Chinas Erwachen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Themenbereiche
Enthaltene Themen: China, Chinese, Peking, Canton, Volkstum, Volkskörper, Nation, Fortschritt,
Mächtiger als je in der chinesischen Geschichte ist die Erkenntnis erwacht, dass Mittel und Wege gefunden werden müssen, um China nach innen und nach außen so stark zu gestalten, dass ihm kein Gegner etwas anhaben kann. Die letzten Jahre haben auf das chinesische Nationalgefühl, soweit man von einem solchen überhaupt sprechen kann, befruchtend gewirkt. Träger eines nationalen Gedankens waren bereits eine ganze Anzahl im öffentlichen Leben vorhanden, doch war ihre Zahl noch zu klein, um die Massen nachhaltig zu beeinflussen. Denn der Trieb zur Erstarkung ist dem chinesischen Volk nicht angeboren. Dieses Volk muss erst durch Ereignisse, die eine unverkennbare Sprache reden, gezwungen werden, sich auf seine Kraft zu besinnen. Die chinesische Geschichte lehrt, dass, wenn immer das sich von der übrigen Welt abschließende China einen starken Stoß von außen erhielt, sich Anzeichen einer inneren Festigung bemerkbar machten.

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Von nachhaltiger Wirkung auf die Erstarkung Chinas zweifellos der Russisch-Japanische Krieg, nach dem eine lebhaftere Reformtätigkeit in Peking einsetzte. Die japanische Politik der letzten Jahre in China muss als das nächstgrößere Ereignis angesprochen werden, das einen seltsamen Einfluss auf Regierung und Volk ausgeübt hat. Kein vernünftiger Chinese verschließt sich heute der Tatsache, dass sein Vaterland seine Unabhängigkeit einbüßen muss, wenn in den alten Bahnen wie bisher weitergewandelt wird. Und es ist ein Kennzeichen für den Fortschritt der neuen Gedanken in China, dass die im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen erwachende Vaterlandsliebe sich längst nicht mehr auf den kleinen Kreis der fortschrittlich gesinnten Gebildeten beschränkt. Die Führer der Bewegung, die ein starkes, selbständiges China schaffen wollen, das nicht mehr der Willkür der „fremden Teufel“ ausgesetzt ist, haben nicht versäumt, die heranwachsende Jugend für ihre Gedanken zugewinnen. Was jetzt am treffendsten durch die große Studentenbewegung zum Ausdruck gekommen ist. Schon seit einer Reihe von Jahren regt sich der neue Geist im chinesischen Volkskörper. Mit Urgewalt hat es die alten Staatsformen gesprengt; die ehernen Gesetze und übernommenen Einrichtungen, die in Verbindung mit dem Leben des Volkes unwandelbar schienen, sind wie mürber Zunder zerfallen. Das Volk hat sich eine neue Staatsform geschaffen und ist daran, die Lücken auszubauen. Es ist der Wille zu einem neuen Aufstieg der gelben Rasse, der heute deutlich zutage tritt.

Kang-Yu-wei, der bekannte Reformer und intime Freund des Kaisers Kuang-Hsü, erklärte auf die Frage, in welcher Entwicklung das Heil Chinas beruhe: „In seiner inneren Stärke. Es muss alles getan werden, um unsere vierhundert Millionen zu vereinigen. Dann ist China stark nach außen.“

Das ist auch der Grundton, der jetzt die Leitartikel der chinesischen Presse durchzieht. Die Presse und die Einsicht des chinesischen Beamten- und Volkstums haben gerade in den letzten Monaten zur Stärkung des nationalen Gedankens, die nur durch eine das Volk und die Regierung durchziehende Einigkeit möglich war, Wunder gewirkt.

