Kapitel 24 - Schildknecht.

Der Mai brachte viel Regen. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caspar und Frau von Kannawurf ganze Nachmittage lang durch die Umgegend. Caspar vernachlässigte plötzlich sein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: „Ich bin der dummen Schreiberei überdrüssig.“ Was ihm von den maßgebenden Personen höchlichst verübelt wurde.

Der von Hickel neuaufgenommene und für die Dauer seiner Abwesenheit streng unterwiesene Bursche ward gleich zu Anfang so lästig, daß sich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann darüber beschwerte. Weniger aus Einsicht als um der schönen Frau gefällig zu sein, gestattete der Hofrat, daß Caspar seine Spaziergänge mit ihr allein unternehme. „Hoffentlich entführen Sie mir den Hauser nicht,“ sagte er mit seinem fiskalisch-schlauen Lächeln zu der Sprachlosen.


Nun aber machte wieder Quandt Schwierigkeiten. “Ich bestehe auf meiner Instruktion,“ war sein eisernes Sprüchlein. Eines Morgens erschien daher Frau von Kannawurf in der Studierstube des Lehrers und stellte ihn kühn zur Rede. Quandt konnte ihr nicht ins Gesicht sehen; er war vollkommen verdattert und wurde abwechselnd rot und blaß. „Ich bin ganz zu Ihren Diensten, Madame,“ sagte er mit dem Ausdruck eines Menschen, der sich auf der Folter zu allem entschließt, was man von ihm haben will.

Frau von Kannawurf schaute sich mit gelassener Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Sie sich eigentlich innerlich zu Caspar?“ fragte sie auf einmal. „Lieben Sie ihn?“

Quandt seufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn so lieben, wie seine achtungswerten Freunde glauben, daß er es verdient,“ antwortete er meisterhaft verschnörkelt.

Frau von Kannawurf erhob sich. „Wie soll ich das verstehen?“ brach sie leidenschaftlich aus, „wie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf Händen tragen?“ Ihr Gesicht glühte, sie trat dicht vor den erschrockenen Lehrer hin und sah ihn drohend und traurig an.

Doch sie besänftigte sich schnell und sprach nun von andern Dingen, um den ihr erstaunlichen Mann besser kennen zu lernen. Ihr war jeder Mensch ein Wunder und fast alles, was Menschen taten, etwas Wunderbares. Deshalb erreichte sie selten ein vorgesetztes Ziel. Sie vergaß sich und überschritt die Grenze, die ein oberflächlicher Verkehr bedingt.

Quandt ärgerte sich nachher gründlich über seine nachgiebige Haltung. Was mag denn da wieder dahinter stecken? grübelte er. So oft die kleinen Briefchen von Frau von Kannawurf an Caspar kamen, öffnete er und las sie, ehe er sie dem Jüngling gab. Er brachte nichts heraus; der Inhalt war zu unverfänglich. Wahrscheinlich verständigen sie sich in irgendeiner Geheimsprache, dachte Quandt und stellte gewisse wiederkehrende Phrasen zusammen in der Hoffnung, damit den Schlüssel zu finden. Caspar wehrte sich gegen diese Eingriffe, worauf Quandt ihm mit ungewöhnlicher Beredsamkeit das Recht der Erzieher auf die Korrespondenz ihrer Pfleglinge bewies.

Schließlich bat Caspar seine Freundin, ihm nicht mehr zu schreiben. So unverfänglich wie die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er unsichtbar die beiden hätte belauschen können, ihre Gespräche gefunden. Es kam vor, daß sie stundenlang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Ist es nicht schön im Wald?“ fragte dann die junge Frau mit dem innigsten Klang ihrer süßen Stimme und einem kleinen, vogelhaft zwitschernden Lachen. Oder sie pflückte eine Blume vom Wiesenrain und fragte: „Ist das nicht schön?“

„Es ist schön,“ antwortete Caspar.

