Kapitel 23 - Die Reise wird angetreten.

Am selben Abend suchte Hickel den Lehrer auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schildknecht von nun an den Hauser überwachen werde. Caspar war nicht daheim, und auf die Frage nach ihm antwortete Quandt, er sei ins Theater.

„Schon wieder ins Theater!“ rief Hickel. „Das dritte Mal seit vierzehn Tagen, wenn ich recht zähle.“


„Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“ erwiderte Quandt; „beinahe sein ganzes Taschengeld verwendet er dazu, um Billette zu kaufen.“

„Mit dem Taschengeld wird es, nebenbei bemerkt, nächstens hapern,“ sagte der Polizeileutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die Hälfte des vereinbarten Monatswechsels geschickt. Offenbar wird ihm die Sache zu kostspielig.“

Stanhope hatte von Anfang an die für Caspar zu verwendenden Gelder an Hickel gesandt.

„Kostspielig? Dem Lord? Einem Pair der Krone Großbritannien? Diese Lappalie kostspielig!“ Quandt riß vor Erstaunen die Augen auf.

„Das erzählen Sie nur keinem andern, sonst denkt man, Sie machen sich lustig über den Grafen,“ sagte die Lehrerin. Neugierig prüfend schaute sie den Polizeileutnant an. Dieser aalglatte und geschniegelte Mann war ihr stets merkwürdig und reizvoll erschienen. Er brachte das bißchen Phantasie, das sie hatte, in Bewegung.

„Kann nicht helfen,“ schloß Hickel unwirsch das Gespräch, „es ist so. Der Postzettel liegt bei mir zur Einsicht vor. Der Graf wird schon wissen, was er tut.“

Als Caspar nach Hause kam, fragte ihn Quandt, wie er sich unterhalten habe. „Gar nicht, es war soviel von Liebe in dem Stück,“ antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeug nun einmal nicht ausstehen. Da schwätzen sie und jammern, daß einem ganz dumm wird, und was ist das Ende? Es wird geheiratet. Da will ich lieber mein Geld einem Bettler schenken.“

„Vorhin war der Herr Polizeileutnant hier und hat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge erheblich gemindert hat,“ sagte Quandt. „Sie werden also alle Ausgaben überhaupt beschränken und den Theaterbesuch, fürchte ich, ganz aufgeben müssen.“

Caspar setzte sich zum Tisch, aß sein Abendbrot und sagte lange nichts. „Schade,“ ließ er sich endlich vernehmen, „übernächste Woche ist der ›Don Carlos‹ von Schiller. Das soll ein herrliches Stück sein, das möcht’ ich noch sehen.“

„Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein herrliches Stück ist?“ fragte Quandt mit der nachsichtig überlegenen Miene des Fachmannes.

„Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf im Theater getroffen,“ erklärte Caspar, „beide haben es gesagt.“

Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von Kannawurf? Wer ist denn das nun wieder?“

„Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte Caspar.

Quandt besprach sich mit seiner Frau noch bis Mitternacht darüber, wie man sich in die vom Grafen getroffene Veränderung zu schicken habe. Es wurde vereinbart, daß Caspar von jetzt ab den Mittagstisch für zehn und den Abendtisch für acht Kreuzer haben solle. „Wenn das so ist, wie der Polizeileutnant sagt, muß ich in jedem Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin.

„Wir dürfen nicht vergessen, daß der Hauser im Essen und Trinken wirklich beispiellos mäßig ist,“ versetzte Quandt, dessen Redlichkeit sich gegen eine unrechtmäßige Beschränkung sträubte.