Auch heute wird es dem Ausländer, der nicht den Herzschlag einer bisher ungekannten Entwicklung innerhalb des chinesischen Volkskörpers zu hören versteht, schwerfallen, einen Unterschied zwischen dem China von gestern und heute festzustellen. Dass China Republik geworden ist, dass ein den Forderungen der neuen Zeit gerecht werdendes Beamtentum herrscht, dass überall Fabriken nach westländischem Vorbild entstehen, die die Industrialisierung des Landes einleiten, das alles sind zwar Dinge, die auf Fortschritt deuten, sie sind jedoch nur äußerlich vom Ausland übernommene Einrichtungen. Die Unterschiede liegen tiefer, sie sind in der Wandlung der chinesischen Ansichten über das Verhältnis des einzelnen Beamten und Bürgers zu der Gesamtheit des Staates zu suchen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die schriftstellerischen Arbeiten des alten Politikers Liang-Chi-chao, der „der Fichte der chinesischen Nation“ genannt wird, Früchte zu tragen beginnen. Er war der Mann, der bereits vor dreißig Jahren sein Volk aus langem Winterschlaf aufzurütteln versuchte. Mit der ihm angeborenen glänzenden Beredsamkeit und einem Stil des Ausdrucks, dessen Flüssigkeit und Keckheit in der streng literarisch erzogenen gelehrten Welt Grimm und Staunen erregten, verkündete er seine politischen Lehren. In zahlreichen Schriften hat der unermüdliche Liang-Chi-chao dem chinesischen Volk einzuhämmern versucht, dass jeder einzelne aus seiner egoistischen Beharrung aufwachen solle, dass ein einziges Zucken durch das gesamte Volk fahren müsse und ein einziges Empfinden geschaffen werden solle – das Empfinden, nicht nur um seiner selbst, sondern auch des Vaterlandes willen zu leben, das tatenfrohe Männer und Bürger braucht, die einen ernsten Anteil an allen Angelegenheiten des Staates nehmen.

Liang-Chi-chao wird heute mit großer Genugtuung feststellen können, dass unter seinen Landsleuten das nationale Gewissen erwacht ist. Das Volk wird allerdings noch einen längeren Erziehungsprozess durchmachen müssen, ehe ihm der nationale Gedanke in den Gesamtmassen fest verankert ist. Dann wird die Erstarkung des nationalen Gedankens die Brücke zwischen Volk und Regierung schlagen und ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis anbahnen, das man in der Geschichte Chinas der letzten Jahrhunderte sehr zum Schaden der staatlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes vermisst hat.

Der Schlüssel zu der nationalen Erhebung, die vor kurzem die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich lenkte, ist in den früher mit den fremden Mächten abgeschlossenen Verträgen zu suchen, die nach chinesischer Ansicht die territoriale Unverletzlichkeit und die politische Selbständigkeit Chinas auf das schwerste beeinträchtigen und seine Zoll- und Gerichtshoheit zunichtemachen.

In China, das Jahrtausende lang auf sich selbst gestellt und von der Außenwelt gänzlich abgeschlossen war, wird man sich bewusst, dass man beim Beginn der Aufnahme von Beziehungen zu ausländischen Staaten nicht verstanden hat, eine den Interessen des Landes angemessene Haltung einzunehmen. Die ungerechten Verträge seien dem Lande durch Zwang aufgedrängt worden. China verlangt jetzt die Aufhebung dieser Verträge, die übrigens schon bei ihrem Abschließen nicht die Billigung aller chinesischen Staatsmänner gefunden haben. Denn der bekannte Sir Robert Hart, der lange Jahre als Generalinspektor an der Spitze des chinesischen Zollwesens gestanden hat, erzählt in seinem Chinabuch, dass während der Verhandlungen, die wegen der nie in Kraft getretenen Konvention im Jahre 1868 geführt wurden, der damalige chinesische Ministerpräsident Wen-Hsiang ausgerufen hat: „Streichen Sie die Exterritorial-Klausel aus den Verträgen, so werden wir den Handelsleuten und Missionaren keine Hindernisse in den Weg legen, sich niederzulassen, wo es ihnen beliebt.“

Sir Hart bemerkt dazu, dass keine der Mächte damals auf diesen Vorbehalt verzichten konnte. Sie alle würden sagen, China müsse erst die Folter abschaffen, neue Gesetze schaffen, das ganze gerichtliche Verfahren umgestalten und sich den Gebräuchen christlicher Völker anbequemen, ehe deren christliche Untertanen der einheimischen Gerichtsbarkeit unterstellt werden könnten.

Die chinesische Regierung stellte bereits während der Pariser Friedensverhandlungen den Antrag, die Exterritorialität der Ausländer in China aufzuheben. Das Ersuchen wurde abgewiesen. Erst auf der Washingtoner Abrüstungskonferenz gelang es den Chinesen, die Mächte zu bewegen, der Frage näherzutreten. Es wurde beschlossen, eine Kommission zu ernennen, die sich in China davon überzeugen sollte, ob die chinesische Gesetzgebung sich in dem erforderlichen Grade entwickelt habe, um die Aufhebung der Exterritorialität zu rechtfertigen.

Die Kommission ist nie in China eingetroffen. Denn als kurz nach der Konferenz in Washington das Chaos begann, die von Yuan so gut aufgerichtete Staatsmaschine in die Brüche ging, die Bewegung zur Festigung sich in eine gegenläufige Bewegung fortschreitender Auflösung verwandelte, da hörte man nichts mehr von der Kommission.

