Vorwort des Herausgebers

Es ist meinem teuren Vater nicht vergönnt gewesen die Geschichte seiner Vaterstadt, das letzte Werk seines arbeitsreichen Lebens, im Drucke vollendet zu sehen. Mir, als seinem einzigen Sohne, ist es zugefallen dieses Buch abzuschließen und der Öffentlichkeit zu übergeben.

Indem ich dieser Pflicht mich entledige, will ich versuchen dem Leser dieses Buches in kurzen Umrissen ein Bild von dem Leben und Wesen meines Vaters zu entwerfen. Wohl hat der Verstorbene selbst dafür gesorgt, dass bei den Mitlebenden sein Andenken ein unvergessenes sein wird, und auch noch später werden Gelehrte, die in Verfolgung gleicher wissenschaftlicher Interessen seine Arbeiten lesen, seine große kritische Begabung zu schätzen und zu ehren wissen. So kann ich sein menschliches Andenken denen, die ihn gekannt, sein wissenschaftliches der Würdigung auch einer späteren Zeit getrost überlassen. Nur das will ich in diesen dem Andenken meines Vaters gewidmeten Zeilen schildern, was Wenige wissen können, wie der Lauf seines Lebens und wie die Entwicklung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen war, die seiner ganzen Persönlichkeit ein so bestimmendes Gepräge aufdrückten.


Franz Christian Boll war am 17. Oktober 1805 zu Neubrandenburg geboren, wo sein gleichnamiger Vater die Stelle eines Predigers an der Marienkirche bekleidete. Dieser erlag im kräftigsten Mannesalter der Typhusepidemie von 1818: die allgemeine Liebe und Achtung, die er genoss, bezeugt das ihm von der Bürgerschaft errichtete Denkmal. Seine Witwe Friederike (geb. Brückner) überlebte ihn um 21 Jahre (sie starb erst 1839), und hatte noch die Freude, ihren Sohn zum Prediger in seiner Vaterstadt erwählt zu sehen.

Mein Vater war das älteste Kind seiner Eltern und hatte außer seinem um 12 Jahre jüngeren Bruder Ernst weiter keine Geschwister. Er erhielt seinen Schulunterricht auf dem Neubrandenburger Gymnasium, welches er im Herbst 1824 verließ, um nach dem Wunsche der Mutter Theologie zu studieren. Zu diesem Zwecke besuchte er nach einander die Universitäten Berlin, Halle und Rostock, auf denen er je ein Jahr verweilte. Nach beendigten Studienjahren und bestandenen Examen unterrichtete er eine Zeit lang als Hauslehrer auf den Gütern Leizen und Dambeck in Mecklenburg-Schwerin. Eine feste Anstellung erhielt er 1866 in seiner Vaterstadt als Prediger am St. Johannis. Von diesem Jahre ab hat er — einige sommerliche Reisen ins Seebad abgerechnet — seine Heimatstadt nicht mehr auf längere Zeit verlassen.

Nach dem Tode seiner Mutter begründete er durch seine Verheiratung im Jahre 1841 einen eigenen Hausstand. In seiner Familie fand im Jahre 1844 sein einziger innigst geliebter Bruder Ernst Aufnahme, der seiner Kränklichkeit wegen auf eine selbstständige Haushaltung verzichten musste. Von dieser Zeit an haben die beiden Brüder ohne nennenswerte Unterbrechungen stets beisammen und mit einander gelebt, bis im Jahre 1868 der Tod des jüngeren die fast vollständige Gemeinsamkeit ihres Daseins aufhob. Der Nekrolog, in dem mein Vater seinem Bruder, einem durch seine geologischen Arbeiten auch in weiteren Kreisen bekannten Gelehrten, ein schönes Denkmal gesetzt hat, bezeugt auf jeder Seite das zwischen beiden Brüdern bestandene innige Verhältnis.

