Kapitel 25 - Ein unterbrochenes Spiel.

Im Verlauf der folgenden Wochen gab es in den Salons und Bürgerstuben der Stadt allerlei sonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß das Gerede bestimmte Formen annahm, wollte man doch in dem plötzlichen Tod des Präsidenten Feuerbach auch weiterhin nichts sehen als die Frucht einer mysteriösen Verschwörung. Eine greifbare Äußerung fiel natürlich nicht; die Flüsterer nahmen sich in acht. Sehr insgeheim raunten sie sich zu, auch Lord Stanhope sei an dieser Verschwörung beteiligt, und nach und nach tauchte das bestimmte Gerücht auf, der Lord gehe damit um, einen Kriminalprozeß gegen Caspar Hauser anzustrengen, und habe sich zu dem Ende schon der Hilfe eines bedeutenden Rechtsgelehrten versichert. Auf einmal bekannte sich kein Mensch mehr zu dem früheren Enthusiasmus für den Grafen, das großartige Andenken, das er hinterlassen, war verwischt, und in einigen maßgebenden Familien, wo er der Abgott gewesen, sprach man bereits mit ängstlicher Vorsicht seinen Namen aus.

Caspars Freunde wurden besorgt. Frau von Imhoff suchte eines Tages den Polizeileutnant auf und erkundigte sich, was von dem Gemunkel zu halten sei. Mit kühlem Bedauern erwiderte Hickel, daß die öffentliche Meinung in diesem Punkt nicht fehlgehe. „Das Blatt hat sich eben gewendet,“ sagte er; „Seine Lordschaft sieht in Caspar Hauser jetzt nur einen gewöhnlichen Schwindler.“


Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizeileutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne Gruß.

Ei, die sanften Seelen, höhnte Hickel für sich, das Grausen faßt sie an.

Hickel hatte eine neue Wohnung auf der Promenade gemietet und lebte wie ein großer Herr. Woher mag er die Mittel haben? fragten die Leute. Er hat Glück am Kartentisch, sagten einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er fortwährend große Summen verliere.

Auch damit war der Gesprächsstoff nicht erschöpft. Eine andre Seltsamkeit: Im Sommer war aus der Infanteriekaserne ein Soldat auf unaufgeklärte Weise verschwunden. Zu andrer Zeit wäre ein solches Ereignis vielleicht unbeachtet geblieben. Jetzt hefteten sich auch daran allerlei Fabeleien. Es wurde gesagt, jener Soldat, der den Hauser beaufsichtigt, habe von gewissen Geheimnissen Kenntnis erhalten und sei beiseitegeschafft worden. Man wurde furchtsam; man verschloß bei Nacht sorgfältig die Haustüren. Es war nicht mehr geheuer in der guten, stillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde beargwöhnt.

Selbst Frau von Kannawurf erfuhr solchen Argwohn, wenngleich um sie etwas Unantastbares war, das den verleumderischen Worten die Kraft raubte. Dennoch fiel es auf, daß sie sich des Umgangs mit ihresgleichen entzog und sich anstatt dessen häufig unter Menschen der niedersten Volksklasse herumtrieb. Sie verbrachte viele Stunden in geistlosem Gespräch mit Bauernweibern und Arbeiterfrauen, stieg zu ihrem Türmer hinauf oder gesellte sich zu den Kindern, die von der Schule heimkehrten. Da geschah es denn oft, daß sie zum maßlosen Staunen der begegnenden Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben und Mädchen um sich versammelt hatte und in ihrer Mitte lächelnd durch die Gassen zog.

Wahrscheinlich ist sie eine Demagogin, hieß es. Gesinnungstüchtige Eltern verboten ihren Sprößlingen, sich an den skandalösen Aufzügen zu beteiligen. Kein Zweifel, auch die Behörde fand das Treiben anstößig, denn einmal am Abend hatte man beobachtet, daß der Polizeileutnant vor dem Imhoffschlößchen Posten faßte; zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit unbeweglich unter einem Baum gestanden.