Fast an allen Ecken und Enden des Landes erhob sich die Unordnung. Die Räuberplage wurde zu einer bleibenden Einrichtung. Aber die früheren altfränkischen Methoden, altfränkische Bewaffnung und eine gewisse altfränkische Räubermoral, wenn man so sagen darf, wandelten sich unter dem Eindringen der sogenannten modernen Errungenschaften und Begriffe, vor allem der modernen Waffen, einerseits und der allgemeinen Verwirrung der bürgerlichen und sittlichen Anschauungen durch die Phrasen und Praktiken der Revolution anderseits in ein ganz neues Räubertum, in dem sich dank der „modernen Ideen“ lediglich die alte Grausamkeit auch noch von den alten Rücksichten und Grundsätzen, zum Beispiel gegenüber den ärmeren Klassen, befreit.

Im August 1924 übersandte die chinesische Regierung dem diplomatischen Korps in Peking eine sechs Paragraphen enthaltende Note, in der abermals die Aufhebung der Exterritorialität und die Unterstellung der Ausländer unter chinesische Gerichtsbarkeit gefordert wurde. In der Note wurde betont, dass mit den Untertanen der Mächte ohne Exterritorialität gerichtlich wie mit den Chinesen selbst umgegangen werden würde.

Allerdings ist bereits gegen Ende der Mandschuregierung infolge der Reformbewegung eine neue chinesische Gesetzgebung nach westländischem Muster eingeführt worden, weil man damals ein Einschreiten der Mächte befürchtete. Sie wurde „Chen Hsing Hssing Fa Lü“ oder ,„Provisorisches Strafgesetzbuch“ genannt und umfasst gegen dreihundert Paragraphen. An Stelle der Enthauptung wurden Hängen und Erdrosselung gesetzt, Gefängnis anstatt Prügelstrafe. Auch die republikanische Regierung hat diese Gesetzgebung übernommen, sie sollte doch nach Gutdünken ausgelegt werden.

Nach dem Chmajahrbuch von 1924 betrug die Zahl der Angehörigen der nichtexterritorialen Mächte (Deutsche, Österreicher, Ungarn und Russen) 69.553 Personen, während die exterritorialen Mächte (Amerikaner, Belgier, Brasilianer, Briten, Dänen, Niederländer, Franzosen, Italiener, Mexikaner, Norweger, Portugiesen, Spanier und Schweden) insgesamt nur 27.782 Angehörige zu verzeichnen hatten, wozu noch 144.434 in China lebende exterritoriale Japaner kamen. Unter den nichtexterritorialen Mächten sind die aus der Heimat vertriebenen Russen am zahlreichsten vertreten.

Die Ententemächte haben vor kurzem der chinesischen Regierung nochmals zu verstehen gegeben, dass sie bereit seien, Chinas Forderungen zu erwägen und dem Gedanken betreffs Aufhebung der Exterritorialität näherzutreten, sobald es geordnete Zustände und eine kompetente Regierung nachweisen könne, die Sicherheit für Leben und Eigentum der Ausländer verbürgen. China hat diese problematische Mitteilung mit einem Boykott englischer und japanischer Waren auf die Dauer eines Jahres beantwortet, also mit einer passiven Resistenz, der noch weitere Maßnahmen folgen dürften.

Die große chinesische See- und Handelsstadt Schanghai an der Mündung des Jangtsekiang. Im Hintergrund das neue Hauptpostgebäude

Eine bolschewistische Kundgebung in Canton. Die Stadt ist der Herd der bolschewistischen Bewegung im südlichen China. In einer von Russen geleiteten Militärschule werden dort Anhänger; des Bolschewismus ausgerüstet und ausgebildet (Wipro)

Der Schiffs- und Bootverkehr inmitten Schanghais
Die Nankingstraße, eine der Hauptverkehrsadern in Schanghai

China, Das Vergnügungsviertel in Canton mit Tee- und Spielhäusern. Gegenüber den Teehäusern liegen unzählige sogenannte Blumenboote

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China, Der Schiff- und Bootsverkehr inmitten Schanghais

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China, Die Große chinesische See- und Handelsstadt Schanghai an der Mündung des Jangtßekiang. Im Hintergrund das neue Hauptpostgebäude

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China, Die Nankingstraße, eine der Hauptverkehrsadern in Schanghai

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China, Eine bolschewistische Kundgebung in Canton

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