Die Amtstätigkeit meines Vaters, die sich im Ganzen über 39 Jahre erstreckte, zerfällt in zwei der Zeit nach ungleiche Abschnitte. In den ersten 31 Jahren versah er außer dem Predigtamt auch noch die damit verbundene Stelle eines ersten Lehrers an der Bürgerschule, in welcher Eigenschaft er eine nicht unerhebliche Anzahl von öffentlichen Unterrichtsstunden zu geben hatte. Seine Tätigkeit war also in dieser ganzen Zeit, in welcher er sowohl Predigtamt wie Schulunterricht zu besorgen hatte, eine ungewöhnlich angestrengte. Dennoch wusste er die Zeit dafür zu finden, seine vier Kinder, die er weder Privatlehrern, noch einer öffentlichen Schule anvertrauen mochte, selbst zu unterrichten. Eben in diese, wie man denken sollte, durch Arbeit bereits völlig überlastete Zeit fällt das eigentliche Schwergewicht seiner gelehrten Tätigkeit. Seine erstaunliche Arbeitskraft vermochte neben diesen doppelten amtlichen Pflichten und dem Unterricht seiner Kinder auch noch die ausgedehntesten historischen Studien ohne Beschwerde zu überwältigen. Allerdings nutzte er jeden Augenblick und entsinne ich mich nicht, ihn jemals eigentlich untätig gesehen zu haben. Er stand stets sehr zeitig auf, um die frühen Morgenstunden zu seinen Studien zu benutzen. Die besten Stunden des Tages nahm seine Lehrtätigkeit in Anspruch; nachdem diese beendigt, wandte er sich wieder seinen wissenschaftlichen Forschungen zu: ihm war Erholung, was anderen Arbeit gewesen wäre.

Erst im Jahre 1867 entschloss er sich in Folge einer längeren Krankheit (Typhus), den Schulunterricht durch einen Stellvertreter erteilen zu lassen. Es blieb ihm also allein sein Predigtamt, dessen Pflichten, da die Gemeinde eine außergewöhnlich kleine war, nur wenig von seiner Zeit in Anspruch nahmen. Leider war in diesen letzten Jahren seine Gesundheit nicht die beste. Er war ursprünglich von sehr kräftiger Konstitution und früher niemals eigentlich krank gewesen; doch blieben nach dem überstandenen Typhus verschiedene Leiden und Schwächen zurück, die seine Konstitution immer mehr untergruben. Die gelehrte Arbeit, die ihm früher ein Spiel gewesen war, griff jetzt seine Kräfte an und ermüdete ihn. Auch klagte er, dass sein Gedächtnis abnehme, und dass er jetzt so viele Zitate erst mühsam nachschlagen und aufsuchen müsse, die er früher alle im Kopfe bereit gehabt habe. So ist es gekommen, dass dieser zweite Zeitraum seiner Amtstätigkeit, der für seine wissenschaftlichen Arbeiten ihm ungleich günstigere Bedingungen bot, doch in Bezug aus wissenschaftliche Leistung entschieden hinter dem ersten zurücksteht, ja dass in seinen letzten Lebensjahren seine Studien selbst zeitweise gänzlich ruhten. Mit der Abnahme der Kräfte, die Alter und Kränklichkeit herbeiführten, war ihm, wie er oft klagte, auch die Lust an der Arbeit und damit Lebensmut und Lebensfreude geschwunden. Der geschwächte Körper vermochte den immer zunehmenden Leiden nur einen stets abnehmenden Widerstand entgegenzusetzen. Mein Vater starb in seinem noch nicht vollendeten 70. Lebensjahre am 20. März 1875, und ist von allen, die ihn kannten, im Leben geliebt und geschätzt, im Tode aufrichtig betrauert worden.

In diesem engen und bescheidenen Rahmen eines echten deutschen Gelehrtenlebens hat mein Vater eine sehr ausgedehnte wissenschaftliche Tätigkeit entfaltet, von der ich in Folgendem ein Bild zu geben versuchen will. Eine besondere Schilderung seiner gelehrten Tätigkeit ist deshalb notwendig, weil mein Vater durchaus nicht, wie die Mehrzahl der Gelehrten, allein nach Maßgabe der von ihm veröffentlichten Arbeiten beurteilt werden kann. Eine solche Beurteilung würde seinem eigenartigen Gelehrtencharakter entschieden nicht gerecht werden und um ein Beträchtliches hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.