„So trocken, so ernsthaft?“

„Daß es schön ist, weiß ich noch nicht gar lange,“ bemerkte Caspar tief, „das Schöne kommt zuletzt.“

Ihn machte der Frühling diesmal glücklich. Mit jedem Atemzug fühlte er sich eigentümlich bevorzugt. Wahrhaftig, daß es schön war, hatte er bis jetzt noch nie bedacht. Die seiende Welt schlang sich wie ein Kranz um ihn. Solang die Sonne am blauen Himmel stand, leuchteten seine Augen in verwundertem Glück. Er ist wie ein Kind, das man nach langer Krankheit zum erstenmal in den Garten führt, sagte sich Frau von Kannawurf. Ihr gütiges Herz klopfte höher bei dem Gedanken, daß sie vielleicht nicht ohne Einfluß auf diese Stimmung war. Bisweilen wand sie junges Waldlaub um seinen Hut, und dann sah er stolz aus. Aber er war doch immer in sich gekehrt und immer so verhalten, als ringe er mit einem großen Entschluß.

Eines Tages kamen sie überein, daß er sie einfach Clara und sie ihn Caspar nennen solle. Sie amüsierte sich über die geschäftsmäßige Gesetztheit, mit der er seinerseits diesen Vertrag einhielt. Er belustigte sie überhaupt oft, besonders wenn er ihr kleine Moralpredigten hielt oder etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert tadelte. Er ermahnte sie auch, nicht gar so viel herumzulaufen und ihre Gesundheit zu schonen. Nun sah es ja manchmal wirklich aus, als habe sie die Absicht, sich zu ermüden und zu erschöpfen. Eine ihrer Leidenschaften bestand darin, auf Türme zu steigen; auf dem Turm der Johanniskirche wohnte ein alter Glöckner, ein weiser Mann in seiner Art, durch lange Einsamkeit beschaulich und sanft geworden; sie scheute nicht die Anstrengung der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm wie mit einem Freund oder lehnte über die eiserne Brüstung der schmalen Galerie und schaute über das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte sie auch so ins Herz geschlossen, daß er zu gewissen Abendstunden nach der Richtung des Imhoffschlößchens verabredete Zeichen mit seiner Laterne gab.

Jeden Tag machte sie neue Reisepläne, denn sie gefiel sich nicht in der kleinen Stadt. Caspar fragte, warum sie denn so fortdränge, aber darüber wußte sie im Grund keinen Aufschluß zu geben. „Ich darf nicht wurzeln,“ sagte sie, „ich werde unglücklich, wenn ich zufrieden bin, ich muß immer auf Entdeckungsfahrten gehen, ich muß Menschen suchen.“ Sie blickte Caspar zärtlich an, indes ihr kleiner Mund unaufhörlich zuckte.

Einmal, und das war das einzige Mal überhaupt, daß davon gesprochen wurde, erwähnte sie der Feuerbachschen Schrift. Caspar griff nach ihrer Hand, die er mit sonderbarer Kraft so stark preßte, als wolle er damit das Wort zerquetschen, das er vernommen. Frau von Kannawurf stieß einen leisen Schrei aus.

Es war schon Abend; sie gingen noch bis zu der Straßenkreuzung, an der sie sich gewöhnlich voneinander trennten. Da sagte Frau von Kannawurf rasch und eindringlich, indem sie sich nah zu ihm stellte und auf seine Stirn starrte: „Also wollen Sie es auf sich nehmen?“

„Was?“ entgegnete er mit sichtlichem Unbehagen.

„Alles –?“

„Ja, alles,“ sagte er dumpf, „aber ich weiß nicht, ich bin ja ganz allein.“

„Natürlich allein, aber etwas andres wünschen Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das ist es eben, nur nicht mehr drunten, sondern droben –“ Sie konnte nicht weiterreden, er legte die eine Hand auf ihren Mund und die andre auf den seinen. Dabei glänzten seine Augen beinahe voll Haß. Plötzlich dachte er mit einer Art freudiger Bestürzung: ob meine Mutter so ähnlich ist wie diese da? Er hatte ein durstiges und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es war zugleich etwas in ihm, wovor ihn widerte. „Ich geh’ jetzt heim,“ stieß er mit wunderlichem Unwillen hervor und entfernte sich voll Eile.

