Der Lübecker Martensmann (Lübecker Volkssage)

Der Tag des heiligen Martins des Bischofes, der 11. November, besaß seit dem frühesten Mittelalter weit und breit eine große Berühmtheit, und der Vorabend dieses Tages, also der Nachmittag des 10. Novembers, wurde noch um das Jahr 1772 an sehr vielen Orten, namentlich auch in Schwerin, nicht nur von dem Volke, sondern auch in den Palästen der Großen festlich begangen. Martini war ein landesüblicher Lieferungstermin für Abgaben aller Art; da her kam es, dass am Vorabende und am Terminstage selbst überall Trinkgelage und Schmausereien stattfanden, bei welchem die fette „Martinsgans“ die Hauptrolle spielte.

An diesem Tage nun fand auch die Mostlieferung der Stadt Lübeck an den herzoglichen Hof zu Schwerin statt; der bekannte Name des Martensmannes knüpft sich an den Tag, der in dieser Stadt eine um so erhöhtere Volksfreude veranlasste. Der Vorgang bei diesem Ereignisse war folgender:


Zuerst mussten die Lübecker einen Mann zu ihrer Sendung wählen, welcher das bei derselben herkömmliche Zeremoniell genau kannte und ein tüchtiger Trinker war. Zwei Zeugen begleiteten diesen Martensmann auf einem stark mit Eisen beschlagenen Wagen, auf welchen daneben ein Ohm guten Rheinweins (Most) Platz hatte. Am 9. November traten sie die Reise über Schönberg und Rehna an; bei der Einfahrt in letzteren Ort teilte der Martensmann einige Hände voll Haselnüsse, Äpfel und Semmeln unter die ihm mit lauten Zurufen entgegenkommende Jugend aus, und hier wurde übernachtet. Am nächsten Morgen wurde die Reise fortgesetzt, bis in einer nahe vor Schwerin gelegenen Schmiede der Wagen und die Pferde einer genauen Prüfung unterzogen wurden. Von da ging es im Trabe bis zum Stadttore, vor welchem man mit dem Glockenschlage 12 Uhr anlangen musste. Aber das Tor war durch einen Schlagbaum verschlossen, eine Schildwache trat dem Wagen entgegen, ein Hofreiter kam aus dem Wachhause und fragte den Martensmann, wer er sei? woher er komme? wohin er wolle? was er auf dem Wagen habe? wer das haben solle? Nach Beantwortung dieser Fragen öffnete sich das Tor, die Wache trat unters Gewehr und der Martensmann, welcher ihr für diese Ehrenbezeugung einen Gulden schenken musste, fuhr entblößten Hauptes in die Stadt ein, wo sich unterdessen eine große Menge Volkes gesammelt hatte, das ihn zurufend empfing: Martensmann! Schön Marten! Hei Martensmann, Nießmarten, Pfenningsmarten! Dafür warf jener reichlich, gravitätisch dreinblickend, Nüsse, Äpfeln und Pfenninge unter die Jungen, welche sich um diese Spenden balgten und ihn lärmend und jauchzend ins Wirtshaus begleiteten. Hier angelangt, ließ der Martensmann sogleich dem herzoglichen Vogte seine Ankunft melden, warf sich in seine Amtskleidung, einen schwarzen Rock mit einem scharlachroten Mantel ohne Ärmel darüber, einen großen runden, faltenreichen Kragen um den Hals und eine stattliche Perücke, und dann fand zu der ihm bestimmten Zeit, gewöhnlich um 3 Uhr Nachmittags, der festliche Einzug zu Wagen langsamen Schrittes ins Schloss statt. Der Martensmann saß auf der mittleren Bank des Wagens; hinter ihm lag das Weinfass und hinter diesem saßen die beiden Zeugen, begleitet von zwei Soldaten und einer zahlreichen Volksmenge. Wenn der Wagen die Schlosswache passierte, musste der Martensmann seinem Kutscher den Hut abnehmen; auch er selbst und eine Zeugen mussten, so lange sie sich im Gebiete des Schlosses aufhielten, das Haupt entblößt lassen. Während die Wache unters Gewehr trat, wofür sie einen Gulden zur Gratifikation erhielt, trieb der Kutscher die Pferde zu schnellem Laufe an, fuhr in scharfem Trab; dreimal um den Schlosshof, wobei der Martensmann drei Düten, jede mit fünf Thalern in lübischen Schillingen unter die sich darum balgende Jugend werfen musste, und hielt dann plötzlich vor der Haupttreppe des Schlosses still. Hier musste der Martensmann mit seinen Zeugen schnell vom Wagen springen und mit einem Gruße von der Stadt Lübeck in wohlgesetzter Rede die herzoglichen Beamten anreden, welche ihm bis zum Fuße der Haupttreppe entgegengetreten waren, der herzogliche Vogt nebst mehreren Beamten und Notaren. Der Martensmann teilte diesen nach herkömmlichem Gebrauche mit, dass er beauftragt sei, dem herzoglichem Hause Schwerin vom hochweisen Rate der Stadt Lübeck „aus nachbarlicher Freundschaft und guter Affektion“ ein Ohm Rheinwein zu überbringen. Hatte er geendet, so nahm der herzogliche Vogt das Wort, und protestierte dagegen, dass diese Gabe nur aus Freundschaft geliefert werde, es sei vielmehr eine Lieferung, wozu die Republik aus Schuldigkeit und Pflicht verbunden sei. Es hätte auch Rheinweinmost und kein bloßer Rheinwein sein sollen, obwohl man für diesmal den letzteren annehmen wolle, jedoch ohne dass daraus für spätere Zeiten eine Konsequenz gezogen werden dürfe, vielmehr müsse darauf bestanden werden, dass jährlich am Martinsabend (d. h. am Abend vor Martini) von der Stadt Lübeck ein Ohm Rheinweinmost an das herzogliche Haus geliefert werden müsse. Über diesen öffentlichen Protest sollte der herzogliche Notar ein beglaubigtes Dokument aufnehmen und dem Hofmarschallsamte untertänigst einreichen. Hiergegen aber reprotestierte der Martensmann und hob nochmals hervor, dass von Seiten des hochweisen Rates zu Lübeck die Weinlieferung nur aus nachbarlicher Freundschaft geschehe, wogegen dann der herzogliche Vogt abermals einen Protest erhob und darauf bestand, dass die Lieferung aus Pflicht und Schuldigkeit geschehe. Nun rief der Vogt den Pförtner herbei und ließ von diesem Wagen und Pferde genau untersuchen. Wurde ein Fehler am Wagen, am Geschirr der Pferde, an den Hufeisen oder sonstwo entdeckt, so verfiel das ganze Gefährte dem herzoglichen Hause, wie z. B. i. J. 1755 geschah, wo der Herzog Christian Ludwig dasselbe konfiszieren ließ und nur auf vieles Bitten der Lübecker wieder frei gab. Als dann wurde das Fass abgeladen, vom Hofkellermeister probiert, und nun bestieg der Martensmann wieder einen Wagen, ließ noch einmal in schnellen Trabe um den Schlosshof fahren und warf dabei kleine Geldmünzen unter das zurufende Volk aus. In ein Quartier zurückgekehrt, entkleidete er sich seiner Amtstracht und teilte nun die herkömmlichen Geschenke unter die herzoglichen Beamten aus. Der Vogt, der Küchenmeister, der Amtsregistrator und der Hofkellermeister erhielten jeder einen 12 Pfd. schweren holländischen Käse, ein Lübecker Strumpfbrot, einen Halbmond (Gebäck), ein Bund rigaischer Butten, ein Bund Lübecker Bücklinge, jedes 1. Pfd. schwer und 4 Zitronen.

