Kapitel 18 - Joseph und seine Brüder.

Als Abschiedsgabe erhielt Caspar vom Lord zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüsseler Spitzen und sechs Meter feinen Stoff zu einem Anzug. Nachdem er schon den ganzen Vormittag mit ihm verbracht, kam Stanhope nach Tisch ins Quandtsche Haus, um Caspar Lebewohl zu sagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor. Caspar geleitete den Grafen auf die Gasse. Er war bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den Scheidenden und biß die Zähne zusammen, um nicht aufschreien zu müssen, war es doch ein Stück seines innigsten Seins, das sich grausam von ihm trennte – für immer, das fühlte er wohl, ob er den so teuer gewordenen Mann wiedersah oder nicht. Mit ihm nahm er Abschied von der Unschuld seligsten Vertrauens und von der Süßigkeit schöner Wünsche und Täuschungen.

Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es entsprach seiner reizbaren Natur, sich bei solchen Anlässen einer wohltätigen Gemütserschütterung zu überlassen. Sein letztes Wort klang wie ein Schutz vor Selbstvorwürfen; als wolle er geschwind noch ins Schicksalsrad greifen und die Speichen zurückdrehen; die Kutsche war schon im Fahren, da rief er Quandt und dem Polizeileutnant Hickel, die beide am Tor standen, mit feierlich hochgezogenen Brauen zu: „Bewahrt mir meinen Sohn!“


Quandt drückte die Hände beteuernd gegen seine Brust. Das Gefährt rollte gegen die Krailsheimer Straße.

Fünf Minuten später erschienen Herr von Imhoff und der Hofrat Hofmann; sie mußten zu ihrem Leidwesen erfahren, daß sie die Zeit verpaßt hatten. Um Caspar seiner Traurigkeit zu entreißen, forderten sie ihn zu einem Spaziergang in den Hofgarten auf, ein Vorschlag, dem der Lehrer eifrig zustimmte. Hickel bat, sich anschließen zu dürfen.

Kaum waren die vier Personen um die nächste Ecke gebogen, als Quandt rasch ins Haus zurückeilte und seiner Frau einen Wink gab, die ihm, ohne zu fragen, weil das Unternehmen verabredet war, in den oberen Flur folgte, wo sie sich bei der Treppe als Schildwache aufstellte. Quandt seinerseits machte sich nun daran, das Tagebuch zu suchen. Er hatte sich zu dem Ende ein zweites Paar Schlüssel anfertigen lassen und konnte damit die Kommode und den Schrank öffnen. In der Kommodeschublade fand er nichts, das blaue Heft war nicht mehr darin. Aber auch den Schrank durchstöberte er vergeblich, die Kleider, die Tischlade, die Bücher, das Kanapee; vergeblich kroch er in jeden Winkel, es war nichts zu finden.

Erschöpft trocknete er sich den Schweiß von der Stirn und rief seiner Frau durch die offene Tür zu: „Siehst du, Jette, was ich immer sage: der Kerl hat’s faustdick hinter den Ohren.“

„Ja ja, er ist falsch wie Bohnenstroh,“ erwiderte die Frau, „und lauter Scherereien macht er einem.“ Sie schimpfte bloß ihrem Mann zu Gefallen, denn im Grund hatte sie den Jüngling gern, weil noch nie ein Mensch sich so höflich und nett gegen sie betragen hatte.

Quandt blieb für den Rest des Tages verstimmt wie einer, der um ein edles Werk betrogen wurde. Und war es nicht so? War es nicht seine Mission auf dieser Erde, die Lüge von der Wahrheit zu scheiden und als rechter Herzensalchimist den Mitmenschen die unvermischten Elemente aufzuzeigen? Er durfte nicht ruhig zusehen und nicht Nachsicht üben, wo der Atem der Lüge wehte.