Es ist wahr, Frau von Kannawurf war eine auffallende Person und benahm sich auffallend. Aber ihre kuriosen Handlungen hatten einen Anschein von Leichtigkeit, ja Lässigkeit. Sie hatte eine Art von Lächeln, in welchem sich selbstvergessene Hingebung an irgendein Gedachtes, Gefühltes mit der Verzweiflung über die eigne Unzulänglichkeit aufs rührendste mischten. Sie lebte an allem und in allem, starb mit jedem Seufzer gleichsam dahin, flog mit jeder Freude in eine entrückte Region.

Eines Abends im August trat sie ins Zimmer ihrer Freundin, warf sich wie atemlos vom Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu sprechen fähig.

„Was hast du nur wieder getrieben, Clara?“ sagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt nicht leben, das heißt sich verbrennen.“

„Es hilft nichts,“ murmelte das junge Weib erschlafft, „ich muß reisen.“

Frau von Imhoff schüttelte liebenswürdig tadelnd den Kopf. Diese Worte hatte sie seit drei Monaten des öfteren vernommen. „Bis zu unserm Familienfest wirst du doch noch bleiben, Clara,“ erwiderte sie herzlich.

Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal dazu, einen Entschluß nicht auszuführen, sagte Clara von Kannawurf zu sich selbst; und nach einer Pause des Schweigens wandte sie das Gesicht der Freundin entgegen und fragte: „Warum, Bettine, kannst du Caspar nicht zu dir ins Haus nehmen? Er soll und darf nicht länger beim Lehrer Quandt bleiben. Dieses Haus zu betreten ist mir unmöglich. Seine Lage ist schauderhaft, Bettine. Wozu sage ich dir das! Du weißt es, ihr wißt es ja alle; ihr bedauert es alle, aber keiner rührt nur den Finger. Keiner, keiner hat den Mut zu tun, was er getan zu haben wünscht, wenn das geschehen ist, was er im stillen fürchtet.“

Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht unglücklich genug, um mit Aufopferung des eignen einem fremden Schicksal mich hinzugeben,“ versetzte sie endlich.

Clara stützte den Kopf in die Hand. „Ihr lest ein schönes Buch, ihr seht ein ergreifendes Theaterstück und seid erschüttert von diesen nur eingebildeten Leiden,“ fuhr sie bewegt und eindringlich fort. „Ein trauriges Lied kann dir Tränen entlocken, Bettine; erinnere dich nur, wie du weintest, als Fräulein von Stichaner neulich den ›Wanderer‹ von Schubert sang. Bei den Worten: Dort, wo du nicht bist, ist das Glück, hast du geweint. Du konntest eine Nacht lang nicht schlafen, als man uns erzählte, drüben in Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind verhungern lassen. Warum ist es immer nur das Unwirkliche oder das Ferne, woran ihr eure Teilnahme verschwendet? Warum immer nur dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und nicht dem lebendigen Menschen, dessen Not handgreiflich ist? Ich versteh’ es nicht, versteh’ es nicht, das quält mich, daran, ja daran verbrenn’ ich.“

Das leise, melodische Stimmchen verging in einem Hauchen. Frau von Imhoff stützte den Kopf in die Hand und schwieg lange. Dann erhob sie sich, setzte sich neben Clara, streichelte die Stirn der Freundin und sagte: „Sprich mal mit ihm. Er soll zu uns kommen. Ich will es durchsetzen.“

Clara umschlang sie mit beiden Armen und küßte sie dankbar. Aber nicht mit freiem Herzen hatte Frau von Imhoff diesen Entschluß gefaßt, und sie atmete seltsam erleichtert auf, als ihr am andern Tag Frau von Kannawurf die Eröffnung machte, Caspar habe sich unbegreiflicherweise hartnäckig gegen den Vorschlag gesträubt, das Haus des Lehrers zu verlassen. Zuerst habe er keinen Grund für seine Weigerung nennen wollen, als er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe er gesagt: „Dort hat man mich hingebracht, und dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es heißt, beim Lehrer Quandt hat er’s nicht gut genug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die Imhoffs genommen. Ich hab’ ja mein Brot und mein Bett, mehr brauch’ ich nicht, und das Bett ist das Allerbeste, was ich auf der Welt kennen gelernt habe, alles andre ist schlecht.“

