Eine bedrängte Familie

Unter der Regierung des Kaisers Maximilian II., der vom Jahre 1564 — 76 das Szepter führte über das heilige römische Reich, wohnte im damaligen fränkischen Kreis aus einer Burg, die wir Wildenstein nennen wollen, der Schlossbauer Veit Hollenstein. Die Burg, oder, wie man in der Umgegend sie nannte, das Schloss, gehörte dem gräflichen Hause R., war aber seit dem Tode des regierenden Herrn von keinem Gliede der Familie mehr betreten worden.

Wer heut zu Tage nach dreihundert Jahren einmal zufällig auf dem wenig befahrenen, steinigten Weg das enge Wiesental herauskommt und auf der mit Wald bewachsenen Anhöhe den noch immer über die Buchen hervorragenden Turm, den Torbogen und die mit verkrüppelten Tannen bewachsene Ringmauer erblickt, findet die Lage schön; aber die alte Zeit hatte bekanntlich wenig Sinn für Naturschönheiten, und die guten Dienste, die vor etwa vierzig Jahren beim Aufstand des gemeinen Mulmes das abgelegene Schlösslein dem dahin geflüchteten Grafen geleistet hatte, waren, wie es eben meistens mit guten Diensten geht, in der hernachfolgenden bessern Zeit vergessen worden. Die Familie hatte aus ihrem, etwa eine Tagreise entfernten, der Stadt W. näher gelegenen Schloss R., von welchem sie den Namen trug, ihren Wohnsitz genommen und den einzigen Besuch, der von dort her jährlich noch nach dem Schlosse kam, hätte der Schlossbauer Veit Hollenstein und der Schäfer, der mit ihm auf dem Schlosse wohnte, auch gern entbehrt; denn auf Martini kam regelmäßig der Amtmann, um die fälligen Pachtschillinge und Gilten von dem Schlossbauern und den zinspflichtigen Dörfern in Empfang zu nehmen, und mehrere Umstände waren in letzter Zeit zusammengekommen, um namentlich für den Schlossbauern die Tage seines Besuchs nicht gerade zu Freudentagen zu machen.


Er hatte zwar ein gottesfürchtiges Weib, einen bis jetzt wohlgeratenen Sohn, einen fleißigen, friedliebenden Schwiegervater, einen treuen Ackerknecht und in dem Schäfer einen guten Freund und getreuen Nachbarn, und unter dem seligen Grasen war er trotz der steinigen Äcker, die das Schlossgut bildeten, in die Höhe gekommen, aber gleichwohl hatte er jetzt manchmal, wenn der Wind mit dem über seiner Haustüre angebrachten Rade spielte, welches der kunstsinnige Schäfer ersonnen und gefertigt hatte, seine nachdenklichen Stunden. Der Schäfer nämlich war, wie viele seines Standes, weil er so viel müßige Zeit übrig hatte, ein Philosoph, und im langen Winter 1560 hatte er ein Rad geschnitzt mit vier Speichen, und aus jedem der äußeren vier Enden ein Männlein angebracht und am letzten Tag des alten Jahres über der Türe des Schlossbauern sein Kunstwerk also an einer Achse befestigt, dass es der Wind fassen konnte und bald langsamer bald schneller umtrieb, und darunter hatte er mit großen schwarzen Buchstaben geschrieben:

Glückes Rad trägt vier Mann,
Der eine steigt auf, der andere ist oben,
Der dritte steigt ab, der vierte liegt unten.

Der vierte Mann war der Schlossbauer noch nicht, aber dass es auf des Glückes Rad mit ihm abwärts gehe, und dass er dem dritten bereits stark gleiche, konnte er sich nicht wohl verhehlen.

Der Amtmann war nie sein Freund gewesen, hatte aber, so lange der alte Graf lebte, nie daran denken dürfen, dem Bauern, dessen Vorfahren seit undenklichen Zeiten das Gut besessen hatten, ernstlich zu schaden. Während der Minderjährigkeit des jungen Grafen jedoch hatte er reichlich Gelegenheit gefunden, seinem lang verhaltenen Groll Luft zu machen. Ein Recht um das andere, was der Schlossbauer auf dem Pachtgut sonst gehabt, hatte er ihm genommen und den Pachtzins von Jahr zu Jahr gesteigert; dazu waren einige Missjahre gekommen, in welchen der Schlossbauer nicht bloß sein Erspartes zugesetzt, sondern auch Schulden gemacht hatte. Zweimal war ihm sein bestes Vieh von den Leuten eines benachbarten mainzischen Edelmanns von der Weide weggetrieben worden, und der Amtmann hatte ihm aufs Strengste verboten, in gewohnter Weise sich selbst Recht zu schaffen, aber dabei noch keine Feder angesetzt, um auf dem Weg Rechtens ihm zum Ersatz seines Schadens zu helfen. Er hatte geschworen, nicht zu ruhen, bis er den Schlossbauern von Haus und Hof gebracht hätte, und dieser wusste wohl, dass der Amtmann Pankratius Zwiesel der Mann dazu sei, sein Wort zu halten, und dass der Ausführung seines feindseligen Vorhabens nur noch sein Schwiegervater Jörg Habermann im Wege stehe, der bei der Witwe des Grafen wegen seiner in den stürmischen, Jahren des Aufruhrs geleisteten Dienste noch in gutem Ansehen war.