Frau von Kannawurf sah ihm nach, und als die Dunkelheit schon längst seine Gestalt verschlungen hatte, heftete sie noch die großen Kinderaugen in die Richtung seines Weges. Es war ihr furchtbar bang ums Herz. Er ist sicher der mutigste aller Menschen, dachte sie, er ahnt nicht einmal, wieviel Mut er besitzt; was bewegt mich doch so sehr, wenn ich mit ihm rede oder schweige? Warum ängstigt’s mich so, wenn ich ihn sich selbst überlassen weiß?

Sie ging heimwärts und brauchte zu einem Weg von wenig mehr als tausend Schritten über eine halbe Stunde. Im Westen leuchteten Blitze wie feurige Adern.

Caspar hatte sich frühzeitig zu Bett begeben. Es mochte ungefähr vier Uhr morgens sein, da wurde er durch einen lauten Ruf aufgeweckt. Es war auf der Straße außerhalb des Hofs, und die Stimme rief: „Quandt! Quandt!“

Caspar, noch im Halbschlaf, glaubte die Stimme Hickels zu erkennen. Es wurde irgendwo ein Fenster geöffnet, der von der Straße sagte etwas, was Caspar nicht verstehen konnte, bald hernach ging eine Tür im Haus. Es blieb dann eine Weile ruhig. Caspar legte sich auf die Seite, um weiterzuschlafen, da pochte es an seine Zimmertür. „Was gibt’s?“ fragte Caspar.

„Machen Sie auf, Hauser!“ antwortete Quandts Stimme.

Caspar sprang aus dem Bett und schob den Riegel zurück. Quandt, vollständig angekleidet, trat auf die Schwelle. Sein Gesicht sah im Morgengrauen grünlich fahl aus.

„Der Präsident ist tot,“ sagte er.

In einem schwindelnden Gefühl setzte sich Caspar auf den Bettrand.

„Ich bin im Begriff hinzugehen, wenn Sie sich anschließen wollen, machen Sie rasch,“ fuhr Quandt murmelnd fort.

Caspar schlüpfte in die Kleider; er war wie betrunken.

Zehn Minuten darauf schritt er neben Quandt auf dem Weg zur Heiligenkreuzgasse. Im Garten vor dem Feuerbachschen Haus standen Leute, die halb verschlafen, halb bestürzt aussahen. Ein Bäckerjunge saß auf der Treppe und heulte in seine weiße Schürze hinein. „Glauben Sie, daß man nach oben darf?“ fragte Quandt den Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Gesicht und tief in die Stirn gedrücktem Hut auf und ab ging.

„Die Leiche ist ja noch gar nicht in der Stadt,“ sagte ein alter Artilleriehauptmann, an dessen Schnurrbart kleine Regentropfen hingen.

„Das weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er folgte etwas beklommen Caspar, der ins Haus eingetreten war. Im unteren Stock standen alle Türen offen. In der Küche saßen zwei Mägde vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten geschlagen war. Sie schienen angstvoll zu horchen. Caspar und Quandt vernahmen eine durchdringende Stimme, die sich näherte. Sie sahen alsbald eine weibliche Gestalt mit hochgehobenen Armen durch eines der Zimmer laufen. Sie schrie vor sich hin wie rasend.

„Die Unglückliche,“ sagte Quandt verstört.

Es war Henriette. Ihr Geschrei dauerte ununterbrochen fort, bis einige Damen erschienen, darunter Frau von Stichaner. Quandt begab sich mit Caspar an die Schwelle des Staatsgemachs. Die Frauen bemühten sich um Henriette, sie aber stieß jede mit den Fäusten von sich. „Ich hab’s gewußt,“ schrie sie, „ich hab’s gewußt, sie haben ihn mir vergiftet, haben ihn vergiftet!“ Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihr Blick war rot. Sie stürmte in ein andres Zimmer, das lose Nachtgewand flatterte hinter ihr, und immer gellender schallte ihr Geschrei: „Sie haben ihn vergiftet! vergiftet! vergiftet!“

Caspar hatte keinen andern Ruhepunkt für sein Auge als das Napoleonbild, dem er gegenüberstand. Es kam ihm vor, als müsse der gemalte Kaiser schon müde sein von der unablässigen majestätischen Drehung, die sein Hals machte.