Da fruchtete keine Einrede mehr. „Schließlich könnt ihr ja mit mir anstellen, was ihr wollt,“ fügte er hinzu, „aber daß ich freiwillig hingehen soll, das wird nicht geschehen. Wozu auch? Lang kann’s nimmer dauern.“

So war ihm denn das Wort entschlüpft. War deshalb der tiefe Glanz in seinen Augen? Blickte er deshalb mit stummer Spannung die Straßen entlang, wenn er morgens zum Appellgericht ging? War’s deswegen, daß er stundenlang am Fenster lehnte und hinüberspähte gegen die Chaussee? Daß er gierig aufhorchte, wenn er irgendwo zwei Menschen leise miteinander reden sah? Daß er täglich dabei sein mußte, wenn der Postwagen ankam, und daß er den Briefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe?

Dem rätselhaften Wesen tat die Zeit keinen Abbruch. Es lag Frau von Kannawurf daran, ihn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem innigen Verhältnis zur umgebenden Welt entziehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen mußte. Sie sann immer auf Ablenkung, und jenes Familienfest, von dem ihre Freundin Bettine gesprochen, gab Gelegenheit, damit Caspar wieder einmal aus sich heraus und einer anteilvollen Welt gegenübertrete.

Die Feier wurde von Herrn von Imhoff zu Ehren der Goldenen Hochzeit seiner Eltern veranstaltet und sollte am zwölften September stattfinden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des Hauses, hatte zu der Gelegenheit ein sinnreiches Bühnenspiel in Versen verfaßt, welches von einigen Damen und Herren der Gesellschaft ausgeführt werden sollte. Bei den Proben, die im oberen Saal des Schlosses abgehalten wurden, zeigte es sich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle eines stummen Schäfers darstellte, seines plumpen Benehmens halber unfähig war, den Part zu gewünschter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau von Kannawurf, die selbst mitspielte, den Einfall, diese Rolle Caspar zu übertragen. Die Anregung fand Beifall.

Caspar willigte ein. Da er eine Person vorzustellen hatte, die nichts zu sprechen brauchte, glaubte er sich der Aufgabe leichterdings gewachsen, die seiner alten Neigung für das Theater entgegenkam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenngleich das phrasenhafte Wesen des Stücks nicht eben sein Gefallen erweckte, so erfreute er sich doch an der wechselvollen Bewegung innerhalb eines abgemessenen Vorgangs.

Das harmlose Spiel hatte einen berechneten und für das Publikum unschwer durchschaubaren Bezug auf ein schon weit zurückliegendes Ereignis in der Familie der Imhoffs. Einer der Brüder des Barons hatte sich zu Anfang der zwanziger Jahre an burschenschaftlichen Umtrieben beteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch des Vaters und nebenbei von den politischen Behörden verfolgt, nach Amerika entflohen. Nach erlassener Amnestie war er zurückgekehrt, hatte vor dem Familienhaupt alle freiheitlichen Ideen abgeschworen, und von da ab hatte ihm die väterliche Gnade wieder geleuchtet.