„Macht nichts,“ beharrte die Frau, „ich muß doch immer um so viel mehr in der Küche haben, daß ein Hungriger satt wird. Das krieg’ ich nicht geschenkt.“

Am andern Nachmittag brachte Hickel das Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in den Flur, als Caspar, zum Ausgehen fertig, aus seinem Zimmer herunterkam. Vom Lehrer gefragt, wohin er gehe, antwortete er verlegen, er wolle zum Uhrmacher, seine Uhr sei nicht in Ordnung, und er müsse sie richten lassen. Quandt verlangte die Uhr zu sehen, Caspar reichte sie ihm, der Lehrer hielt sie ans Ohr, beklopfte das Gehäuse, probierte, ob sie aufzuziehen sei, und sagte schließlich: „Der Uhr fehlt ja nicht das mindeste.“

Caspar errötete und sagte nun, er habe sich bloß seinen Namen auf den Deckel gravieren lassen wollen; doch er hätte ein viel geschickterer Heuchler sein müssen, um seinen Worten den Stempel der Ausflucht zu nehmen. Quandt und Hickel sahen einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl im Leib haben, so gestehen Sie jetzt offen, wohin Sie gehen wollten,“ sagte Quandt ernst.

Caspar besann sich und erwiderte zögernd, er habe die Absicht gehabt, in die Orangerie zu gehen.

„In die Orangerie? Warum? Zu welchem Zweck?“

„Der Blumen wegen. Es sind dort im Frühjahr immer so schöne Blumen.“

Hickel räusperte sich bedeutsam. Er blickte Caspar scharf an und sagte ironisch: „Ein Poet. Unter Blumen – laß mich seufzen ...“ Dann nahm er seine militärische Miene an und erklärte bündig, er habe den Präsidenten bestimmt, die unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Ausgehen wieder zu kassieren. Täglich um fünf Uhr werde sein Bursche antreten, und in dessen Gesellschaft möge Caspar tun, was ihm beliebe.

Caspar blickte still auf die Gasse hinaus, wo die Frühlingssonne lag. „Es scheint –“ murmelte er, stockte aber und sah ergeben vor sich hin.

“Was scheint?“ fragte der Lehrer. „Nur heraus damit. Halbgesagtes verbrennt die Zunge.“

Caspar richtete die Augen forschend auf ihn. „Es scheint,“ beendete er den Satz, „daß beim Präsidenten doch recht behält, wer zuletzt kommt.“ Als er der Wirkung dieser bitteren Worte inne ward, hätte er sie gern wieder ungesprochen gemacht. Der Lehrer schüttelte entsetzt den Kopf, Hickel pfiff leise durch die gespitzten Lippen. Dann nahm er sein Notizbuch, das zwischen zwei Knöpfen seines Rockes stak, und schrieb etwas auf. Caspar beobachtete ihn mit scheuen Blicken, es flackerte wie ein Blitz über seine Stirn.

„Natürlich werde ich den Staatsrat von dieser unziemlichen Bemerkung unterrichten,“ sagte Hickel in amtlichem Ton.

Als der Polizeileutnant gegangen war, bat Caspar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahmsweise heute fortlassen, weil so schönes Wetter sei. „Es tut mir leid,“ entgegnete Quandt, „ich muß nach meiner Instruktion handeln.“

Der Bursche Hickels erschien erst gegen halb sechs. Caspar begab sich mit ihm auf den Weg nach dem Hofgarten, aber als sie hinkamen, war die Orangerie schon geschlossen. Schildknecht schlug vor, am Onolzbach entlang spazierenzugehen; Caspar schüttelte den Kopf. Er stellte sich an eines der offenen Fenster des Gewächshauses und blickte hinein.

„Suchen Sie wen?“ fragte Schildknecht.

„Ja, eine Frau wollte mich hier treffen,“ erwiderte Caspar. „Macht nichts, gehen wir wieder heim.“

Sie kehrten um; als sie auf den Schloßplatz gelangten, sah Caspar Frau von Kannawurf, die in der Mitte des Platzes stand und einer großen Menge von Spatzen Brosamen hinstreute. Caspar blieb außerhalb der Sperlingsversammlung stehen; er schaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die Fütterung war bald beendet, Frau von Kannawurf setzte den Hut wieder auf, den sie am Band über den Arm gehängt hatte, und sagte, sie sei anderthalb Stunden lang im Gewächshaus gewesen.

„Ich bin kein freier Mensch, kann nicht halten, was ich verspreche,“ antwortete Caspar.

Sie gingen die Promenade hinunter, dann links gegen die Vorstadtgärten. Schildknecht marschierte hinterdrein; der rotbackige kleine Mensch in der grünen Uniform sah drollig aus. Der größte von den dreien war überhaupt Caspar, denn auch Frau von Kannawurf hatte eine kindliche Gestalt.