Mein Vater war, wie im Leben überhaupt, so noch viel mehr in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, ein Feind jeder Schaustellung und persönlich von der zurückhaltendsten Bescheidenheit. Bei allen seinen Studien arbeitete er zunächst ganz für sich selber und kannte er weiter keinen anderen Zweck, als die Vertiefung der eigenen Erkenntnis und die Ermittlung der objektiven Wahrheit. Die Resultate seiner Studien schrieb er dann auch nieder, zunächst aber nur für sich selber, um durch die schriftliche Darstellung selbst zu größerer Klarheit zu gelangen, und ohne dabei an eine Veröffentlichung oder an ein Publikum zu denken. Wenn er etwas veröffentlichte, so geschah dies nur nachdem er die Forschung völlig abgeschlossen glaubte und mit dem Gegenstande ganz im Reinen war. Aber auch dann bedurfte es fast stets noch irgend einer ganz besonderen Veranlassung, eines äußeren Motives oder des energischsten Zuredens von Seiten seines Bruders oder anderer Freunde, um ihn zur Veröffentlichung seiner Resultate zu bewegen. Bei ihm erlosch das Interesse für die behandelten Fragen schnell, sobald er seine kritische Lust an ihnen gestillt hatte. Die spätere Arbeit des Niederschreibens und der Darstellung war ihm eher lästig. Andrerseits fehlte seiner sicher und fest in sich gegründeten Natur völlig der Sporn des äußeren Ehrgeizes, der ihn sonst wohl zur Veröffentlichung seiner Arbeiten angetrieben hätte. Literarische Berühmtheit, Lob oder Tadel Anderer waren ihm völlig gleichgültig, da seine Arbeiten allein aus dem starken und keine anderen Nebenrücksichten kennenden Drang nach objektiver Wahrheit hervorgegangen waren und zunächst nur zur Befriedigung seines eigenen Erkenntnistriebes unternommen wurden. Das beste Beispiel für diese Eigentümlichkeit meines Vaters liefert die Geschichte dieser Neubrandenburger Chronik, die seit den 60er Jahren fertig in seinem Pulte lagerte, und die er erst nach langem Zögern zu veröffentlichen sich entschloss. Bei seinem Prinzip, stets nur die allerreifsten Früchte zu geben und auch mit diesen noch oft genug zurückzuhalten, würde es nicht gerecht sein seine wissenschaftliche Tätigkeit allein nach dem zu beurteilen, was er veröffentlicht hat. Man muss vielmehr wissen, dass dieses eben nur die kleinere Hälfte des wirklich Geleisteten darstellt.

Die gelehrte Tätigkeit meines Vaters behandelt zwei strenge von einander geschiedene Gebiete, das der Mecklenburgischen Geschichte und Altertumskunde und das der ältesten Geschichte des Christentums. Aus dem Gebiete der ersteren hat er — trotz seiner Scheu vor dem Schriftstellern — nach und nach doch eine größere Reihe von Arbeiten dem Drucke übergeben. Von seiner Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Theologie legen jedoch nur einige wenige gedruckte Abhandlungen Zeugnis ab. Eine Reihe größerer Arbeiten ist z. Z. noch ungedruckt.