Diese etwas philiströse Begebenheit hatte den Hauspoeten zu seiner Dichtung begeistert. Ein König gibt einem ihn besuchenden Freund und Waffengenossen ein Gastmahl. Ein zweiter Polykrates, brüstet er sich bei diesem Anlaß mit seiner Macht, dem Frieden seiner Länder, den Tugenden seiner Untertanen. Die Höflinge an der Tafel bestärken ihn voll schmeichlerischen Eifers in seinem Glückswahn, nur der Gastfreund wagt das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des Herrschers doch einen Makel bemerke. Der König fühlt sich getroffen und läßt jenen hart an, auch weiß er zu verhindern, daß der Freund weiterspreche, da seine Gemahlin Zeichen eines großen Seelenschmerzes von sich gibt. Unterdessen ziehen im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit Lachen und munteren Zwiegesprächen auf, und Musik begleitet die Erntefeier. Plötzlich entsteht ein Stillschweigen; die Geigen, die Rufe, das Gelächter verstummen, und auf die Frage des Königs wird mitgeteilt, der schwarze Schäfer, der sich schon seit Menschengedenken nicht im Land habe sehen lassen, sei unter das Volk getreten. Der Gastfreund begehrt zu wissen, was für eine Bewandtnis es mit diesem Schäfer habe, und man antwortet ihm, der Wunderbare besitze die Gabe, durch seinen bloßen Anblick bei jedem Menschen die Erinnerung an dessen stärkste Schuld wachzurufen, Schuldlose aber den Gegenstand langgehegter Sehnsucht schauen zu lassen. Zur Bestätigung dessen hört man auch aus der Mitte des Volkes Weinen und allerlei klagende Töne. Der König befiehlt, daß sich der Fremdling entferne, doch die Königin, unterstützt von den Bitten des Gastfreunds und der Höflinge, fleht den Gemahl an, ihn heraufkommen zu lassen. Der König fügt sich, und alsbald betritt der stumme Schäfer die Szene. Er schaut den König an; der verhüllt sein Gesicht; er schaut die Königin an, und diese, dunkel ergriffen, ergeht sich in einem längeren Selbstgespräch, aus welchem deutlich wird, daß ihr erstgeborener Sohn wegen einer unbesonnen angestifteten Verschwörung vom Vater verstoßen wurde und seitdem verschollen ist. Mit ausgebreiteten Armen, unwiderstehlich gezogen, geht sie auf den Schäfer zu, und siehe, es ist der reuig zurückgekehrte Prinz. Man erkennt, man umarmt ihn, das Eis des königlichen Herzens schmilzt, und alles löst sich in Wonne auf.

Caspar benahm sich nicht ungeschickt. Im Lauf der Vorbereitungen fand er von sich selbst aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte sich so hinein, als ob sein alltägliches Leben von ihm abgelöst wäre. Ähnlich verhielt es sich mit Frau von Kannawurf, die die Königin machte; auch sie gab sich ihrer Aufgabe mit einem Ernst hin, der das Spielhafte des Vorgangs undienlich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner schattenhaft werden ließ. So webten die beiden gleichsam in einer eignen Welt für sich.

Es war ein sehr warmer Septembertag, als gegen sechs Uhr abends die geladenen Gäste erschienen, im ganzen etwa fünfzig Personen, die Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert, die Männer in Fräcken und gestickten Uniformen. Das Podium für die Komödie nahm die Schmalwand des Saales völlig ein, Kulissen und Requisiten, auch eine Anzahl Statisten waren vom Direktor des Schloßtheaters zur Verfügung gestellt worden. Die Tafel befand sich in einem Nebensaal; dort hatte sich auch die Musikkapelle eingefunden, denn nach dem Essen sollte getanzt werden.

Um sieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen, alles begab sich auf die Plätze. Der Vorhang rollte auf, und der König begann seine überhebliche Tirade. Der Gastfreund, vom Verfasser selbst gemimt, hielt respektvollen Widerpart, dann kam das heitere Zwischenspiel auf dem Hof, und das Folgende nahm seinen ruhigen Fortgang. Nun trat Caspar auf. Das schwarze Gewand kleidete ihn trefflich und hob die Blässe seines Gesichts. Sein Erscheinen auf der Bühne hatte eine unmittelbare Wirkung. Das Husten und Räuspern hörte auf; Totenstille entstand. Wie er den König und die Königin anblickte, wie er auf sie zuschritt und traumhaft lächelte, das war ergreifend. Einige sahen ihn sogar zittern und beobachteten, daß sich seine Finger wie im Krampf in die Hand schlossen. Nun der Monolog der Königin; auch dies klang anders, als Schauspieler sonst sich geben, sie tritt an den Jüngling heran, sie legt die Arme um seinen Hals ...

