Das Passa

Wer den Juden nur vom Tausch und Handel, von der Messe, vom Rossmarkt, vom Kipper und Wipper und vom Hausieren her kennt, der kennt ihn von einer wenig empfehlenden Seite, und wer nur den sogenannten aufgeklärten Juden kennt, der sich etwas zu Gute darauf tut, dass er Schweinefleisch isst, am Sabbath schreibt und Geschäfte macht, der wird auch von dem jüdischen Wesen wenig erbaut sein, — wie sorgsam ein solcher darauf bedacht ist, von seiner Abkunft nichts merken zu lassen, so schaut doch, wie man zu sagen pflegt, immer der Jude aus ihm heraus und meist nur in einem widerlichen, abstoßenden Zerrbild. Wer in dem Juden etwas von dem ehemaligen Edelmann sehen will, der, obwohl all seiner Glücksgüter beraubt, doch noch die Erinnerung seiner früheren Würde bewahrt, und durch diese Erinnerung, wenn auch nur aus einzelne Stunden, über die traurige, kümmerliche Gegenwart sich erhebt, der muss den altgläubigen Juden etwa am Vorabend eines Sabbaths oder eines andern Festes im Kreise seiner Familie aufsuchen, wenn der siebenarmige Leuchter angezündet ist, und der Hausvater, mit patriarchalischer Würde das häusliche Priesteramt ausübend, das Gebot des Gesetzes erfüllt: „Die Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du deinen Kindern schärfen“, und von der vergangenen Herrlichkeit Zions und der Gewissheit, dass sie wiederkehren werde, mit ihnen redet.

Namentlich der Vorabend vor Ostern ist ausdrücklich für solche nationale Erinnerung bestimmt. An demselben lehnt sich der reiche Jude nach vorgeschriebenem Brauch an ein samtnes Kissen, die Lehnstühle um den Tisch her sind mit Teppichen behängt, und selbst der ärmste hat wenigstens einen Sessel, damit er sich anlehnen könne. Jeder soll sich erinnern, dass er ein Fürst und Herr gewesen, und dass er ein solcher wieder werden solle trotz der jetzigen Armut und Knechtschaft, und wenn der erste Becher des von dem Hausvater gesegneten Weins getrunken ist und die Familie von dem ungesäuerten, mit bitteren Kräutern umwundenen, Brot isst und dem gebratenen Lamm, sprechen sie: „Also war das Brot der Armut, das unsere Vater in Mizrajim (Ägypten) aßen. Jedermann, der hungrig ist, möge kommen und essen, jeder Bedürftige komme und feiere Pesach. Dies Jahr sind wir hier, das andere Jahr sind wir im Lande Israels; dies Jahr sind wir Knechte, das Jahr, das da kommen wird, sind wir gefreiete Kinder und Herren.“ Nach dem vierten Becher wird die Vorfeier beschlossen, mit dem zum lauten Geschrei sich steigernden Gebet: „Allmächtiger Gott, nun bau deinen Tempel in kurzem, gar balde, gar balde, in unseren Tagen, in kurzem, gar balde; nun bau, nun bau, nun bau, nun bau, nun bau deinen Tempel balde, in unsern Tagen!“ —


Genau nach der herkömmlichen Weise waren in der Familie Isaaks Ben Levi, die seit dem Tode seines Weibes nur aus seinem Sohne Joseph und aus einem alten Knecht bestand, die Passatage gefeiert worden. Am Mittwoch nach der christlichen Osterfeier ging das jüdische Fest zu Ende, und am Abend dieses Tages finden wir Vater und Sohn in ihrer Wohnung, die in der Mitte des Dorfes gegenüber dem Rathause stand. Es war ein schöner Frühlingstag gewesen, und sie waren während der Dämmerung in ihren festlichen Kleidern vor der Haustüre gesessen, bis die Hühner aus die Stange geflogen waren, und die ersten Sterne am Himmel sichtbar wurden. Dann waren sie nach der Vorschrift des Gesetzes ins Haus gegangen. Isaak hatte aus einer silbernen Kapsel die Wachskerze hervorgeholt, von dem Wein etwas ausgegossen und die Kerze darin verlöscht. Nach dem Abendessen, das aus mehr Gerichten, wie gewöhnlich, bestand, unterbrach Joseph das Schweigen, indem er anhub:

„Vater, wir haben am Abend vor dem Osterfeste gesagt, wie unsere heiligen Bücher vorschreiben: Dies Jahr sind wir hier, das andere Jahr sind wir im Lande Israels, dies Jahr sind wir Knechte, das Jahr, das da kommen wird, sind wir gefreite Kinder und Herrn. Glaubt Ihr, dass das wirklich geschehen wird?“

„Ich weiß es nicht, mein Sohn“, sagte Isaak. „So hab’ ich’s lesen hören am heiligen Abende des Festes von meinem Vater Levi und von meinem Großvater Aaron; aber wir sind geblieben bis jetzt Fremdlinge und Knechte, haben noch nicht gekostet die fette Milch und den süßen Honig im Lande Canaan, sondern trinken noch den bitteren Wermutwein unter den Ummôs (Weltvölkern), und essen unser Brot mit Trauren.

So oft das Fest wieder kommt, da unser Gott durch seinen Knecht Moses unsere Väter geführt aus Ägyptenland mit reichem Gute, soll ich gedenken, ich sei ein Fürst und Herr, aber, wie gesagt ist durch Amos den Propheten, unsere Feiertage sind geworden Trauertage. Es wird erst anders werden, wenn der Meschiach kommt.“

„Wann wird der kommen?“ fragte Joseph hastig.

„Ich weiß es nicht, und du sollst es auch nicht zu wissen begehren. Denn unsere Chachomim und hochweisen Rabbiner haben einen Fluch gemacht allen denen, die ausrechnen wollen die Zeit des Meschiach, und gesprochen: Verhauchen müsse Derjenigen Geist, welche die Zeiten ausrechnen, wann der Meschiach kommen soll; aber wenn er kommen wird, dann wird er, wie unsere Weisen sagen, unser Volk aus dem Goles (Exil) wieder versammeln in Canaan.“

„Wer weiß, ob einer von uns da noch lebt“, sagte Joseph, „was werden wir also dann haben?“

„Wie?“ sagte Isaak unwillig, „was wir dann haben werden? Bist du nicht seit fünf Jahren ein Bar Mizva, ein Sohn der Gebote, der die Gesetze und Zeugnisse muss wissen?“

„Wo wir auch sterben“, sagte Ruben, der alte Knecht, indem er mit näselnder Stimme das Wort ergriff, „wir werden uns unter den harten Bergen und tiefen Wassern hindurch hinwälzen bis in das heilige Land, dort werden wir lebendig werden, und der Meschiach wird den Tempel wieder bauen und wird verderben die verfluchten Gojims, wir aber werden essen mit ihm von dem Ochsen Behêmos, der alle Tage tausend Berge abweidet, und von dem großen Fisch Livjôsen (Leviathan) und dem Vogel Ziz, der, wenn er seine Flügel ausbreitet, eine Finsternis macht ans der ganzen Welt, und trinken von dem alten firnen Wein, der gleich nach der Erschaffung der Welt im Paradiese gewachsen und in Adams Keller verwahrt ist, und in schönen Kleidern einhergehen.“

Ein unbestimmtes Gefühl sagte dem Isaak, dass die Art, in welcher Ruben die Messiasherrlichkeit schilderte, nicht ganz aus den Beifall seines Sohnes zu rechnen habe. Er sprach daher: „Schweigt Ruben, Ihr redet ja so gelehrt, wie Rebbi Jehnda *), aber schweigt, bis man euch fragt. Es ist genug geredet! Geht und legt euch nieder, denn ihr müsst morgen frühe aus dem Bett sein, und du auch Joseph.“

Joseph schien den Befehl zu überhören, und als Ruben sich entfernt hatte, fragte er:

„Merkt man denn etwas davon, Vater, dass der Meschiach kommen und alles das tun werde, was Ruben sagt?“

Isaak seufzte: „Sieh um dich, wie die Gojim uns auf den Nacken treten und hinter uns her sind gleich den Vögten Pharaos, dass wir am Morgen sagen: Ach, dass ich den Abend erleben möchte! und am Abend: Ach, dass ich den Morgen erleben möchte! Gemerkt hab’ ich von ihm noch nichts, wie sollte das auch zugehen? Ist er doch noch nicht gekommen!“

*) Der Redaktor der Mischna, den Kaiser Antonin wegen seiner Weisheit bewunderte.

