriff und anzog. Daß der Schmerz über eine verschmähte Liebe, dessen er sich schämt, sich in wilder Ironie verbirgt, das fand ich bei einem Manne eben so wahr als ergreifend, daß er aber später Nichts mehr schont, selbst nicht diese Liebe, nicht die Sitte, nicht sich selbst, das hat ihn mir verleidet.
Ja freilich, für den Gebrauch der Jugend hat er nicht geschrieben! bemerkte Robert, und ein spottender Zug wurde um seinen Mund sichtbar. Aber wüßten Sie, meine gnädige Frau, wie gewaltsam uns Männer das Leben enttäuscht, wie es oft grausam und unerbittlich die letzten Bande, die uns an unsere Kindheits- und Jugendwelt fesselten, zerreißt; wie es uns Alles raubt, Glück, Poesie und Glauben – Sie würden Heine vielleicht anders beurtheilen.
Vielleicht! antwortete sie, aber ich müßte den Dichter beklagen, der so sehr an sich und der Menschheit irre werden konnte, daß er die Leidenschaft nur in ihren Tiefen aufsucht, wo sie der Unschönheit längst zum Raube geworden ist und dem reinen Gefühl einen Schauder des Entsetzens einflößt. Wenn ich von mir auf andere Frauen schließen kann, muß Heine’s Zerrissenheit ....
Also auch Sie, auch Sie sprechen es nach, Heine ist zerrissen! O! das klingt sehr groß, sehr vornehm. Aber wer ist denn ganz? – etwa die Leute, die in enger, dumpfer Beschränkung zwischen denselben vier Pfählen Wiege und Sarg haben? die aus Mangel an Temperament, aus Mangel an Leben keinen Reiz des Lebens, keine Verlockung der Sünde empfinden? Die Leute, die den heißesten Wunsch des Herzens, das einzige Glück ihres Daseins feige aufgeben, weil es gegen ein gemachtes, bürgerliches Gesetz anstößt? Die Leute also sind ganz, die sollen Heine beurtheilen? Glauben Sie mir, gnädige Frau! wer ein ganzer Mensch ist, ganz an Körper und Seele, von dieser in den Himmel gehoben, von jenem an die Erde gekettet, doppelt in seinen Wünschen und Bedürfnissen, auf der Erde ohne das ersehnte Glück, für den Himmel nichts als eine unbestimmte Hoffnung – wer sich da von dem zwiefachen Getriebe nicht zerreißen läßt, wer sich nicht blutig stößt an den Barrieren und Hecken bürgerlicher und göttlicher Gesetze – der ist kein Mensch, der müßte ein Gott sein.
Robert war, während er sprach, immer lebhafter geworden, und Clementine sah ihn in einer von jenen leidenschaftlichen Aufregungen, die sie so wohl kannte, und denen bei ihm nur zu leicht ein Anfall tiefer Schwermuth folgte, wenn sie nicht durch Unterhaltung verbannt wurde. In solchen Augenblicken hatte sich früher oft ihr Einfluß auf sein Gemüth geltend gemacht, deshalb begann sie auch jetzt nach einer Pause, in der Robert in tiefes Denken versunken war: Nun wohl denn mir, daß ich kein Mann bin, daß mich das Leben nicht so hart enttäuscht hat, und daß mir mein bestimmter Weg vorgezeichnet ist.
Und haben Sie diesen Weg nie schwer, nie rauh gefunden? haben Sie nie die Neigung gehabt, von diesem vorgeschriebenen Wege abzuweichen? Ist er Ihnen nie unbequem geworden?
Niemals! – als Kind hätte ich es aus Furcht vor Vater und Tante nicht gethan; später hätte ich mich vor meinen Gefährten geschämt, und dann ist mir das eigne Gefühl ein guter Compaß geworden, dessen Nadel mir immer wieder den rechten Weg zeigte und nach Norden wies.
Ja! nach Norden, sagte Thalberg, nach dem Norden der kalten Vernunft, in dem das heiße Blut erstarrt. Aber Sie erwähnten Ihrer Tante, sagte er plötzlich abbrechend, wie geht es Frau von Alven und wo lebt sie jetzt?