In diesem Augenblick eilte ein Mann aus dem Hintergrund des Saales bis vor die Rampe und rief ein gellendes: „Halt!“ Die Spieler auf der Szene fuhren erschrocken zusammen, die Zuschauer erhoben sich, und eine allgemeine Unruhe entstand. „Wer ist das? Wer wagt das? Was gibt’s?“ wurde durcheinander gerufen; man drängte nach vorn, die Frauen schrien ängstlich, Stühle wurden umgeworfen, und nur mit Mühe gelang es dem Hausherrn, eine gefährliche Panik zu verhüten.

Indes stand der Urheber der Verwirrung noch immer unbeweglich vor dem Podium. Es war Hickel. Bleich und feindselig stierte er auf die Szene und schien nichts zu gewahren außer Caspar und Frau von Kannawurf, die, aneinander gedrängt, furchtsam in den verdunkelten Saal schauten. Der erste, der sich an Hickel wandte, war der junge Doktor Lang. In seinem Phantasiekostüm des „Gastfreundes“ trat er an den Rand der Estrade und fragte wütend nach dem Grund einer so unverantwortlichen Handlungsweise.

Der Polizeileutnant holte tief Atem und sagte laut mit einer gläsernen Stimme: „Ich muß die hochgeehrte Versammlung tausendmal um Entschuldigung bitten, und da ich selbst zu den hier Geladenen gehöre, wird meine Versicherung vielleicht Glauben finden, daß mir ein solcher Schritt nicht leicht geworden ist. Aber ich kann nicht dulden, daß der Hauser ein frivoles Amüsement zu einer Stunde fortsetzt, wo ich die Nachricht von einem schrecklichen Unglück erfahren habe, das ihn wie keinen andern trifft und für sein ferneres Leben von folgenschwerer Bedeutung sein wird.“

Finstere, neugierige und unwillige Augen blickten auf den Polizeileutnant. Der Doktor Lang entgegnete zornig: „Unsinn! Eine Teufelei ist es, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen ist, so kann weder ich noch irgend jemand von den Anwesenden Ihnen das Recht zu einer so groben Eigenmächtigkeit zugestehen. Ist es schlimm, was Sie zu melden haben, so war um so mehr Grund zu warten, unser Spiel war ja am Ende. Es ist ein Wahnsinn, ein Mißbrauch der Gastfreundschaft.“

„Jawohl, der Doktor hat recht,“ riefen einige Stimmen.

Hickel senkte den Kopf und legte die Hand vor die Stirn.

„Darf ich wissen, worum es sich handelt?“ trat nun Herr von Imhoff dazwischen.

Hickel raffte sich empor und erwiderte dumpf: „Graf Stanhope hat seinem Leben freiwillig ein Ende gemacht.“

Es entstand eine lange Stille. Fast alle blickten auf Caspar, der gegen eine Soffitte lehnte und langsam die Augen schloß.

„Er hat sich erschossen?“ fragte Herr von Imhoff.

“Nein,“ antwortete Hickel, „er hat sich erhängt.“

Raschelnde Laute des Schreckens ließen sich vernehmen. Herr von Imhoff biß sich auf die Lippen. „Weiß man Näheres?“ fuhr er fort zu fragen.

„Nein. Das heißt, ich habe nur eine allgemein gehaltene Nachricht von seinem Jäger. Er war bei einem Freund, dem Grafen von Belgarde, an der normannischen Küste zu Besuch. Am Morgen des vierten September fand man ihn im Turmzimmer des Schlosses an einer Seidenschnur hängend als Leiche.“

Herr von Imhoff sah zu Boden. Als er wieder aufblickte, fixierte er den Polizeileutnant fremd und sagte: „Es tut uns allen von Herzen leid. Ich glaube, daß niemand in diesem Saal ist, der dem unglücklichen Mann nicht ein lebendiges Andenken bewahren wird. Nichtsdestoweniger, Herr Leutnant, bleiben Sie mir Ihres sonderbaren Vorgehens halber Rechenschaft schuldig.“

Hickel verbeugte sich stumm.