„Wie sangt man es dann aber an, das zu glauben, was der Ruben gesagt hat?“ fragte Joseph.

„Was sind das für Reden, was braucht ein Israelite erst etwas zu merken, um zu glauben? Man glaubt eben“, antwortete Isaak mit halb geschlossenen Augen und hinausgezogener Oberlippe, wie einer, der die nachdrücklichsten Worte ausbietet, um einem unnützen Frager den Meister zu zeigen. „Der weise Schelomo Jizchok, einer unserer großen Chachomim, spricht: Wenn der Rabbi sagt zu dir von der rechten Hand, dass sie die linke sei, und von der linken, dass sie die rechte sei, sollst du dich darnach halten. Verstanden?“

„Die Christen“, fing Joseph wieder an, nachdem er eine Weile in Gedanken versunken dagesessen, „feiern auch ein Osterfest, warum denn?“

„Warum? Sie sagen, der Nazarener, den unser hoher Rat gekreuzigt, sei an dem Tage wieder lebendig geworden.“

„Wo sagen sie denn, dass jetzt der Nazarener sei?“

„Sie sagen, er sei im Himmel und werde wiederkommen und sie, nachdem sie gestorben sind, auch einst wieder lebendig machen.“

„Glauben sie denn das?“

„Was soll ich sagen? Ich kenne solche von ihnen, die glauben’s nicht, ich kenne auch solche, die glauben’s.“

„Welche sind die schlimmsten, die das glauben, oder die das nicht glauben?“

„Was geht das dich und mich an? Mach’ ein Ende dem Gespräch, leg dich lieber nieder, Joseph, denn morgen, wenn die Sonne herauskommt über die Berge, sollst du reisen. Der Schlossbauer und seine Leute glauben’s“, sagte er nach einer Weile, da Joseph immer noch auf eine Antwort zu warten schien, „und die sind nicht die schlimmsten.“

„Merken die Christen was von ihrem Meschiach?“ fragte Joseph wieder.

„Wenn sie gescheit sind“, sagte Isaak, „merken sie was, nämlich dass der Nazarener sie belogen und betrogen hat — das merken sie.“

„Aber der Jörg Habermann war doch ein kluger Mann, und der hat etwas von ihm gemerkt.“

„Was hat der Jörg Habermann von ihm gemerkt?“ fragte Isaak ärgerlich.

„Nun ihr wisst, wie der Maleach Hamoves neben ihm stand mit dem Schwert und dem Gifttropfen, da ist sein Angesicht geworden, als wenn er zu einer Hochzeit gehen sollte, und er hat gerufen mit starker Stimme, wie ein sterbender Held, der sein Heer siegen sieht, dass der Nazarener bei ihm stehe mit seinen durchgrabenen Händen und“ —

„Weh geschrien, was hat er gesagt? Schweig“, rief Isaak zornig. „Nichts hat er gesagt, geredet hat er, wie ein törichter Goi redet, und das soll kein Bar Mizva ihm nachsprechen. Was geht dich der Habermann an? Geh, mein Sohn, geh und leg dich schlafen, bis ich dich aufwecken werde.“

„So geht ihr auch zur Ruhe!“ sagte Joseph aufstehend.

„Ich? Joseph, ich zur Ruhe gehen? Diese Nacht, wo mein Sohn zum letzten Mal schläft unter meinem Dach? Nein, in meine alten Augen wird kein Schlaf kommen. Ich will wachen und beten in unsern heiligen Büchern, dass meine Seele sich tröste, und mein Herz mir nicht zergehe wie Wachs, wenn mein Sohn morgen sein Angesicht in die Fremde wendet.“

Wahrscheinlich um seine Tränen zu verbergen war er aufgestanden, und, seinem Sohne den Rücken kehrend, ans Fenster getreten, dessen Scheiben er wischte, um hinaus in die Mondnacht zu blicken. Aber an seinen tiefen Seufzern war zu bemerken, dass der Schmerz keineswegs im Abnehmen sei.

