Vorrede des Verfassers

Als eine besondere Gunst des Geschickes habe ich es stets betrachtet, zu Neubrandenburg geboren zu sein und hier, mit Ausnahme weniger Jahre, mein Leben verbracht zu haben; so sehr bin ich von Klein auf von den großen Naturschönheiten seiner Umgebung, von den mannigfaltigen lieblichen Bildern, welche die Umgegend der Stadt dem Auge bietet, stets ergriffen und befriedigt gewesen. Ja, meine Vaterstadt ist mir ans Herz gewachsen. Diesen reizenden Wechsel von Hügel und Tal, von Feld und Wiesen, von Wasser und Wald, wie ihn Neubrandenburg auf allen Seiten er blicken lässt, haben, zumal in Norddeutschland, nur wenige Städte aufzuweisen. Noch selbst in der ungünstigeren Jahreszeit fordern die mit mächtigen Eichen besetzten Wälle seine Bewohner auf, die Tore zu verlassen, um sich in der frischen Luft zu ergehen.

Freilich in meiner Jugend schienen nur wenige von Neubrandenburgs Einwohnern seiner herrlichen Umgebung sich bewusst zu sein. Während jetzt Sonntags bei günstiger Witterung an den schönsten Punkten von Menschen aus allen Ständen es wimmelt, die sich der herrlichen Schöpfung Gottes freuen wollen, sah man damals nur einzelne unternehmendere Leute so weit auf den Mauern der Stadt sich versteigen. Während man jetzt auf unsern Wällen fast zu allen Tageszeiten zahlreichen Spaziergängern begegnet, waren die Wälle damals zur Weide fürs Vieh bestimmt und wenig gangbar; nur Einzelne mochten sie zu Spaziergängen wählen. Während jetzt in sommerlicher Zeit unser schöne See von beiden Geschlechtern fleißig benutzt wird, um in seinen klaren Fluten Erquickung oder Kräftigung der Gesundheit zu suchen, wagte es damals kaum ein oder der andere Erwachsene, dem Elemente, das keine Balken hat, sich anzuvertrauen. Wasserfahrten aus dem See nach diesem oder jenem Platz an seinen Ufern, um im kühlen Schatten des Waldes zu ruhen, waren damals höchst selten; es waren keine andern Fahrzeuge als die unbequemen und unhandlichen Steinboote zu dergleichen kühnen und kostspieligen Unternehmungen vorhanden.


Unsere Vorfahren waren einmal nicht für Naturschönheiten und Spazierengehen. Es wurde also auch nicht das Geringste dafür getan, um die schönen Punkte der Umgegend zugänglicher zu machen. Welche Künste kostete es nicht in meiner Jugend, um nur Belvedere zu erreichen! Man gebrauchte im vorigen Jahrhundert zu viele Zeit, um seine Person für die öffentliche Erscheinung herzustellen. Wie viele Zeit erforderte es nicht schon für das männliche Geschlecht, um in standesmäßigem Aufzuge, mit schön gewickeltem Zopf und wohlgeordnetem Haarbeutel, den Dreimaster aus dem Haupte und das gold-knöpfige spanische Rohr in der Hand (wie die Bilder aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts unsere Großväter uns darstellen) in die Öffentlichkeit hervorzutreten; wie hätten diese, in Schuhen und Strümpfen zierlich einhertretend, auf den ungebahnten Wegen die schönen Punkte unserer Umgegend zu erreichen vermocht. Und nun gar die vom schöneren Geschlecht: Wie hätten diese, frisiert und eingeschnürt, stundenlang zu Fuße die Stadt verlassen können? — sie waren nur für Kutschen und Portechaisen, für Visiten und Assembleen gemacht.