Die Hausfrau und mit ihr einige andre Damen waren bemüht, die Gäste zu beruhigen, aber während die Diener die Kerzen des großen Kronleuchters anzündeten, meldete man Frau von Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, infolge der ausgestandenen Aufregung unwohl geworden sei und sich auf ihr Zimmer begeben habe. Sie folgte sogleich nach. Dies war ein Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierungspräsident und der Generalkommissär mit ihren Frauen verließen zuerst den Saal, und schließlich blieben nur ein paar intime Freunde des Barons um diesen versammelt und nahmen in gedrückter Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz.

„Ich hab’ es immer geahnt, daß uns der gute Lord noch einmal eine grimmige Überraschung bereiten würde,“ sagte Herr von Imhoff.

„Was wird aber nun mit dem armen Hauser geschehen?“ meinte einer aus der Gesellschaft.

Man sprach allerlei Vermutungen darüber aus; die Unterhaltung kam in Fluß, und wie oft ein unglückliches Ereignis dazu dient, die Phantasie der entfernt Beteiligten wohltätig anzuregen, so auch hier. Man gab sich bis über Mitternacht lebhaften Gesprächen hin.

Caspar hatte sich während des raschen Aufbruchs der Gäste in dem kleinen Ankleidezimmer für die Schauspieler versteckt. Die jungen Leute entledigten sich eilfertig ihres Kostüms und verschwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, um die Lichter auszulöschen, und dieser entdeckte Caspar. Als Caspar gegen die Treppe zu ging, hörte er Schritte hinter sich, und Frau von Kannawurf trat an seine Seite. Sie fragte ihn, ob er nach Hause wolle, und er bejahte. „Es regnet,“ sagte sie unten beim Tor und streckte die Hand hinaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen vorübergehen zu lassen, aber es wurde ein heftiger Guß daraus, und das Wasser knatterte lärmend auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. Ein kaltfeuchter Luftstrom schlug ihnen entgegen, und Frau von Kannawurf forderte Caspar auf, mit ihr ins Zimmer zu gehen, es könne allzulang dauern. Er folgte still.

Oben machte sie Licht, dann stand sie und sah versonnen in die Flamme. Ihre Schultern bebten fröstlich. Caspar hatte sich auf das Sofa gesetzt. Allgemach spürte er eine so große Müdigkeit, daß es ihn förmlich hintüberzog, und er mußte sich auf den Rücken legen. Da trat Clara zu ihm und ergriff seine Hand, die er ihr jedoch hastig wieder entriß. Er machte die Augen zu, und einen Moment lang war sein Gesicht vollkommen leblos. Frau von Kannawurf stieß einen matten Angstruf aus und fiel neben ihm auf die Knie. Dann rief sie ihre Kammerzofe und bat um Wasser; sie schenkte ein Glas voll und reichte es ihm zu trinken. Er trank ein paar Schlücke. „Was ist dir, Caspar?“ flüsterte sie, und zum erstenmal duzte sie ihn. Er lächelte dankbar. „Du bist wie eine Schwester,“ sagte er scheu und berührte mit den Fingern das Haar ihres über ihn gebeugten Kopfes. Dieses Wort Schwester hatte in seinem Mund einen eignen Klang; es tönte wie ein nie zuvor gesprochenes Wort.

Clara schmiegte sich an seine Seite; ihr war, als müßte sie ihn wärmen, er aber rückte ängstlich fort, da wollte sie sich wieder erheben, doch betastete er mit der Hand ihren Arm und sah sie an mit einem bittenden Ausdruck von Schmerz und Liebe. „Clara,“ sagte er, und sie glaubte vergehen zu sollen oder zu einem andern Leben erwachen zu müssen, denn die schüchtern-flehentliche Art, wie er diesen Namen aussprach, hatte etwas Überirdisches.