Nachdem sie lange Zeit schweigend nebeneinander her gewandert waren, sagte die junge Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in diese Stadt gekommen, Hauser.“ Die ein wenig singende Stimme hatte einen fremden Akzent, und während sie sprach, pflegte sie hie und da mit den Lidern zu blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben.

„Ja, und was wollen Sie von mir?“ versetzte Caspar mehr unbeholfen als schroff. „Das haben Sie mir schon gestern im Theater gesagt, daß Sie meinetwegen gekommen sind.“

„Das ist Ihnen nichts Neues, denken Sie. Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegenteil. Es ist sehr schwer, im Gehen darüber zu reden. Setzen wir uns dort oben ins Gras.“

Sie stiegen den Abhang des Nußbaumberges hinan und ließen sich vor einer Hecke auf den Rasen nieder. Ihnen gegenüber sank die Sonne gegen die Waldkuppen der schwäbischen Berge. Caspar schaute andächtig hin, Frau von Kannawurf stützte den Ellbogen aufs Gras und sah in die violette Luft. Schildknecht, als verstehe er, daß seine Gegenwart nicht erwünscht sei, hatte sich weit unterhalb auf einen umgestürzten Baum gesetzt.

„Ich besitze ein kleines Gut in der Schweiz,“ begann Frau von Kannawurf, „ich habe es vor zwei Jahren gekauft, um mir in einem freien Land einen Zufluchts- und Ruheplatz zu schaffen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, mit mir dorthin zu reisen. Sie können dort ganz nach Ihrem Wunsch leben, ohne Belästigung und ohne Gefahr. Nicht einmal ich selbst werde Sie stören, denn ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer woanders hin. Das Haus liegt vollständig einsam zwischen hohen Bergen im Tal und an einem See. Nichts Großartigeres läßt sich denken als der Anblick des ewigen Schnees, wenn man dort im Garten unter den Apfelbäumen sitzt. Da es viel Schwierigkeiten und viel Zeit kosten würde, wenn ich es durchsetzen wollte, Sie vor aller Welt hinzubringen, bin ich dafür, daß Sie mit mir fliehen. Sie brauchen nur ja zu sagen und alles ist bereit.“

Sie hatte Caspar jetzt das Gesicht voll zugewandt, und dieser kehrte den etwas geblendeten Blick von dem roten Sonnenball weg und schaute sie an. Er hätte von Holz sein müssen, um diesem wunderschönen Antlitz gegenüber unempfindlich zu bleiben, und ganz von selbst, und als ob er ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die verwunderten Worte von seinen Lippen: „Sie sind aber sehr schön.“

Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr nicht, hinter ihrem spöttischen Lächeln ein schmerzliches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas Kindlich-Süßes hatte, zuckte beständig, wenn sie schwieg. Caspar geriet in Verwirrung unter ihrem erstaunten Blick und sah wieder in die Sonne.

„Sie antworten mir nicht?“ fragte Frau von Kannawurf leise und enttäuscht.

Caspar schüttelte den Kopf. „Es ist unmöglich zu tun, was Sie von mir wollen,“ sagte er.

„Unmöglich? warum?“ Frau von Kannawurf richtete sich jäh auf.

„Weil ich dort nicht hingehöre,“ sagte Caspar fest.

Das junge Weib sah ihn an. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck eines aufmerksamen Kindes und wurde nach und nach so blaß wie der Himmel über ihnen. „Wollen Sie sich denn opfern?“ fragte sie starr.

„Weil ich dorthin muß, wo ich hingehöre,“ fuhr Caspar unbeirrt fort und blickte immer noch gegen die Stelle, wo die Sonne jetzt verschwunden war.

Ihn zu meinem Plan zu bekehren, ist vergeblich, dachte Frau von Kannawurf sogleich; großer Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm liegt: ja – nein, schön – häßlich; er betrachtet die Dinge nur von oben. Und wie sein Gesicht grenzenlose Güte mit einer naiven und zärtlichen Traurigkeit vereint; man ist benommen und erstaunt, wenn man ihn anschaut.