Doch fehlte es auch früher nicht an Einzelnen solchen, welche Gefühl und Geschmack für die Naturschönheiten hatten, die unsere Umgebung so reichlich bot. Zu Ostern des Jahres 1766 hatte Johann Heinrich Voß die Schule unserer Stadt als Mitglied der ersten Klasse bezogen. Seinem für alles Edle und Schone offenen Sinn blieben die Naturschönheiten Neubrandenburgs nicht verborgen. In den Erinnerungen aus Voßens Jugendleben schreibt seine Gattin: „Von den Sonntags-Spaziergängen nach einem schönen Walde, der an einem großen See lag, redete Voß oft mit großer Freude. Dahin wurde, was man von den deutschen Dichtern sich zu verschaffen wusste, mitgenommen, und erst spät kehrte man zurück, wenn der Mond über den herrlichen See aufgegangen war." Im Spätherbste desselben Jahres besuchte ein englischer Tourist (Nugent) Neubrandenburg und schreibt in seinen Reisebriesen: „Die Gegenden um die Stadt sind überaus angenehm, besonders gegen die Tollense hin, denn hier sowohl als auch auf den Wällen sind vortreffliche Spaziergänge, Etwa eine Viertelmeile von hier ist auf einem Berge nahe an der Tollense ein fürstliches Vorwerk. Namens Broda; der Weg dahin geht längs einer jähen Anhöhe (?), wo man den vortrefflichsten Prospekt nach der Tollense und nach den umliegenden Anhöhen hat." Etwas später, um die siebziger Jahre, pflegte Herzog Adolf Friedrich zu Neubrandenburg seinen Sommeraufenthalt zu nehmen, um hier der freieren Natur zu genießen. Damals wurde die plateauartige vorspringende Höhe in der Nähe von Broda, welche den See und die Stadt überblicken lässt (Belvedere) vom Walde befreit, terrassenförmig planiert und ein herzogliches Lusthaus daselbst erbaut; wenigstens war es 1775 schon vorhanden. Nach Adolf Friedrichs Tode (1794) aber wurde dies Gebäude abgebrochen, nach der Stadt versetzt und zum Logenhause — sein Nachfolger Karl war ein eifriger Freimaurer — eingerichtet.

Das Weltereignis der französischen Revolution verfehlte freilich nicht, auch bei uns seinen Einfluss geltend zu machen. Auch bei uns verschwanden beim männlichen Geschlecht die Haarbeutel und die Zöpfe und die steife Haltung; es verschwanden die hohen mühsamen Frisuren und die Schnürbrüste des Frauenzimmers. Aber der Sinn für die Geist und Herz erhebenden Schönheiten der Natur fand sich nicht sogleich ein. Hierzu sollte ein Mann für Neubrandenburgs Jugend den ersten Anstoß geben, der später für den freieren Aufschwung der deutschen Jugend überhaupt von großem Einfluss geworden ist. Friedrich Ludwig John, von der Universität Greifswald relegiert, wurde hier zu Anfang des Jahres 1803 unter fremdem Namen (Herr Fritz) Lehrer bei den beiden Söhnen des Baron le Fort. Seinem unruhig-tätigen Geiste genügte es nicht, nur mit seinen beiden Zöglingen sich zu beschäftigen. Dem berühmten Hamelnschen Rattenfänger ähnlich, hatte er bald eine Menge Knaben um sich versammelt, die er zum Baden und Schwimmen, zu allerlei Spielen und Leibesübungen anleitete:

Neubrandenburg ist durch ihn die Geburtsstätte des Turnens geworden. Besonders das Brodasche Holz ersah sich Jahn zum Tummelplatz für diese Knabenschaar aus, und noch sind auf dem sog. Krähenberge die Reste einer Rasenbank vorhanden, die damals „Herr Fritz" mit den Knaben angelegt hat, und von der man einen reizenden Prospekt über den Wald hinweg aus den See und die Stadt genießt; ich war zugegen, wie Jahn im Jahre 1817 mit großer Genugtuung seine Berliner Turner mit diesem seinen Lieblingsplatze bekannt machte.