Es kam nun so, daß Stunde auf Stunde verging und sie immer nebeneinander lagen, stumm, stumm, regungslos und über und über zitternd beide. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und der Atem seines Mundes floß in die Luft gleich dem ihren.

Als es von der Schloßuhr zwölf schlug, schauerte Clara zusammen. Sie erhob sich und sagte mit tiefer Beteuerung vor sich hin: „Nie, nie, nie, nie.“ Dann schritt sie zum Fenster und öffnete es. Der Regen hatte längst aufgehört, das Firmament war klar, der ganze Sternenhimmel lag funkelnd vor ihr da. Ihre volle Brust drängte den unbekannten Welten entgegen, denn von dieser, auf der sie lebte, war sie satt.

Sie sagte zu Caspar, er könne die Nacht im Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu sehen, ob Frau von Imhoff noch wach sei. Sie schritt am Speisesaal vorbei, wo die Herren noch beim Wein saßen und laut redeten. Die Baronin hatte sich gleichfalls noch nicht zur Ruhe begeben. Clara teilte ihr mit, daß Caspar bis jetzt bei ihr gewesen sei. Frau von Imhoff nickte, sah aber die Freundin etwas verlegen und verwundert an. „Ich werde morgen früh meinen Koffer packen und reisen,“ sagte Clara leise und mit einem Ausdruck unwiderruflicher Bestimmtheit, der ihr bisweilen eigen war und ihre kindlichen Züge seltsam hart und leidend machte. Frau von Imhoff erhob sich überrascht und trat nahe an die Freundin heran. Plötzlich fielen sie einander in die Arme, und Clara schluchzte.

Sie verstanden sich; es war nicht nötig zu sprechen.

Als sich Clara losriß, sagte sie, sie werde Caspar noch in die Stadt begleiten. „Das kannst du unmöglich tun,“ wandte Frau von Imhoff ein, „oder ich werde dir wenigstens den Diener mitgeben.“

“Bitte, nicht,“ antwortete Clara lächelnd, „du weißt doch, daß ich keine Furcht habe. Es beirrt mich auch, wenn man meinethalben ängstlich ist. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich auf den einsamen Rückweg.“

Eine Viertelstunde später wanderte sie mit Caspar über die noch feuchte Straße gegen die Stadt. Sie redeten auch jetzt nichts, und vor dem Lehrerhaus reichten sie einander die Hände. „Jetzt gehst du wahrscheinlich fort von mir, Clara,“ sagte da plötzlich Caspar und schaute sie mit einem verschleierten Blick an.

Sie war ebenso erstaunt wie bewegt über diese Worte, die ein tiefes Vorgefühl verrieten. Wie schön sind seine Augen, dachte sie, sie sind hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er doch auch sonst einem Reh, das traurig-verwundert im dunkeln Wald steht.

„Ja, ich gehe,“ erwiderte sie endlich.

„Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“

„Ich komme wieder,“ versicherte sie mit einer gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Aufschrei erstarb. „Ich komme wieder. Wir werden uns schreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“

„Ich komme wieder; das hab’ ich schon einmal gehört,“ sagte Caspar bitter. „Bis Weihnachten ist lang. Und schreiben tu’ ich nicht. Was hat man vom Schreiben, ist ja doch nur Papier. Geh nur, leb wohl.“

„Es kann nicht anders sein,“ flüsterte Clara, und ihr Blick suchte die Sterne. „Sieh, Caspar, dort oben ist das Ewige. Wir wollen es nicht vergessen wie alle andern. Wir wollen nichts vergessen. Ach, vergessen, vergessen, darin liegt alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne, Caspar, und wenn du hinaufschaust, bin ich bei dir.“

Caspar schüttelte den Kopf. „Leb wohl,“ sagte er matt.

Im Erdgeschoß wurde ein Fenster geöffnet, und das mit einer Bettmütze gekrönte Haupt des Lehrers wurde sichtbar, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Es war eine schweigende Mahnung.