Der Zeit nach älter ist die Beschäftigung meines Vaters mit der Mecklenburgischen Geschichte. Mein Vater war durch und durch ein echter Mecklenburger und hing mit der ganzen unserem Stamme eigenen Zähigkeit an seiner Heimat. Mit welcher Innigkeit er seine schöne Vaterstadt liebte, davon legt die von ihm in seinen letzten Lebensjahren geschriebene Einleitung zur Neubrandenburger Chronik ein rührend beredtes Zeugnis ab. So erklärt es sich leicht, dass die starke historisch-kritische Neigung, die ihm angeboren war, an der Landesgeschichte ihre erste Nahrung fand und dass die erste von ihm veröffentlichte Arbeit (1828) ein ihr angehöriges Thema behandelt. Besonders anziehend waren für ihn die ältesten Jahrhunderte unserer Geschichte, die zu der Zeit, als er seine Studien begann, noch in ein tiefes Dunkel gehüllt waren. Doch eben dieser absolute Mangel einer genaueren historischen Kenntnis weckte und reizte seine große kritische Anlage. Nach jahrelangen und mühsamen archivalischen Studien erschien im Jahre 1846 sein historisches Hauptwerk, "Die Geschichte des Landes Stargard bis zum Jahre 1471". An dieses Werk schlossen sich in den nächsten Jahren noch weitere Detailuntersuchungen aus dem Bereich der mecklenburgischen Altertumskunde und älteren Geschichte, sowie auch Abhandlungen zur historischen Kenntnis der von ihm sehr geliebten und genau gekannten plattdeutschen Sprache.

Auf der Höhe seines Lebens mussten jedoch diese Studien entschieden zurücktreten gegen die Beschäftigung mit der ältesten Geschichte des Christentums, die ihm zunächst neben den Arbeiten zur mecklenburgischen Geschichte und später lange Jahre hindurch fast ausschließlich in Anspruch genommen hat. Ich kann diese seine Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Theologie nicht aus eine in den Universitätsjahren von irgend einem seiner akademischen Lehrer empfangene Anregung zurückführen. Von diesen scheint außer Schleiermacher, dessen Vorlesungen er sehr fleißig und gerne besuchte, Niemand einen direkten Einfluss auf ihn ausgeübt zu haben, und gerade vor den historisch-kritischen Leistungen dieses im Übrigen von ihm hochverehrten Mannes bezeigte mein Vater — in den Jahren wenigstens, in denen er sich gegen mich über diese Dinge aussprach — nur geringe Achtung. Ich muss danach vielmehr annehmen, dass mein Vater erst aus dem Umwege durch die Landesgeschichte zu der Geschichte des Christentums gelangt ist und erst später versucht hat, die an der ersteren erprobte und gestählte kritische Methode auch auf die letztere anzuwenden.

Schon in die ersten Jahre seiner Amtstätigkeit fällt die Beschäftigung mit den Kirchenvätern, die er sämtlich gelesen und von denen er nach und nach eine vollständige Bibliothek zusammengebracht hat. Unter ihnen war der am meisten gelesene und am höchsten geschätzte Origenes, von dessen eminenter kritischer Kunst mein Vater nie ohne die höchste Bewunderung sprach. Aus den ersten 40er Jahren stammen die drei von ihm veröffentlichten theologischen Abhandlungen, die sich alle mit der kritischen Beleuchtung einiger Probleme aus der Geschichte der Kirchenväter beschäftigen. Die letzte von ihnen datiert aus dem Jahre 1842 und seitdem ist mein Vater nicht mehr als Schriftsteller in der wissenschaftlichen Theologie ausgetreten. Trotzdem hat ihn diese die letzten zwanzig Jahre seines Lebens hindurch fast ausschließlich beschäftigt und die Arbeit aus dem Felde der Mecklenburgischen Landesgeschichte fast völlig in den Hintergrund gedrängt; wenigstens ist es nachzuweisen, dass auch die von ihm erst in späteren Jahren veröffentlichten Abhandlungen über landesgeschichtliche Gegenstände fast alle schon ihrer eigentlichen Entstehung nach in jene Zeiten zurückgreisen, in denen die Untersuchung der Urgeschichte des Christentums noch nicht sein ganzes Denken in Anspruch genommen hatte.