„Lassen Sie uns gehen, Hauser,“ sagte Quandt, „es ist zuviel des Jammers.“

Im Flur stand der Regierungspräsident Mieg im Gespräch mit Hickel. Der Polizeileutnant berichtete alle Einzelheiten der Katastrophe. In Ochsenfurt am Main habe Seine Exzellenz über Unwohlsein geklagt und sei zu Bett gegangen; in der Nacht habe er gefiebert, der gerufene Arzt habe ihm zur Ader gelassen und habe behauptet, die Krankheit sei bedeutungslos. Am Morgen darauf sei plötzlich das Ende eingetreten.

„Und welcher Ursache schrieb der Arzt seinen Tod zu?“ erkundigte sich Herr von Mieg und verbeugte sich gleichzeitig, da Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf an seine Seite traten. Frau von Imhoff weinte.

Hickel zuckte die Achseln. „Er glaubte an Herzschwäche,“ erwiderte er.

Ungeachtet des frühen Morgens war schon die ganze Stadt auf den Beinen. Über dem Dach des Appellgerichts wehten zwei schwarze Fahnen.

Caspar blieb den Tag über in seinem Zimmer. Niemand störte ihn. Er lag auf dem Sofa, die Hände unterm Kopf, und starrte in die Luft. Spät nachmittags bekam er Hunger und ging in die Wohnstube. Quandt war nicht da. Die Lehrerin sagte: „Um vier Uhr ist die Leiche angekommen; Sie sollten eigentlich hingehen, Hauser, und ihn nochmal sehen, bevor er begraben wird.“

Caspar würgte an einem Stück Brot und nickte.

„Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit den Totenweibern,“ fuhr die Lehrerin geschwätzig fort, „aber die Männer denken immer, alles geht so, wie sie’s ausrechnen.“

Der Flur des Feuerbachschen Hauses war angefüllt von Menschen. Caspar drückte sich in einen Winkel und stand eine Weile unbeachtet. Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche Geruch, der im Hause herrschte, benahm ihm die Sinne. Da spürte er sich bei der Hand gepackt. Aufschauend, erkannte er Frau von Imhoff. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, in dessen Mitte der Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbachs saßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag regungslos über die Leiche hingeworfen. Am Fenster standen der Hofrat Hofmann und der Archivdirektor Wurm. Sonst war niemand im Zimmer.

Das Gesicht des Toten war gelb wie eine Zitrone. Um die Winkel des scharfen, verbissenen Mundes hatten sich große Muskelknoten gebildet. Das schiefergraue Kopfhaar glich einem kurzgeschorenen Tierfell. Es war nichts mehr von Größe in diesen Zügen, nur zähneknirschender Schmerz und eine unmenschliche, eisige Angst.

Caspar hatte noch nie einen Toten gesehen. Sein Gesicht bekam einen qualvoll-wißbegierigen Ausdruck, die Augäpfel drehten sich in die Winkel, und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn und Mund. Sein ganzes Herz löste sich in Tränen auf.

Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der Bahre, und als sie den Jüngling sah, verzerrten sich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er sterben müssen!“ schrie sie mit einer Stimme, vor der alle erbebten.

Caspar öffnete die Lippen. Weit nach vorn gebeugt, starrte er das halbwahnsinnige Weib an. Zweimal klopfte er sich mit der Hand gegen die Brust – er schien zu lachen –, plötzlich gab er einen dumpfen Laut von sich und stürzte ohnmächtig zu Boden.

Alle waren erstarrt. Die Söhne des Präsidenten waren aufgestanden und schauten bekümmert auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor Wurm eilte, als er sich gefaßt hatte, zur Tür, wahrscheinlich um einen Arzt zu rufen. Der besonnene Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man solle kein unnötiges Aufsehen machen. Frau von Imhoff kniete neben Caspar und befeuchtete seine Schläfe mit ihrem Riechwasser. Er kam langsam zu sich, doch dauerte es eine Viertelstunde, bis er sich erheben und gehen konnte. Frau von Imhoff begleitete ihn hinaus. Damit sie sich nicht durch die Menge der Besucher im Korridor zu drängen brauchten, führte sie ihn über eine Hintertreppe in den Garten und anerbot sich, ihn nach Haus zu bringen. „Nein,“ sagte er unnatürlich leise, „ich will allein gehen.“ Er steckte seine Nase in die Luft und schnüffelte unbewußt. Sein Puls ging so schnell, daß die Adern am Hals förmlich flogen.