Bald kamen mit dem Einbruche der Franzosen (31. Okt. 1806) auch über Neubrandenburg höchst trübselige Jahre, in denen Niemand daran denken konnte, die Naturschönheiten Neubrandenburgs zugänglicher zu machen. Als aber erst die Stürme der Napoleonischen Kriege vorüber waren, sollte auch hierzu alsbald Rath werden. Dem seit Ostern 1815 angestellten Kämmerer Wulffleff verdankt Neubrandenburg die ersten wesentlichen Schritte zur Verschönerung der Stadt und ihrer Umgebung. Bereits im Herbst des Jahres ließ derselbe den in schrecklicher Verwüstung liegenden Platz um die Marienkirche ebenen, bepflanzen und einfriedigen; leider mussten damals die mit der Kirche wohl gleichaltrigen prachtvollen Linden des Platzes seinen Plänen zum Opfer fallen. Die Verschönerungen in unserer Umgebung datieren seit dem Jahre 1818. Als Großherzog Georg der Stadt seinen ersten Besuch mit seiner jungen Gemahlin verhieß, wurden im Nemerowschen Holze Wege und Gänge, Plätze und Lauben hergestellt, um hier zu Ehren des fürstlichen Paares das erste überaus glänzende Vogelschießen (am 18. August) zu halten. Durch das jetzt verschwundene Bruch wurden bis zum See und dann von demselben bis zum Nemerowschen Holze bequeme mit Anlagen geschmückte Wege geführt. So war denn auch dem großen Publikum die Gelegenheit geboten, auf einem anmutigen Wege das schöne Nemerowsche Holz zu erreichen und dieses wurde nun zunächst das Ziel der sonntäglichen Wallfahrten während des Sommers. Die Wasserfahrten auf dem See wurden jetzt häufiger. Ein englischer Abenteurer, den, weiß der Himmel welche Schicksale nach Neubrandenburg verschlagen hatten, ließ das erste zu Lustfahrten auf dem See bestimmte Kielboot kommen, und bald folgte diesem die vor einigen Jahren erst an Altersschwäche verstorbene Großherzogliche Gondel. Von den Wällen wurden nun auch (1824) die anstößigen Kühe verbannt und dadurch ihre Benutzung zu Spaziergängen den Einwohnern Neubrandenburgs genehmer gemacht. Im Jahre 1823 ließ unsere junge Laudesherrin auch Belvedere wieder mit einem passenden Gebäude schmücken und nebst den anstoßenden Höhen in eine parkartige Anlage verwandeln. Kurz, seitdem man einmal zur Erkenntnis gekommen war, wie schön „Mutter Natur ihrer Erfindung Pracht" um Neubrandenburg ausgestreut hat, hat man nun auch nicht ausgehört, ihre reichen Gaben zu pflegen und zu genießen.
Aber auch die Stadt selbst ihrer schönen Umgebung würdig zu schmücken, wurde jetzt nicht versäumt. Zunächst beschenkte uns unser Großherzog Georg, statt des alten gänzlich verfallenen Schulhauses, mit dem schönen Gymnasial-Gebäude (1826). Dann gab er der Stadt ihre schönste Zierde durch die Wiederherstellung unserer herrlichen Marienkirche (12. Aug. 1841). Auch der Magistrat blieb nicht zurück in Verschönerung der Stadt, nachdem die schweren Einbußen der Napoleonischen Kriege überwunden waren. Der Platz um die Marienkirche wurde mit großem Kostenauswande von den aus drei Seiten ihn umgebenden und entstellenden Gebäuden befreit und im Frühling 1856 mit seiner jetzigen schönen Einfriedigung umgeben; früher schon, zumeist noch in den vierziger Jahren, wurde auch die Wiederherstellung unserer Tore, die weit und breit nicht ihres Gleichen haben und die der Stolz unserer Stadt sind, so wie der beiden schlanken Mauertürme in die Hand genommen.