Nachdem er den ungeheuren Stoff der Kirchenväter und der an sie sich anschließenden kritisch-historischen Literatur völlig bemeistert, ging mein Vater dazu über, den Büchern des Neuen Testaments ein gleiches methodisches Studium zu widmen. Auch auf diesem Felde der Textkritik und Erklärung des Neuen Testaments brachte er eine Bibliothek zusammen, die wohl aus Vollständigkeit Anspruch machen darf. Er erlernte noch nach bereits zurückgelegtem 50. Jahre die englische Sprache, um die Werke auch der englischen Kritiker, z. B. Middletons nicht von seinen Studien ausschließen zu müssen und (wie er wohl zu sagen pflegte) um des Genusses willen, die kirchengeschichtlichen Abschnitte in dem von ihm sehr bewunderten großen Geschichtswerk von Gibbon im Original lesen zu können. Mit dem regsten Eifer verfolgte er auch die bedeutenderen neuen literarischen Erscheinungen, die ihm die tiefere Erkenntnis des Neuen Testamentes zu fördern versprachen: Noch entsinne ich mich lebhaft der Ungeduld, mit welcher er dem Erscheinen (1863) des von Tischendorf entdeckten ältesten Sinaitischen Bibelkodex entgegensah, und des Feuereifers, mit dem er sofort daran ging, ihn besonders interessierende Stellen des neutestamentlichen Textes in dem eben angekommenen Exemplare zu kollationieren.

Wenn von den Resultaten dieser durch lange Jahre hindurch ausgedehnten, mit der hingebendsten Begeisterung und einer hervorragenden kritischen Begabung unternommenen Arbeit bisher Nichts das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, so ist der Grund davon, glaube ich, nicht darin zu suchen, dass mein Vater sich vor etwaigen Konflikten gefürchtet hätte, die ihm vielleicht aus dem Gegensätze hätten erwachsen können, in welchem seine Untersuchungen über die Bücher des Neuen Testamentes zu den in der Theologie augenblicklich herrschenden Anschauungen sich befanden. Denn mein Vater kannte in diesen Dingen keine Furcht und ist stets unbeirrt für seine wissenschaftlichen Überzeugungen auch persönlich eingetreten, so oft die Gelegenheit dazu an ihn herantrat. Den Grund, weshalb er nichts von diesen Untersuchungen veröffentlicht hat, finde ich vielmehr in jener Eigentümlichkeit seines Charakters, die ich oben schon berührt habe, dass nämlich in ihm das Interesse an der Arbeit selbst ein ungewöhnlich starkes, der Trieb zur eigentlichen schriftstellerischen Tätigkeit und noch mehr zur Veröffentlichung ein ungewöhnlich schwacher war. In den letzten Jahren seines Lebens trat diese Eigentümlichkeit immer stärker hervor; auch war es, als ob seine von jeher durchaus selbstständige und keine fremde Einwirkung duldende Natur sich mit den zunehmenden Jahren immer mehr konzentrieren und gegen äußern Einfluss abschließen wollte. Indem ihm eigene Arbeit und eigene Kraft von Jahr zu Jahr das Objekt der Untersuchung klarer und erkenntlicher zu Tage förderten, wuchs seine Gleichgültigkeit gegen fremdes Urteil immer mehr und mehr. Schon in seinen jüngeren Jahren hatte er den eigentlichen literarischen Ehrgeiz nicht gekannt; in seinen späteren Jahren erlosch ihm sogar das letzte schwache Abbild dieses Gefühls, das Interesse zu erfahren, welche Ausnahme seine Resultate im Kreise seiner Fachgenossen finden würden. Er war sich bewusst, das wissenschaftliche Material über die Ansänge des Christentums vollständiger gesammelt zu haben als irgend ein anderer Gelehrter; der Stärke seiner großen kritischen Begabung konnte er vertrauen, die ihn nie im Stiche gelassen hatte so oft es galt, einen Irrtum früherer Ausleger zu widerlegen oder eine seinen Vorgängern entgangene Beziehung aufzudecken; Jahre lang hatte er den mächtigen Stoß immer und immer wieder durchdacht und war durch vielfache Irrtümer zu einer letzten größten Wahrscheinlichkeit durchgedrungen, die ihm die Züge der Wahrheit zu tragen schien: Was konnte ihm, der dieses getan, und dieses errungen, dann noch das Lob oder der Tadel Anderer bedeuten? Er wusste selbst am Besten, wie reich er war, und es konnte ihm gleichgültig sein, wie ihn die Anderen schätzten.