Er entwand sich dem liebreichen Zuspruch der jungen Frau und ging mit trägen Schritten gegen die Hauptallee des Gartens. Vor dem Portal stieß er auf den Polizeileutnant. „Nun, Hauser!“ redete ihn Hickel an.

Caspar blieb stehen.

„Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß,“ sagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort ersetzen?“

Caspar antwortete nichts und schaute gleichsam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob er aus Glas wäre.

„Guten Abend,“ ertönte da eine glockenhelle Stimme, die Caspar wundersam berührte. Frau von Kannawurf trat an seine Seite. Hickels Gesicht wurde um eine Schattierung bleicher. „Gnädigste Frau,“ sagte er mit einer Galanterie, die sich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Gelegenheit benutzen, Ihnen meine ungemessene Verehrung zu Füßen zu legen?“

Frau von Kannawurf trat unwillkürlich einen Schritt zurück und sah erschrocken aus.

Der Polizeileutnant hatte die Miene eines Menschen, der sich in ein tiefes Wasser stürzt. Er beugte sich nieder, und ehe Frau von Kannawurf es hindern konnte, packte er ihre Hand und drückte einen Kuß darauf, und zwar mit den nackten Zähnen; als er sich aufrichtete, waren seine Lippen noch getrennt. Ohne eine Silbe weiter zu sprechen, eilte er davon.

Mit weiten Augen blickte ihm Frau von Kannawurf nach. „Grauenhaft ist mir der Mensch,“ flüsterte sie. Caspar blieb völlig teilnahmlos. Frau von Kannawurf begleitete ihn schweigend nach Hause.

Als er in seinem Zimmer war, bekamen seine Augen einen geisterhaften Glanz und flammten in der Dämmerung wie zwei Glühwürmer. Er stellte sich in die Mitte des Raumes, und vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, sagte er in beschwörendem Ton folgendes:

„Kenn’ ich dich, so nenn’ ich dich. Bist du die Mutter, so höre mich. Ich geh’ zu dir. Ich muß zu dir. Einen Boten schick’ ich dir. Bist du die Mutter, so frag’ ich dich: warum das lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr, und die Not ist groß. Caspar Hauser heißen sie mich, aber du nennst mich anders. Zu dir muß ich gehn ins Schloß. Der Bote ist treu, Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten. Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“

Plötzlich ergriff ihn eine sonderbare Ruhe. Er setzte sich an den Tisch, nahm einen Bogen Papier und schrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit hinderte, dieselben Worte nieder. Darauf faltete er den Bogen zusammen, und da er kein Wachs besaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unschlitt aufs Papier träufeln und drückte das Siegel darauf, das ein Pferd vorstellte mit der Legende: Stolz, doch sanft.

Es verging eine halbe Stunde; er saß regungslos da und lächelte mit geschlossenen Augen. Bisweilen schien es, als bete er, denn seine Lippen bewegten sich suchend. Er dachte an Schildknecht. Er wünschte ihn herbei mit aller Kraft seiner Seele.

Und als ob diesem Wünschen die Macht innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, schallte auf einmal vom Hof herauf der wohllautende Triolenpfiff. Caspar ging zum Fenster und öffnete; es war Schildknecht. „Ich komm’ hinunter,“ rief ihm Caspar zu.

Unten angelangt, packte er Schildknecht beim Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf die einsame Gasse. Dort forderte er ihn stumm auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er zögernd inne und spähte umher. Sie kamen beim Häuschen des Zolleinnehmers vorüber und auf einen Wiesenplan. Auf dem Rain stand ein Bauernwagen. Caspar setzte sich auf die Deichsel und zog Schildknecht neben sich. Er näherte seinen Mund dem Ohr des Soldaten und sagte: „Jetzt brauch’ ich Sie.“

Schildknecht nickte.

„Es geht um alles,“ fuhr Caspar fort.

Schildknecht nickte.

„Da ist ein Brief,“ sagte Caspar, „den soll meine Mutter bekommen.“

Schildknecht nickte wieder, diesmal voll Andacht. „Weiß schon,“ antwortete er, „die Fürstin Stephanie –“

„Woher wissen Sie’s?“ hauchte Caspar betroffen.