Während Joseph mit dem besorgten Blick kindlicher Liebe schweigend ihn betrachtete, kehrte sich der Alte plötzlich um und sagte unter fortwährendem Schluchzen:

„Gedenkst du noch, Joseph, des Tags, da du zum ersten Mal in die Schule zum Rabbi geführt wurdest?“

„O ja wohl! Meine Mutter gab mir süße Kuchen, mit Zucker und Honig angemacht, und sprach: „Also soll dir süß werden, mein Kind, das Gesetz in deinem Herzen und aus deiner Zunge; dann wird die Herrlichkeit Gottes über deinem Haupt ruhen“ — und dabei weinte sie sehr, dann habe ich sie acht Tage nicht mehr gesehn, und ihr hattet mir verboten nach ihr zu fragen, warum? —weiß ich nicht.“

„Du sollst’s hören. Siehst du das Halseisen?“ sagte Isaak und deutete auf das gegenüberliegende Rathaus, an dem dies Wahrzeichen der Dorfjustiz im Mondlicht deutlich zu sehen war. „Sie hatte von den süßen Kuchen, die sie gebacken für dich, auch einem Christenkind gegeben und das Kind war krank geworden. Da sagte des Kindes Vater: die Jüdin hat das Kind vergiften wollen, und der Amtmann befahl, dass sie dort mit dem Eisen um ihren Hals ausgestellt und hernach acht Tage ins Loch gesperrt würde. Siehe! dort hat sie gestanden deine Mutter Rebekka, und sie haben Zeter über sie geschrieen und sie geworfen mit faulen Äpfeln, und eingesperrt bei Wasser und Brod — und darum weinte sie, als sie eine Stunde zuvor dich fortschickte zum Rabbi und drum durftest du acht Tage lang nicht nach ihr fragen. So haben die Gojim an deiner Mutter getan und an deines Vaters Haus, und daran sollst du dir merken was ein Goi ist.“

„Wie?“ fragte Joseph, vor Schmerz und Wut bebend, „und es hat keiner sich ihrer angenommen und keiner ein gutes Wort für sie eingelegt?“

„Dass ich die Wahrheit sage“, erwiderte der Alte, „ja! doch etliche! Der Konrad, ob er gleich nur erst ein kleiner Springinsfeld war, lief unter den Haufen und schlug und biss die Knaben, welche sie geworfen hatten, und sagte, des Josephs Mutter sei eine gute Frau, und es dürfe keiner sie werfen, und der Schlossbauer rief mit lauter Stimme, die Jüdin sei mehr wert, als der Amtmann, und wer sie eine Giftmischerin schelte, der habe es mit ihm, dem Veit Hollenstein, zu tun, und der alte Habermann erbot sich zur Herrschaft zu gehen und den Amtmann zu verklagen, dass er aus Bosheit gehandelt, und ich wollte auch mit in meinem großen Zorn. Aber ich zählte erst sieben Mal alle Knöpfe an meinem Rock, ehe ich ja sagte, — da ward ich wieder kalt und dachte, was soll ich mir den Amtmann zum Feind machen? so bin ich zu dem Amtmann gegangen, statt zu der Herrschaft, und hab mich bedankt für die gnädige Strafe, aber ich habe meine Rache befohlen dem Gott Israels, dass er diese Gojim und ihre Obersten und Amtleute zerschlage mit eisernem Szepter und ihre Namen austilge aus dem Buch des Lebens.

Aber nun geh’, Joseph, gehe, kein Wort mehr!“ schloss er seine Rede, als dieser noch etwas erwidern wollte, „geh’ und lass mich allein und ruhe deine Glieder aus bis Morgen, denn du hast einen großen Weg vor dir.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Christ und Jude