Ich will Bettine bitten, daß sie ihn täglich besucht, überlegte Clara, während sie allein durch die öden Gassen ging; ich bring’ ihm Unheil, wenn ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir entgegen, wie er fürchterlicher nicht zu denken ist. Schwester! Wie war mir doch, als er mich Schwester nannte! Die himmlische Seligkeit pochte mir an die Brust. So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden, und mehr noch; aber, gerechter Gott, mehr darf es nicht sein. Ihn anzutasten! Seinen Schlummer stören! O verbrecherische Lippen, denen ein Kuß nichts bedeutet! Hätt’ ich’s getan, ich müßte seine Mörderin heißen, was kann ich Besseres tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn schützen; vermessen, wollt’ ich durch meine armselige Gegenwart ihn behütet glauben; ein so edles Ding kann nicht zugrunde gehen, weil sich zwei Augen von ihm wenden.

Diese wirre und aufgeregte Gedankenfolge entschleiert ein rettungslos verstricktes Gemüt, das in seiner Schwärmerei den Entschluß eines Opfers faßt, verzagt, geblendet durch den Anblick von so viel Schicksal und in seiner Betrübnis irregehend an den Kreuzwegen der Liebe.

Den Blick beständig zum Himmel gerichtet, und zwar auf das schöne Sternbild des Wagens, das wie ein erstarrter Zackenblitz im Dunkelblauen schwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal des Schlosses eine Gestalt lehnte. Sie prallte erst zurück, als ihr die nächtige Person den Weg verstellte. O Gott, der Grauenvolle, dachte sie.

Hickel, denn dieser war es, verneigte sich gegen die bestürzte Frau. „Vergebung, Madame, Vergebung,“ murmelte er. „Und nicht nur für diesen Überfall, auch für das andre. Sie sind zu schön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten, zu erwägen, daß Ihre sublime Schönheit mit meinem Kopf umspringt wie ein mutwilliger Knabe mit seinem Kreisel, wenn Sie in Betracht ziehen wollten, daß es selbst beim Komödiespiel einen Punkt gibt, wo die verrückt gewordene Phantasie den Gegenstand ihrer Wünsche besudelt und das Bildliche eifersüchtig für ein Wirkliches hält, so würden Sie vielleicht Ihren zerknirschten Diener durch ein tröstliches Wort beglücken.“

Alles dies klang einfältig, formlos, geziert, höhnisch und verzweifelt. Er schien die Worte zwischen den Zähnen zu zerquetschen, und man konnte ihm ansehen, daß er sich nur mit Anstrengung steif und ruhig hielt.

Clara trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme, drückte sie fest gegen die Brust und sagte befehlend: „Lassen Sie mich vorbei!“

„Madame, von Ihrem Mund hängt zur Stunde manches ab,“ fuhr Hickel fort und hob den Arm mit der starren Bewegung einer Wachsfigur. „Ich bin nie ein Bettler gewesen. Hier steh’ ich und bettle. Verleugnen Sie nicht Ihr Gesicht, das einen Engel glauben läßt!“

Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der auf sie gewartet, öffnete sogleich. Als sie drinnen war, spürte sie eine entsetzliche Übelkeit. In ihrem Hirn war etwas wie zerrissen. Auf der Treppe stockte sie; ihr war, als müsse sie umkehren und den furchtbaren Mann noch einmal anreden.

Als Caspar am nächsten Nachmittag zu Imhoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, daß Frau von Kannawurf schon abgereist sei. Er bat Frau von Imhoff, sie möchte ihm Claras Bild zeigen, das er seit dem ersten Gesellschaftsabend, dem er im Schlosse beigewohnt, nicht mehr gesehen. Die Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das Porträt zwischen zwei Ahnenbildnissen an der Wand hing.

Er setzte sich davor und betrachtete es lange mit stummer Aufmerksamkeit. Als er ging, versprach Frau von Imhoff, ihm eine Zeichnung von dem Bild anfertigen zu lassen. Er war so zerstreut, daß er nicht einmal dankte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.