Das Alles habe ich miterlebt und mit wahrer Herzensfreude mitangesehen. Ein Gedanke hat mich dabei stets begleitet: Dass es mir dereinst vergönnt sein möge, die Geschichte meiner geliebten Vaterstadt zu schreiben. Schon mein Vater beschäftigte sich gern mit der Geschichte von Neubrandenburg. Ich war zu jung, wie ich ihn verlor, als dass diese Neigung von ihm aus mich schon hätte können übertragen sein. Aber ich sowohl, wie mein Bruder, haben uns von jung aus um die Geschichte und Altertümer Neubrandenburgs mit Vorliebe bekümmert; es muss also wohl in der Art gelegen haben. Später wandte ich meine schriftstellerische Tätigkeit zunächst der Geschichte unseres Landes zu, welche noch jeglicher Darstellung entbehrte. Als mein Bruder daran ging, für das gesamte Mecklenburg eine Geschichte abzufassen, welche den Anforderungen der Zeit entspräche, habe ich dies Werk mit Rat und Tat nach Kräften zu fördern gesucht. Früher schon hatte ich für das von ihm herausgegebene Wochenblatt einzelne Abschnitte aus der Geschichte Neubrandenburgs bearbeitet. Aber um ein Ganzes zu geben, schienen mir teils die vorhandenen Materialien noch zu unzulänglich, teils fehlte es mir, bei einem beschwerlichen Amte, bei der für mich selbst zum Bedürfnis gewordenen Beschäftigung mit wissenschaftlicher Theologie und bei dem Unterrichte meiner Kinder, — dazu an aller Muße. Nachdem ich mir diese verschafft habe, will ich nicht säumen, ehe ich scheide, meiner Vaterstadt für die vielen glücklichen Stunden, die sie mir beschert hat, die Pflicht des Dankes abzutragen.

Der großen Schwierigkeit dieses Unternehmens und dass es nur in sehr unvollkommener Weise kann ausgeführt werden, bin ich mir nur zu wohl bewusst. Aus den früheren Jahrhunderten unserer Stadt fehlen alle und jede Auszeichnungen; fast die sämtlichen Originale ihrer Urkunden haben in den verschiedenen Feuersbrünsten, welche Neubrandenburg heimgesucht, längst ihren Untergang gefunden; in Abschriften sind nur wenige erhalten. Aber es möge lange Zeit darüber hingehen, ehe ein Anderer wieder Neigung, Gelegenheit und Muße hat, die zerstreuten kärglichen Materialien zu einer Geschichte Neubrandenburgs so zusammen zu bringen, wie ich es eine lange Reihe von Jahren hindurch getan habe. Dies erwägend, bin ich frisch ans Werk gegangen.

Es hat indes nicht an Männern gefehlt, die wenigstens etwas vorgearbeitet haben. Den ersten Anlass dazu scheint der weitläufige Prozess gegeben zu haben, welcher um den Anfang des 17. Jahrhunderts sich zwischen dem Landesherrn und der Stadt über die beiderseitigen Rechte und Befugnisse (besonders in Hinsicht auf die Gerichtsbarkeit) entspann und der in dem Jurisdiktions-Vergleich von 1625 sein Ende fand. Hier kam es von Seiten der Stadt darauf an, aus Urkunden den Beweis für die ihr zustehenden Rechte zu führen. Bei den Akten dieses Prozesses mussten also Abschriften: der städtischen Urkunden gewesen sein, aber diese Akten galten für verloren. Doch hatte, wahrscheinlich durch diesen Prozess dazu veranlasst, im Jahre 1604 der damalige Bürgermeister Heinrich Tetze Auszüge aus den städtischen Urkunden angefertigt, und diese sind glücklicher Weise noch erhalten. Wenige Jahre darauf (1610) verfasste Bernhard Steinmetz od. Latomus (er war eine Zeit lang Rektor unserer Schule gewesen) hier zu Neubrandenburg sein Genealochronikon Mecklenburgs, und dieses bietet die ersten Nachrichten über die Gründung unserer Stadt u. s. w., bei welchen offenbar Urkunden zu Rate gezogen sind.