Damit war die Unterhaltung über Heine beendet und ging zu gleichgültigen Dingen über, obgleich auch bei diesen ein Wiederhall der Erregung bemerkbar blieb, die Robert’s Seele bewegte. Endlich hörten die Herren zu spielen auf, man ging zu Tisch und sprach während der Mahlzeit unter Anderm auch bald wieder über die politischen Ereignisse des Tages. Robert sprach seine freisinnigen Meinungen unumwunden aus, und schien dabei verwundert, daß Clementine, die in früher Jugend wie eine gelehrige Schülerin all’ seine Ansichten getheilt, sich jetzt mehr dem Bestehenden und Hergebrachten zugewendet hatte. Mich dünkt, sagte er, Sie hätten einst mit viel größerer Theilnahme den bewegenden Ideen unsrer Zeit gehuldigt, und ich hätte Sie begeistert gesehen, als die Julitage uns eine neue Aera zu verkünden schienen. Was hat Sie denn unsrer Fahne abwendig gemacht?
Und wer sagt Ihnen, daß mich die große Idee der Freiheit nicht noch eben so erwärmt, daß ich den Enthusiasmus der Männer dafür nicht begreife? antwortete sie. Damals glaubte ich aber, auch für uns Frauen sei die Freiheit, nach der die Männer streben, ebenfalls ein unerläßliches Gut, und nur von diesem Glauben bin ich zurückgekommen.
Sehr mit Unrecht, gnädige Frau! sagte der Maler. Warum sollen die Frauen, in denen wir ein Ideal verehren, nicht mit uns fühlen und mit uns Theil haben an den höchsten Schätzen, nach denen wir streben? Warum sollte ein Geschlecht, dem Eleonore Prohaska und das Mädchen von Saragossa angehörten, nicht eben so lebhaft den Sinn für Freiheit und Vaterland haben als wir?
Für ein Vaterland, wandte Thalberg leichthin ein, haben die Frauen allerdings oftmals keinen Sinn, und sie können ihn im Grunde auch nicht haben. Ihre Heimath wird ihnen durch die Ehe zugewiesen, ihr Vaterland giebt ihnen ihr Mann. Würden Sie es Ihrer Frau, falls sie eine Französin oder Engländerin wäre, nicht sehr verargen, wenn sie nicht mit Ihnen von Herz und Seele eine Deutsche würde? Und so sind die Frauen eigentlich geborne Kosmopoliten, die nur für eine allgemeine Freiheit, für eine Freiheit in abstracto Interesse haben können, fügte er lächelnd hinzu.
Wie sieht es denn nun mit Ihren Weltfreiheitsideen aus, gnädige Frau? fragte sie der Obrist.
Ich sage Ihnen ja, antwortete die Geheimräthin, daß ich die liberalen Gesinnungen der Männer vollkommen begreife und achte, daß ich selbst aber eine gewaltige Aristokratin bin, und ich glaube, im Herzen sind wir Frauen es alle. Wir sind nicht gewöhnt, uns in die Menge zu verlieren; wir stehen abgesondert für uns und lassen uns von den Männern, denen wir, sobald wir sie lieben, ein ganz apartes Adelsdiplom zuerkennen, gern als treue Vasallen huldigen. Oder noch lieber beten wir den König unsres Herzens mit tiefster Demuth an, der uns viel mehr untheilbar ist, als es den Franzosen jemals ihre Republik gewesen.
Alle lachten, und Meining sagte: Das sind auch die besten Grundsätze für Euch, denn Politik und Liberalismus kleiden die Frauen nicht. Ich kannte selbst eine geistreiche Frau, die treue Freundin eines Mannes, der Deutschland die Freiheit predigte, bis sie ihn auf dem Montmartre begruben; und so angenehm ich sie sonst immer fand, so unerquicklich schien sie mir, wenn sie jene Ideen von Freiheit aussprach, die im Munde ihres Freundes groß und würdig klangen.
Darin stimme ich Ihnen bei, Herr Geheimrath! fuhr Thalberg fort, ja ich glaube sogar, daß die wahre Stellung des Weibes eine abhängige sein muß. Ich wünsche nur, daß sie von dem freien Manne abhänge, der in ihr den Menschen achtet. Unsre Liebe ist ihre Freiheit, die ihnen allen Schutz und alle Rechte zuerkennt, deren sie bedürfen. Sie müssen mit uns den Gedanken der Freiheit theilen, ohne sie selbst zu begehren, weil für sie dieselbe ein Unding ist.