„Was aber wollen Sie tun?“ fragte sie zaudernd.

„Ich weiß es noch nicht,“ entgegnete er wie im Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolke, welche die Gestalt eines laufenden Hundes hatte.

Also was man mir berichtet hat, ist falsch; er fürchtet sich ja gar nicht, dachte das junge Weib. Sie erhob sich und ging ungestüm voraus, den Hügel hinunter an Schildknecht vorbei, der zu schlafen schien. Man muß ihn schützen, dachte sie weiter, er ist imstande und rennt in sein Verderben; was er tun wird, weiß er nicht, natürlich, er ist wahrscheinlich nicht fähig, einen Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt eine Tat mit sich herum und wird vor nichts mehr zurückschrecken; es ist nicht schwer, ihn zu erraten, obwohl er aussieht wie das Schweigen selbst.

Sie blieb stehen und wartete auf Caspar. „Ei, Sie können ordentlich laufen,“ sagte er bewundernd, als er wieder an ihrer Seite war.

„Die frische Luft macht mich ein bißchen wild,“ antwortete sie und holte tief Atem.

Als Frau von Kannawurf und Caspar durch den Torbogen des Herrieder Turmes gingen, sahen sie plötzlich neben einem leeren Schilderhäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben unwillkürlich stehen, denn der Anblick hatte etwas Erschreckendes. Hickel lehnte nämlich mit der Schulter gegen das Häuschen und sah aus wie zur Bildsäule erstarrt. Trotz der Dunkelheit konnte man wahrnehmen, daß sein Gesicht aschfahl war, und es lag über seinen Zügen eine bleierne Düsterkeit. Hinter ihm stand sein Hund, eine große graue Dogge; das Tier war genau so regungslos wie sein Herr und blickte unverwandt an ihm empor.

Caspar zog grüßend den Hut; Hickel bemerkte es nicht. Frau von Kannawurf sah noch einmal zurück und flüsterte fröstelnd: „Wie furchtbar! Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“

War es denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa durch neue Spielverluste in Verzweiflung gebracht, sich so weit vergessen konnte, daß er, wennschon durch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel geschützt, auf offener Gasse das Schauspiel eines vom Krampf Befallenen darbot? Das ist den Spielern sonst nicht eigen; sie überschlafen ihren Unglücksrausch und geben sich kaltblütig dem tückischen Zufall von neuem in die Hände. Aber Spieler pflegen skrupellos zu sein; setzen sie nicht Geld auf Karten, so setzen sie auf Seelen, und dabei kann es sich wohl ereignen, daß ihnen der Teufel eine gräßliche Schuldverschreibung vorhält, die sie mit ihrem Blut unterzeichnen müssen.

Als Hickel am Nachmittag nach Hause gekommen war, trat ihm vor der Tür seiner Wohnung ein unbekannter Mann entgegen, übergab ihm ein versiegeltes Schreiben und verschwand wieder, ohne gesprochen zu haben. Der erfahrene Blick des Polizeileutnants konnte nicht im unklaren darüber bleiben, daß der Mensch falsches Haar und falschen Bart getragen hatte. Der Brief, den Hickel sogleich öffnete, war chiffriert; seine Entzifferung kostete, trotzdem der Schlüssel bekannt war, den Rest des Nachmittags. Der Inhalt des Schreibens bezog sich auf die mit dem Präsidenten gemeinschaftlich anzutretende Reise. Hickel las, las und las wieder. Er hatte schon beim ersten Male verstanden, aber er las, um nicht denken zu müssen.

Punkt sieben Uhr erhob er sich vom Schreibtisch und ging zehn Minuten lang pfeifend im Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein Glasschränkchen, nahm eine Flasche mit Whisky heraus, die er vom Grafen Stanhope geschenkt erhalten hatte, füllte ein nettes silbernes Becherchen damit und trank es in einem Zuge leer. Hierauf griff er zur Bürste, reinigte den Rock, danach hing er den Säbel um und um halb acht verließ er mit dem Hund seine Wohnung. Er schien gutgelaunt, denn er pfiff und summte noch immer vor sich hin und knipste hier und da mit den Fingern. Doch unter dem Bogen des Herrieder Turmes blieb er auf einmal stehen und sah angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahrender Handwagen stieß ihn an der Hüfte an, deshalb ging er ein paar Schritte weiter bis zum Schilderhause um die Ecke. Dort gewahrte ihn das heimkehrende Paar.