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (seit 1737) besorgte der Strelitzsche Hof und Justizrat Jargow (anonym) eine gänzlich umgearbeitete zweite Auflage von Klüvers Beschreibung von Mecklenburg; aus drei Bänden wurden sechs. Im zweiten Bande, der ganz sein Werk ist, lieferte Jargow eine Beschreibung der Mecklenburger Städte: die von Neubrandenburg (von Seite 10 bis 69) enthält diejenigen Urkunden und Nachrichten, welche sich ohne viele Mühe zusammenraffen ließen, und damit war denn der schwache Anfang einer Geschichte von Neubrandenburg geboten; sehr groß war indes die Nachlässigkeit, mit der man damals die Urkunden, besonders die plattdeutschen, behandelte.

Gediegeneres würde uns ohne Zweifel später der Landsyndikus Pistorius zu Neubrandenburg geliefert haben, wenn er nicht zu lange mit dem Sammeln der Materialien sich aufgehalten und darüber der Tod ihn überholt hätte (1780). Die von ihm hinterlassenen Materialien wusste der vielbesprochene Altertümler Gideon Sponholz, mit welchem Pistorius vielfach verkehrt hotte, an sich zu bringen. Allein um diese Materialien zu bearbeiten, war Gideon Sponholz der Feder nicht mächtig genug, er musste sich dazu einer fremden bedienen. Nun stand bei der Tillyschen Schauspieler-Gesellschaft, die sich gewöhnlich in Rostock aushielt, aber auch häufig vom Herzog Adolf Friedrich nach Neubrandenburg gezogen wurde, derzeiten ein „Gottlob, Baron Hacke aus Biltzingsleben, (ein Pfarrdorf im Regierungsbezirk Merseburg) Ritter und Kommissionsrat." Diesen Baron Hacke, der sich damals wohl ganz mittellos zu Neubrandenburg aufhielt, (Gideon Sponholz musste selbst den Friseur für ihn bezahlen) ersah sich dieser, um in seinem Solde aus den Pistorius'schen Materialien eine „Geschichte der Vorderstadt Neubrandenburg" zu bearbeiten; denn neben dem Schauspielern hatte Baron Hacke auch schon das Schriftstellern betrieben, wie er sich denn, um seine Befähigung zu beweisen, auf seine in Hamburg und Altana bereits gedruckten Werke beruft. Unter dem 20. August 1782 erschien in den Strelitzer Anzeigen von Hacke eine etwas marktschreierische Aufforderung zur Subskription ausf die zu Michaelis erscheinende Geschichte Neubrandenburgs. Als sie aber immer noch nicht ans Tageslicht trat, wurde in demselben Anzeiger unter dem 14. Dezember eine Warnung vor dieser Geschichte veröffentlicht; der Warner hatte einige Druckbogen derselben gesehen und war der Ansicht, dass das Ganze ohne Plan unternommen sei und von Unrichtigkeiten wimmele. Gegen diesen Warner erließ Hacke aus einem einzelnen Druckbogen eine „Gegenkritik und Belehrung der Fehler des Johann Balhorns der Neubrandenburgischen Geschichte", nach welcher er den Rat Wulffleff für den Warner zu halten scheint. Der Verzug des Erscheinens der Geschichte wird durch Mitteilung neuer Materialien entschuldigt: Herzog Adolf Friedrich habe ihm „die zur Neubrandenburger Geschichte nötigen Urkunden aus den hiesigen Archiven" einhändigen lassen (wahrscheinlich sind die hiesigen Kirchen-Visitations-Protokolle gemeint) und Rat Schröder aus dem Raths-Archive ihm die Sammlungen des Bürgermeister Tetze mitgeteilt. Inzwischen hatte der schlaue und betriebsame Gideon Sponholz nahe an 500 Subskribenten zusammengebracht, und im Jahre 1783 erschien nun wirklich der erste Teil (von 1248 bis 1711) der verheißenen Geschichte, in der Tat ein elendes, unbrauchbares, ja durch seine zahlreichen Irrtümer sogar schädliches Machwerk, welches, außer dem von Jargow und Frank (im alten und neuen Mecklenburg) Gebotenen, nichts als jene Tetze'schen Urkunden-Auszüge und einige Auszüge aus den Kirchen-Protokollen enthält. Ein zweiter Teil ist nie zur Welt geboren; Baron Hacke kehrte bald in seine Heimat zurück, machte eine reiche Heirat und wurde Königlich Polnischer Geheimrat und Ritter des weißen Adler-Ordens.