Es traf ihn deswegen doppelt hart, als im Jahre 1565 unmittelbar vor dem Beginn der Ernte an einem Sonntag Nachmittag, wo seine Frau und sein Sohn Konrad zur Kirche, der Knecht aber ins Dorf gegangen war, um Taglöhner zu mieten, der Alte mit einer gewissen Feierlichkeit seine Bibel zuklappte und, nachdem er sie auf den Sims gestellt und sein graues Haar hinter die Ohren gestrichen hatte, wie er immer tat, wenn er ein ernstes Wort reden wollte, also sich vernehmen ließ:

„Tochtermann, wir haben jetzt bald dreißig Jahre mit einander gehaust, und wir sind zufrieden mit einander gewesen. Du hast mich ehrlich gehalten und mich, als ich in die Jahre kam, nie merken lassen, dass ich dir überlästig wäre, und hast mir alles Gute gegönnt, was ich in deinem Hause gehabt habe, und Gottlob! bin ich bisher gesund gewesen, und du weißt, dass ich nie ein Müßiggänger war und niemals dir zur Last werden wollte. Aber in dieser Woche, gerade wenn ihr alle Hände voll zu tun habt, werde ich dir eine Störung machen müssen. Ich bin jetzt über die achtzig Jahre hinausgekommen und —

Wie sich sehnt ein Wandersmann,
Dass sein Weg ein End mög’ hau,
So hab ich gewünschet eben,
Dass ich enden mög mein Leben! —

und — Gott wird meinen Wunsch erfüllen. Ehe ihr die letzte Fuhr Getreide einfahrt, fährt mich der Adam den Schlossberg hinunter. Geh darum heute noch ins Dorf und bestelle den Sarg bei dem Schreiner, denn wenn erst die Arbeit einmal angegangen ist, wird er vielleicht nicht mehr recht Zeit haben, und gehe auch zum Pfarrer und bitt’ ihn, dass er auf mein Ende mich christlich bereite. Und —vergiss nicht! — wenn der Balthasar noch einmal etwas von sich hören lässt, so sei gegen ihn wie ein Bruder, gib ihm was Recht ist, bring’ ihm von mir noch einen Gruß und meinen väterlichen Segen.“

Der Alte sprach dies alles ohne jegliche Aufregung, mit patriarchalischer Ruhe, so wie etwa Moses seine letzten Anordnungen gemacht haben mag, als Gott zu ihm gesagt hatte: „Gehe auf das Gebirge Abarim, auf den Berg Nebo, der da liegt im Moabiterlande, gegen Jericho über, und stirb auf dem Berge, wenn du hinaufgekommen bist und versammle dich zu deinem Volk, gleichwie dein Bruder Aaron starb auf dem Berge Hor und sich zu seinem Volk versammelte“, — und wahrlich es ist etwas Großes, so mit ruhiger, klarer Seele von seinem nahen Tode sprechen zu können, wie es manchmal bei Leuten aus dem Bauernstand vorkommt. Das schien auch der Schlossbauer zu fühlen: denn nach einer langen Pause, in der es so still in der Stube ward, dass man nichts als die, gegen das Fenster anfliegenden, Mücken und die Katze schnurren hörte und das von einem leichten Winde umgetriebene Rad des Schäfers, griff er, ohne weiter ein Wort zu sagen, nach seinem Hut und trat den Weg zu dem Schreiner und dem Pfarrer an, nachdem er mit einem stummen Kopfnicken von dem Alten Abschied genommen. Bei seiner Rückkunst hörte er von seinem bereits heimgekehrten Weib, dass ihr Vater sich schon aus seine Kammer begeben, denn er sei sehr müde, und ein Frösteln habe ihn überkommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Christ und Jude