Es würde einen ungenügenden Einblick in den Charakter des Polizeileutnants beweisen, wenn man annehmen wollte, daß diese Sinnesverdunklung länger gedauert habe, als gemeinhin eine vorübergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht Uhr saß er schon mit einigen Kollegen beim Fischessen in der „Goldenen Gabel“ und um neun Uhr war er im Kasino; sollte diese genaue Stundenangabe etwas Verdrießliches haben, so sei hinzugefügt, daß er in der Zeit von neun bis vier Uhr überhaupt keinen Glockenschlag mehr, sondern nur noch das eintönige Knistern der Spielkarten vernahm. Er gewann. Auf dem Heimweg durch die grauende Frühe passierte dann das Auffällige, daß er vor dem Sterngasthof in der Mitte der Straße Halt machte, den Säbel an das Bein preßte und einen langen, saugenden Blick gegen dasselbe Fenster hinaufschickte, hinter dem er einst die schöne Fremde gesehen hatte.

Am Morgen schlief er lange, und als der Bursche mit dem Rapport kam, hörte er kaum zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen Bericht zu erstatten, wo er den Nachmittag oder Abend vorher mit Caspar gewesen. Fast jedesmal hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kannawurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf ist uns begegnet und wir sind spazierengegangen, oder bei Regenwetter: wir sind im Imhoffschen Garten in der Laube gesessen. Dieses „Wir“ hatte aber in Schildknechts Mund einen sehr bescheidenen Klang; er sprach von Caspar stets mit achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahrnehmung machte, daß sein Herr die Berichte über das regelmäßige Beisammensein der beiden mit Unruhe aufnahm, wußte er in seinen Ton etwas wie eine Versicherung von Harmlosigkeit zu legen, fügte zum Beispiel hinzu: „sie haben viel über das Wetter gesprochen,“ oder: „sie haben sich über gebildete Sachen unterhalten.“ Solche Einzelheiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er sich jedesmal in einer taktvollen Entfernung hinter den beiden.

Hickel begann dem jungen Menschen zu mißtrauen.

Eines Abends erwischte er ihn, wie er in einem Winkel der Küche hockte, eine Kerze vor sich, und mit dem Zeigefinger buchstabierend über die Zeilen eines Buches glitt. Als er sich gestört fand, war er wie entgeistert, seine roten Backen hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch, und sein Gesicht wurde finster wie die Nacht, als er sah, daß es die Feuerbachsche Schrift war. „Woher hat Er das?“ schrie er Schildknecht an. Der Bursche erwiderte, er habe es auf dem Bücherschrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das ist eine widerrechtliche Aneignung, ich werde Ihn davonjagen und disziplinieren lassen, wenn so etwas nochmal vorkommt, merk’ Er sich das!“ donnerte Hickel.

Wahrscheinlich hätte die erstbeste Seeräubergeschichte die Neugier des Tölpels ebenso gereizt, sagte sich Hickel später und erklärte sein Aufbrausen für eine Unbesonnenheit. Gleichwohl witterte er Gefahr, der Bursche war nicht nach seinem Sinn, und er beschloß, sich seiner zu entledigen. Ein Anlaß ergab sich bald.

Als Schildknecht tags darauf Caspar abholte, merkte er, daß dieser verstimmt war. Er suchte ihn aufzuheitern, indem er ein paar lustige Schnurren aus dem Kasernenleben vorbrachte. Caspar ging auf die Unterhaltung ein, er fragte den zutraulichen Menschen nach seiner Heimat, nach seinen Eltern, und Schildknecht bemühte sich, auch davon möglichst gutgelaunt zu erzählen, obschon es ein trauriges Kapitel für ihn war. Er hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben, kaum war er von Hause fort, so hatte ein Liebhaber der Frau den Vater im Raufhandel erschlagen. Jetzt saß der Liebhaber samt der Frau im Zuchthaus, und die Brüder hatten das Vermögen durchgebracht.

Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caspar heute seine Freundin nicht treffe.

„Sie geht ins Theater,“ antwortete Caspar.

Warum denn er nicht gehe, fragte Schildknecht weiter.

Er habe kein Geld.

„Kein Geld? Wieviel braucht man denn dazu?“

„Sechs Groschen.“

„Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte Schildknecht, „ich leih’s Ihnen.“

Caspar nahm das Anerbieten mit Vergnügen an. Es wurde nämlich der „Don Carlos“ gegeben, auf den er sich schon lange gefreut hatte.

Das Stück erregte mit Ausnahme des verrückten Frauenzimmers, das den Prinzen verführen will, sein Entzücken. Und wie ward ihm, als der Marquis zum König sprach:

Sie haben umsonst
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umsonst ein großes königliches Leben
Zerstörenden Entwürfen hingeopfert.
Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.
Des langen Schlummers Bande wird er brechen
Und wiederfordern sein geheiligt Recht.

Er erhob sich von seinem Platz, starrte gierig, mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt sich nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum Glück wurde die Störung in der herrschenden Dunkelheit nicht weiter beachtet; sein Nachbar, ein böser alter Kanzleirat, zerrte ihn grob auf den Sitz zurück.

Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächst ein Verhör durch den Lehrer zur Folge. Er gestand, im Schloßtheater gewesen zu sein. „Woher haben Sie Geld?“ fragte Quandt. Caspar erwiderte, er habe das Billett geschenkt bekommen. „Von wem?“ Gedankenlos, noch ganz gefangen von der Dichtung, nannte Caspar irgendeinen Namen. Quandt erkundigte sich am andern Tag, erfuhr selbstverständlich, daß ihn Caspar belogen hatte, und stellte ihn zur Rede. In die Enge getrieben, bekannte Caspar die Wahrheit, und Quandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung.

Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof vor Caspars Fenster der wohlbekannte Pfiff, zwei melodische Triolen, mit denen sich Schildknecht zu melden pflegte. Caspar ging hinunter.

„Es ist aus mit uns beiden,“ sagte Schildknecht zu ihm, „der Polizeileutnant hat mich entlassen, weil ich Ihnen das Geld geliehen hab’. Ich muß jetzt wieder Kasernendienst tun.“

Caspar nickte trübselig. „So geht mir’s eben,“ murmelte er, „sie wollen’s nicht leiden, wenn einer zu mir hält.“ Er reichte Schildknecht die Hand zum Abschied.

„Hören Sie mal zu, Hauser,“ sagte Schildknecht eifrig, „ich will jede Woche zwei- oder dreimal, überhaupt wenn ich frei bin, dahier in den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen. Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht, kann ja möglich sein.“

Es lag in den Worten eine über alle Maßen tiefe Herzlichkeit. Caspar richtete den aufmerksamen Blick in Schildknechts freundlich lächelndes Gesicht und erwiderte langsam und bedächtig: „Es kann möglich sein, das ist wahr.“

„Topp! Abgemacht!“ rief Schildknecht.

Sie gingen durch den Flur nach der Straße. Vor dem Tor stand ein Amtsdiener, und da er Caspars ansichtig wurde, sagte er, er habe ihn gesucht, der Herr Staatsrat schicke ihn her, Caspar solle gleich hinkommen. Caspar fragte, was es gäbe. „Der Herr Staatsrat reist um sechs Uhr mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch mit Ihnen sprechen,“ antwortete der Mann.

Caspar machte sich auf den Weg. Ein paar hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte er nicht weiter. Ein Ziegelwagen war vor dem Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachse umgestürzt und versperrte die Gasse. Caspar wartete eine Weile, kehrte dann um und mußte nun durch die Würzburger Straße und über die Felder. Infolgedessen kam er zu spät. Als er vor dem Feuerbachschen Garten anlangte, war der Präsident schon weggefahren. Henriette und der Hofrat Hofmann standen am Gartentor und nahmen Caspars triftige Entschuldigung schweigend auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blickte lange die Gasse hinunter, wo der Wagen verschwunden war, dann drehte sie sich wortlos um und schritt gegen das Haus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.