Mehr ist bisher für die Geschichte von Neubrandenburg nicht geleistet worden, außer den kürzeren geographisch-statistisch-historischen Artikeln über Neubrandenburg vom Pastor Sponholz - Rülow im Mecklenburgischen Volksbuch von 1841 und in Wilhelm Raabes Vaterlandskunde (1856). Ich habe alles Zerstreute sorgfältig zu sammeln und gewissenhaft zu benutzen gesucht. Wesentliche Beiträge zur Aufklärung der älteren Zeiten hat mir die Wiederauffindung der Akten über den, dem Jurisdiktions-Vergleich von 1625 vorausgehenden Prozess gewährt, welche eine Anzahl wichtiger Urkunden aus den ersten Jahrhunderten, namentlich den Stiftungsbrief der Stadt, der bisher nur nach fehlerhaften Kopien vorlag, in beglaubigten Abschriften enthielten. Aus von Behrs Mecklenburgischer Geschichte hatte ich ersehen (was meinen Vorgängern entgangen war), dass in den Cothmann'schen Rechtsfällen das 47. Responsum des dritten Bandes sich eben auf diesen Stadtprozess bezog. Nun war der Kanzler Ernst von Cothmann eben der fürstliche Anwalt in diesem Prozesse gewesen. Nachdem ich das ausführliche Responsum exzerpiert, begann ich, nach diesen Akten überall, wo ich sie vermuten konnte, nachzuforschen. Aber weder hier, noch zu Schwerin, noch zu Neustrelitz wusste man das Geringste von ihnen. Nachdem aber Herr Rat Kühne als Sekretär bei der Großh. Regierung zu Neustrelitz angestellt worden, war dieser so glücklich, die verloren geglaubten unter alten zurückgestellten Akten zu entdecken. Er setzte mich davon in Kenntnis, und der Minister von Bernstorff hatte die Güte, mir die längere Benutzung dieses Schatzes für die Neubrandenburger Geschichte zu gestatten.
Was aus den vorausgehenden Jahrhunderten (vor dem Brande von 1737) nur einzelne Schriftstücke enthaltende hiesige ratshäusliche Archiv bietet, hat mein verehrter Freund Herr Bürgermeister Ahlers sorgfältig gesammelt und mit zuvorkommender Bereitwilligkeit mir die Benutzung dieser Aktenstücke verheißen.

Das letzte Jahrzehnt hat auch für Neubrandenburg drei aufeinanderfolgende Jahre von hoher Bedeutsamkeit gehabt: die Jahre 1864, 1865 und 1866. Durch dieselben sind für unsere Stadt bereits höchst wichtige Veränderungen hervorgerufen, teils gehen sie unter unsern Augen gegenwärtig vor, und werden in Bälde vollzogen sein.