Um 6 Uhr Abends wurde der Martensmann vom herzoglichen Pförtner zu einem Abendschmause aufs Schloss geladen. Die Lübecker, mit Einschluss des Kutschers, folgten dem vorausschreitenden Pförtner, welcher in der linken Hand eine eigens für diesen Tag bestimmte, aus 100 Hornscheiben zusammengesetzte, 3 Fuß hohe, mit Messing beschlagene Laterne *) trug, in der 4 Lichter brannten; in der rechten Hand hielt er einen derben Kommandostab. Auf dem Schlosshofe trat die Wache ohne Gewehr heraus und die Gäste begaben sich ins Speisezimmer, in die s. g. Martensmannskammer, das Entresol des langen Hauses (spätere Feuerwärterstube), welche in den großen Hofsaal hineingebaut war und wo das Hofgesinde zu Tische ging. Hier setzte man sich an die Tafel, obenan der herzogliche Vogt, links von ihm der Martensmann mit seinen beiden Zeugen, rechts nach ihren Range die Beamten: der Küchenmeister, der Kellermeister der Kastellan, der Schlossgärtner usw. An einem Nebentische saßen der Pförtner und der Lübecker Kutscher. 36 Schüsseln wurden aufgetragen und zahlreiche Gesundheiten getrunken. Zuerst, nachdem das Rindfleisch verzehrt war und während die Fische vorgelegt wurden, brachte der Vogt die Gesundheit des Landesherrn aus, dann Jeder nach einem Belieben. Man bediente sich bei dieser Gelegenheit besonderer Gläser, welche, unten spitz, keinen Fuß hatten und deshalb auf einen Zug geleert werden mussten; jedes Glas enthielt eine halbe Bouteille. Um 11 Uhr war das Mahl vollendet und begleitete man den Martensmann in sein Quartier, wo man noch einige Stunden lang zu zechen pflegte. Einen Bezug auf diese Trinkgelage hat noch der alte Reim: „Wol (wer) nich vul sik supen kann, de is ken rechte Martensmann.“ Am nächsten Morgen gab es ein Frühstück auf dem Schloss bei gleicher Schüsselzahl und unter gleichen Gebräuchen. Bei diesem brachte der Martensmann die erste Gesundheit aus, und zwar auf das gute Einvernehmen zwischen Mecklenburg und Lübeck. Nach Beendigung des Frühstücks wurde jener wieder von der ganzen Tischgesellschaft in sein Quartier gebracht, wo man zu zechen fortfuhr, bis Mittags um 2 Uhr der Wagen vor die Türe fuhr. Für die Gäste wurden nun ein kalter Gänsebraten, eine Torte, eine Wildprettpastete und ein Schweinsbraten auf den Wagen gepackt; zum Geschenke für den Lübecker Rat erhielten sie entweder einen Rehbock, ein Wildschwein oder einen Frischling. Der Martensmann bekam zum Andenken den s. g. Martensgulden, eine alte Silbermünze, welche auf einer Seite die Unterschrift hatte: Moneta nova Lubecensis. 1540., auf der anderen: Status marca Lubecensis. Für die Pferde legte man 2 Scheffel Hafer auf den Wagen, und dann ging es, unter gleichen Ehrenbezeugungen, wie sie bei der Ankunft statt gefunden, der Heimat zu. –

*) Nach anderen Mitteilungen war diese Laterne aus 30 Hornscheiben (mit
Bezug auf die 30 Tage des Novembers) zusammengesetzt und wurde dem Martensmanne schon um 12 Uhr Mittags bei seiner Fahrt auf das Schloss vorausgetragen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Chronik der Haupt- und Residenzstadt Schwerin