„Hab’s gelesen. Hab’s in dem Buch vom Staatsrat gelesen.“

„Und weißt auch, wo du hingehen mußt, Schildknecht?“

“Weiß es. Ist ja unser Land.“

„Und willst ihr den Brief geben?“

„Will es.“

„Und schwörst bei deiner Seligkeit, daß du ihr selber den Brief gibst? Aufs Schloß gehst? In die Kirche, wenn sie dort ist? Ihren Wagen aufhältst, wenn sie auf der Straße fährt?“

„Ist kein Schwören nötig. Ich tu’s, und wenn’s Knollen regnet.“

„Wenn ich’s tun wollte, Schildknecht, ich käm’ nicht bis ins nächste Dorf. Sie würden mich abfangen und einsperren.“

„Weiß es.“

„Wie willst du’s anstellen?“

„Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald schlafen, bei Nacht laufen.“

„Und wo den Brief verstecken?“

„Unter der Sohle, im Strumpf.“

„Und wann kannst du fort?“

„Wann’s beliebt. Morgen, heute, gleich, wenn’s beliebt. Ist zwar Fahnenflucht, macht aber nichts.“

„Wenn’s gelingt, macht es nichts. Hast du Geld?“

„Nicht einen Taler. Macht aber nichts.“

„Nein. Geld ist nötig. Brauchst viel Geld. Geh mit mir, ich hole Geld.“

Caspar sprang empor und schritt in der Richtung des Imhoffschlößchens voran. Am Tor gebot Caspar dem Soldaten zu warten. Er ging hinein und sagte zum Pförtner, er müsse Frau von Kannawurf sprechen. Es war etwas in seinem Aussehen, was dem alten Hausmeister Beine machte. Frau von Kannawurf kam ihm alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege in einen kleinen Saal, der nicht erleuchtet war. Ein wandhoher Spiegel glitzerte im Mondschein. Der Pförtner machte Licht und entfernte sich zögernd.

„Fragen Sie mich nichts,“ sagte Caspar mit fliegendem Atem zu der Freundin, die keines Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten. Geben Sie mir zehn Dukaten.“

Sie blickte ihn ängstlich an. „Warten Sie,“ antwortete sie leise und ging hinaus.

Es dünkte Caspar eine Ewigkeit, bis sie wiederkam. Er stand am Fenster und strich beständig mit der einen Hand über seine Wange. Still, wie sie gegangen, kehrte Frau von Kannawurf zurück und reichte ihm eine kleine Rolle. Er nahm ihre Hand und stammelte etwas. Ihr Gesicht zuckte über und über, ihre Augen schwammen wie im Nebel. Verstand sie ihn? Sie mußte wohl ahnen; doch sie fragte nicht. Ein trübes Lächeln irrte um ihre Lippen, als sie Caspar hinausbegleitete. Sie war ergreifend schön in diesem Augenblick.

Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors und guckte ernsthaft in den Mond. Sie gingen zusammen stadtwärts; nach ein paar hundert Schritten blieb Caspar stehen und gab Schildknecht den Brief und die Geldrolle. Schildknecht sagte keine Silbe. Er blies ein wenig die Backen auf und sah harmlos aus.

Vor dem Kronacher Buck meinte Schildknecht, es sei besser, wenn man sie nicht mehr beieinander sähe. Ein Händedruck, und sie schieden. Dann drehte sich Schildknecht noch einmal um und rief anscheinend fröhlich: „Auf Wiedersehen!“

Caspar blieb noch lange wie verhext an demselben Fleck stehen. Er hatte Lust, sich ins Gras zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, für die er plötzlich Dankbarkeit empfand.

Spät kam er heim, blieb aber glücklicherweise ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen Besprechung halber zum Hofrat Hofmann befohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre nur, Jette,“ sagte er, „der Staatsrat hat sich während der letzten Tage, die er mit dem Polizeileutnant beisammen war, von der Sache des Hauser gänzlich losgesagt. Er soll sogar mit dem Plan umgegangen sein, die Denkschrift für den Hauser öffentlich als einen Irrtum zu erklären.“

„Wer hat’s gesagt?“ fragte die Lehrerin.