Nachdem wir des Telegraphen-Verkehrs uns schon seit dem 1. Oktober 1856 erfreuten, sind wir mit Eröffnung unserer ersten Eisenbahn am 15. November 1864 in den lebhaften, raschen Weltverkehr unmittelbar mit eingetreten, von dessen gegenwärtiger Vollkommenheit unsre Großväter noch keine Ahnung hatten. Zu Michaelis 1865 hat mit der vollzogenen Acker-Separation eine gänzliche Umgestaltung unserer Feldwirtschaft stattgesunden. Die seit Neubrandenburgs Gründung bestandene dreischlägige Feld- Einteilung mit den schmalen Ackerstücken ist für immer beseitigt, und den Ackerbesitzern sind ihre Hufen jetzt zu völlig freier Bewirtschaftung überlassen, die denselben einen weit höheren Ertrag abzugewinnen möglich macht. Von den inhaltschwersten Folgen aber ist auch für unsere Stadt der glänzende Sieg gewesen, welchen Preußen im Jahr 1866 über Österreich davongetragen hat. Wir sind durch denselben zu Mitgliedern des norddeutschen Bundes geworden, und haben die Vorteile desselben (freiere Bewegung des Verkehrs), wie seine Nachteile (erhöhte Steuerlast) über uns ergehen lassen. Die Gesetzgebung des Bundes hat bereits dem althergebrachten Zunftwesen den Todesstoß versetzt, und damit eine Umgestaltung der Vertretung unserer Bürgerschaft notwendig gemacht; eine völlige Umgestaltung unserer Stadt, wie unserer Gerichts -Verfassung werden demnächst eben so notwendige Folgen sein. Das alte Neubrandenburg schwindet vor unsern Augen dahin und wird bald nicht mehr sein. Es ist daher an der Zeit mit seiner Geschichte Abrechnung zu halten.

Für die ersten dreieinhalb Jahrhunderte unserer Stadt war wenig mehr zu geben, als ein kurzer Abriss der allgemeinen Landesgeschichte, durch welche der besondere Anteil Neubrandenburgs ab und an hindurchblickt; ohne einen solchen Hintergrund würden die vereinzelten Nachrichten teils unverständlich, teils nutzlos sein. Mit der sog. Akten-Zeit (d. h. seitdem man über öffentliche Angelegenheiten Akten schrieb und aufbewahrte, was ungefähr mit der Zeit der Reformation zusammenfällt) wird denn auch die Geschichte Neubrandenburgs und seiner Einwohner stoffreicher. Den einzelnen Kapiteln habe ich die betreffenden Aktenstücke teils vollständig, teils das Wichtigere aufhebend, beigegeben und dies wird den wertvollsten Teil meiner Arbeit ausmachen; denn nichts setzt uns anschaulicher in die Denkungsart und die Verhältnisse der vergangenen Jahrhunderte, als diese gleichzeitigen Berichte; nur ihre veraltete und oft wechselnde Rechtschreibung habe ich geändert. Endlich für das vorige und das gegenwärtige Jahrhundert habe ich mehr eine chronikartige Erzählung des aus der Geschichte unserer Stadt Aufbehaltenen und des Aufbehaltens Werten wählen müssen. Und hiermit will ich meine Erinnerungen aus der Geschichte Neubrandenburgs meinen lieben Mitbürgern zu einer freundlichen Aufnahme empfohlen haben.
                Neubrandenburg, den 28. Juni 1870.
                                        F. Moll.


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Als ich das Vorstehende zu Ende des Juni 1870 niederschrieb, in der Hoffnung, mein Manuskript bald zum Drucke bringen zu können, ahnte ich freilich nicht, dass wir 14 Tage später an der Schwelle des gewaltigen Krieges mit Frankreich stehen würden, der wie aus heiterem Himmel über uns hereinbrach. Das Interesse an diesem riesigen Kampfe musste natürlich alle partikulären Interessen zurücktreten lassen. Jetzt scheint die Gelegenheit wieder günstiger, meine Erinnerungen aus der Geschichte von Neubrandenburg der Öffentlichkeit zu übergeben.
                  Neubrandenburg, den 21. September 1874.
                                        F. Moll.