Im Ganzen, bemerkte der Maler, als Clementine ihre volle Zustimmung zu Thalberg’s Aeußerung gab, werden nicht alle Frauen dieser Meinung sein; denn, wenn sie auch die freie Frau der St. Simonisten empörend finden, so ließen sie sich doch nur zu gern ein bischen emancipiren, und ich für meinen Theil wollte Nichts dagegen haben, wenn man mir einige recht schöne junge Mädchen als Schüler und Collegen zuertheilen wollte.
Wenn es so weit ist, meinte der Geheimrath, lasse ich mir meine Frau zum Assistenten ernennen!
Und glaubst Du, Lieber, daß ich dazu nicht vortrefflich wäre? Glaubst Du, wenn man mich von Jugend auf in all’ den Wissenschaften unterrichtet hätte, mit denen man die jungen Leute so früh bekannt macht, ich hätte das nicht auch erlernen können? fragte Clementine.
Im Gegentheil; ich bin überzeugt, Du wärest der niedlichste Professor im Mousselinkleide geworden und würdest die interessantesten Vorträge gehalten haben. In Fällen, in denen psychische Leiden der Krankheit zu Grunde liegen, würde so ein feiner, weiblicher Medikus mit seiner liebenswürdigen Neugier vielleicht schneller die Quelle des Uebels errathen, als wir Männer; denn eine gewisse Art von Scharfsicht besitzen die Frauen gewiß in höherm Grade als wir: ich meine die Scharfsicht des Herzens, die wirklich sehr groß bei ihnen ist.
Nun denn in Gottes Namen losmarschirt auf die Emancipation der Frauen, sagte der alte Obrist, denn in mein Fach pfuschen die schönen Hände nicht hinein; aber ich möchte grade von Ihnen, meine Gnädige! die Sie eine sanfte und kluge Frau sind, es einmal erfahren, was Sie sich von der Emancipation der Frauen denken, und wie Sie sich dieselbe in der Ausführung wohl vorstellen.
O! versetzte Clementine, ich habe überhaupt nicht viel daran gedacht, weil ich sie, meinem ganzen Wesen nach, für mich nie begehrenswerth fand. Emancipirt wird das Weib, wie Herr Thalberg sehr wahr bemerkte, durch die Liebe und in der Ehe. Da soll sie gleiche, oft schwerere Pflichten haben, als ihr Mann; aber auch gleiches oder wenigstens ähnliches Recht. Man soll sie nicht gewaltsam niederhalten und ihr nicht unnöthig Leid aufbürden, das sie nicht tragen kann, ohne zu unterliegen. Unsre Freiheit liegt in uns; wir müssen Herr sein über uns selbst, sonst über Niemand – und so denke ich, Alles, was die sogenannte Emancipation bezwecken könnte, wäre, eine Erziehung zu befördern, die uns für unsern Beruf tüchtiger machte.
Also gleiches Recht vor Gericht und dergleichen schöne Dinge begehren Sie nicht? fragte der Obrist.
Das mag vielleicht in manchen Fällen von Nutzen sein, die ich augenblicklich nicht durchdenken kann. Es aber als Schutz gegen die Seinen zu benutzen, gegen Brüder, Väter oder gegen den eigenen Mann, das scheint mir ein so trauriges Recht, wie die Trennung einer Ehe, die, obgleich ich eine gute Protestantin bin, in meinen Augen ein Sakrament und unauflöslich ist.
Und so verdammen Sie Jeden, wandte der Maler ein, der sich scheiden läßt, weil er vielleicht das Leben mit dem Gatten oder der Frau nicht mehr ertragen konnte? weil Laster und Verderbtheit des einen Theils, oder auch nur ganz verschiedene Gesinnungen das Zusammenbleiben zu einem Unheil machen und ein Glück untergruben, das in einer neuen Ehe auf das Schönste für zwei Menschen erblühen könnte?
Verdammen kann ich Niemand, sagte Clementine bewegt, nur das weiß ich bestimmt, daß ich lieber sterben möchte, als mein Wort brechen, und daß ich die Möglichkeit, wie eine Frau zur zweiten Ehe schreiten könne, nicht begreife.
Mit den Worten hob sie die Tafel auf. Meining küßte sie, trotz der Anwesenheit der Fremden, auf die Stirne; sie machte sich aber eilig von seinem Arme los, ging mit Thalberg, der zuletzt gar keinen Antheil mehr an der Unterhaltung genommen hatte, voran in den Salon, und man trennte sich dann bald darauf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clementine