„Der Polizeileutnant; es heißt auch allgemein so. Der Hofrat ist derselben Ansicht.“

„Es heißt aber auch, daß der Staatsrat vergiftet worden ist.“

„Ach was, dummes Geschwätz,“ fuhr Quandt auf. „Hüte dich nur, daß du dergleichen verlauten läßt. Der Polizeileutnant hat gedroht, daß er die Verbreiter von so gefährlichen Redensarten verhaften lassen und unerbittlich zur Rechenschaft ziehen werde. Was macht der Hauser?“

„Ich glaube, er ist schon schlafen gegangen. Nachmittags war er bei mir in der Küche und beklagte sich über die vielen Fliegen in seinem Zimmer.“

„Weiter hat er jetzt keine Sorgen? Das sieht ihm ähnlich.“

„Ja. Ich sagte ihm, er soll sie doch hinausjagen. Das tu’ ich ja, antwortete er, aber dann kommen immer gleich zwanzig wieder herein.“

„Zwanzig?“ sagte Quandt mißbilligend. “Wieso zwanzig? Das ist doch nur eine willkürliche Zahl?“

Man begab sich zur Ruhe.

Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg ein und stiegen im „Stern“ ab. Daumer suchte alsbald Caspar auf. Caspar war gegen seinen ersten Beschützer frei und offen, und doch hatte Daumer den quälenden Eindruck, als sehe und höre ihn Caspar gar nicht. Er fand ihn blaß, größer geworden, schweigsam wie stets und von einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugeschlossen, ganz eingesponnen in diese Heiterkeit, die, seltsam wirkend, dunkle Schatten um ihn warf.

In einem Brief an seine Schwester schrieb Daumer unter anderm: „Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den Jüngling zu sehen. Nein, es ist mir schmerzlich, ihn zu sehen, und fragst du mich nach dem Grund, so muß ich wie ein dummer Schüler antworten: Ich weiß nicht. Übrigens lebt er hier ganz in Frieden und wird wohl, trübselig zu melden, all seine Tage hindurch als ein obskurer Gerichtsschreiber oder dergleichen figurieren.“

Während Herr von Tucher am selben Nachmittag wieder abreiste, und zwar ohne sich um Caspar zu kümmern, blieb Daumer noch drei Tage in der Stadt, da er Geschäfte bei der Regierung hatte. Beim Begräbnis des Präsidenten sah er Caspar nicht; er erfuhr später, daß Frau von Imhoff seine Anwesenheit zu verhindern gewußt hatte. Er machte bald die kränkende Entdeckung, daß Caspar ihm geflissentlich auswich. Eine Stunde vor seiner Abreise sprach er mit dem Lehrer Quandt darüber.

“Kann ein Mann von Ihrer Einsicht um eine Erklärung dieses Betragens verlegen sein?“ sagte Quandt erstaunt. „Es ist doch ganz klar, daß er jetzt, wo er eine immer größer werdende Gleichgültigkeit um sich entstehen sieht und die Folgen davon täglich empfinden muß, daß er jetzt durch den Anblick seiner Nürnberger Freunde in Verlegenheit gerät und sie nach Kräften zu meiden sucht. Denn dort stand er ja in floribus und glaubte wunder was für Rosinen in seinem Kuchen steckten. Wir aber, verehrter Herr Professor, sind ihm dicht auf der Spur; es wird nicht mehr lange dauern und Sie werden merkwürdige Nachrichten hören.“

Quandt sah bekümmert aus, und seine Worte klangen fanatisch. Ob danach Daumer gerade mit hoffnungsvoller Brust die Fahrt zum heimatlichen Bezirk angetreten habe, steht zu bezweifeln. Fast hätte er wie in jener stillen Nacht, als er Caspar im Geist und leibhaftig an sich gedrückt, klagend über die sommerlichen Felder gerufen: Mensch, o Mensch! Aber dabei hatte es sein Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln bemächtigte sich des verwirrten Mannes; in seinem Hirn gährte es wie schlechtes Gewissen, und langsam, den Entschluß zur Tat und Sühne weckend, zur viel zu späten Tat und Sühne, entstand eine erste Ahnung der Wahrheit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.