Nachdem er nun selbst zu der ersehnten Klarheit durchgedrungen war, schickte er sich an, die Resultate seiner Untersuchungen niederzuschreiben, zunächst, wie bei allen seinen Arbeiten, um für sich selber das Material der Untersuchung übersichtlicher zu gestalten. Er hatte den Stoß in vier große Hauptabschnitte geteilt, von denen der erste die vier Evangelien, der zweite die Apostelgeschichte und die Paulinischen Briefe, der dritte die katholischen Briefe und im Anschluss an sie die Schriften der apostolischen Väter, der vierte die Offenbarung Johannis behandelte. Bei jedem dieser aus dem ersten Jahrhundert des Christentums uns aufbehaltenen Werke wurden zunächst der Verfasser, die Zeit der Entstehung und die bei der Abfassung in Betracht kommenden Umstände und Absichten, zu ermitteln gesucht, dann der tatsächliche Inhalt kritisch geprüft und überall — soweit dies möglich war — der wirkliche historische Sachverhalt des ersten Jahrhunderts christlicher Geschichte hergestellt. So wuchs aus der Bearbeitung der vier Evangelien ein Leben Jesu, aus der Arbeit über Paulus eine Geschichte der Ausbreitung des Christentums naturgemäß heraus.

Von diesen vier größeren Arbeiten ist nur eine einzige wirklich ganz und gar auch äußerlich vollendet worden: das Manuskript ist durchweg ins Reine geschrieben und der von meines Vaters Hand herrührende Titel „die katholischen Briefe und die apostolischen Väter, aufs Neue kritisch untersucht" macht es sogar wahrscheinlich, dass mein Vater auch den Druck dieser Arbeit ins Auge gefasst hat, der dann schließlich wohl nur aus jener Gleichgültigkeit gegen die Öffentlichkeit unterblieben ist, die in seinen letzten Lebensjahren immer stärker hervortrat. Formell nicht so völlig abgeschlossen sind die beiden Arbeiten über Paulus und die Offenbarung Johannis. Wiederum fast ganz vollendet und ins Reine geschrieben ist das Manuskript über die vier Evangelien, dem nur der die Auferstehungsgeschichte behandelnde Schluss fehlt. Es war meines Vaters Lieblingsarbeit, und in Bezug aus sie schrieb er mir einmal (am 27. April 1874): „Was ich wissen wollte, weiß ich und glaube dabei die Grenzen des Ausgemachten und nicht Auszumachenden scharf eingehalten zu haben". Doch heißt es ein halbes Jahr später noch einmal wieder: „Ich beschäftige mich gegenwärtig wieder recht eingehend mit den Evangelisten; da wird mir noch Manches klarer."

Außer der Geschichte seines Landes und der Theologie widmete mein Vater auch noch den klassischen Autoren und der Philosophie ein sehr eifriges Studium, ohne jedoch auf diesen Gebieten produktiv zu sein. Er war ein sehr guter Lateiner und ein noch besserer Grieche und besaß eine vollständige Bibliothek der Klassiker, die er fast alle ganz gelesen hatte. Unter den Griechen waren Plato und Thucydides seine Lieblingsschriftsteller; sein lateinisches Lieblingsbuch waren die "Episteln des Horaz". In der Philosophie war er ein entschiedener Anhänger von Kant: das Studium seiner Werke hat meines Vaters ganzes späteres Leben täglich begleitet. Gegen die nachkantischen deutschen Philosophen bezeugte er die entschiedenste Abneigung. Unter den Philosophen vor Kant waren die gelesensten Hume, Locke und vor allen Spinoza, In der deutschen Literatur war sein Lieblingsschriftsteller Lessing.
Boll, Franz (1805-1875 Neubrandenburg) Mecklenburger, evangel-lutherischer Theologe, Pädagoge und Historiker

Boll, Franz (1805-1875 Neubrandenburg) Mecklenburger, evangel-lutherischer Theologe, Pädagoge und Historiker

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