Von solchen Empfindungen bewegt, hielt er am selben Abend seiner Gattin eine längere Rede, worin er sich folgendermaßen aussprach: „Sieh mal, Jette, ist dir nicht sein gerades und aufrechtes Sitzen bei Tisch schon aufgefallen? Kann man annehmen, daß so ein Mensch jahrzehntelang in einem unterirdischen Loch vegetiert hat? Kann man dies glauben, wenn man seine fünf Sinne ordentlich beieinander hat? Von seiner gerühmten Kindlichkeit und Unschuld kann ich, offen gestanden, nichts entdecken. Er ist gutmütig, ja; gutmütig mag er sein, aber was beweist das? Und wie er vor den reichen und vornehmen Leuten scharwenzelt und liebedienert als der ausgemachte Duckmäuser, der er ist! Da hat deine Freundin, die Frau Behold, den Nagel auf den Kopf getroffen. Sieh mal, oft, wenn ich unversehens in sein Zimmer trete, es liegt mir natürlich daran, ihn zu überraschen, aber da hockt er dir manchmal in der Ecke – es ist sonderlich anzuschauen. Ich weiß nicht, ist er so geistesabwesend oder stellt er sich nur so, aber wenn er mich dann bemerkt, verändert sich sein Gesicht blitzschnell zu der heuchlerischen Grimasse von Freundlichkeit, die einen leider entwaffnet. Einmal hab’ ich ihn sogar am hellichten Tag bei heruntergelassenen Rouleaus gefunden. Was kann das bedeuten? Es steckt eben was dahinter.“

„Was soll denn dahinter stecken?“ fragte die Lehrerin.

Quandt zuckte die Achseln und seufzte. „Das mag Gott wissen,“ sagte er. „Bei alledem mag ich ihn leiden,“ schloß er mit versorgtem Stirnrunzeln; „ich mag ihn gut leiden, er ist ein aufgeweckter und trätabler Bursche. Man muß aber sehen, was dahinter steckt. Es ist etwas Unheimliches um den Menschen.“

Die Lehrerin, die sich für die Nacht frisierte, war des Schwatzens müde. Ihr hübsches Gesicht hatte den Ausdruck eines dummen, schläfrigen Vogels, und ihre auffallend nah beieinander stehenden Augen blinzelten matt ins Kerzenlicht. Plötzlich ließ sie den Kamm ruhen und sagte: „Horch mal, Quandt.“

Quandt blieb stehen und lauschte. Caspars Zimmer lag über dem ehelichen Schlafgemach, und sie vernahmen nun in der eingetretenen Stille die unaufhörlich auf und ab gehenden Schritte ihres rätselhaften Hausgenossen.

„Was mag er treiben?“ meinte die Frau verwundert.

„Ja, was mag er treiben,“ wiederholte Quandt und starrte finster zur Decke. „Ich weiß nicht, mir wurde immer gesagt, daß er mit den Hühnern schlafen geht; ich merke nichts davon. Nun siehst du’s, da soll man sich auskennen. Jedenfalls wollen wir ihm das Spazierengehen bei Nacht abgewöhnen.“ Quandt öffnete leise die Tür und schlich auf Pantoffeln vorsichtig hinaus. Vorsichtig schlich er die Treppe empor, und als er vor Caspars Tür angelangt war, versuchte er durchs Schlüsselloch zu spähen, aber da er nichts sehen konnte, legte er in derselben gebückten Stellung das Ohr ans Schloß. Ja, da wandelte er herum, der Unerforschliche, wandelte herum und schmiedete seine dunkeln Pläne.

Quandt drückte die Klinke, die Tür war versperrt. Da erhob er seine Stimme und forderte energisch Ruhe. Sogleich ward es drinnen mäuschenstill.

Als nun der Lehrer wieder zu seiner Frau kam, fand sich, daß mit unerwarteter Plötzlichkeit deren schwere Stunde angebrochen war. Schon lag sie stöhnend auf dem Bett und verlangte nach der Hebamme. Quandt wollte die Magd schicken; die Frau sagte: „Nein, das geht nicht, geh du selber, die Person ist blöde und wird den Weg verfehlen.“ Wohl oder übel mußte sich Quandt dazu entschließen, so unbequem auch die Sendung war, denn erstlich hatte er sich aufs Bett gefreut, zweitens fürchtete er sich ein wenig vor dem Gang durch die finstern Gassen, war doch erst zu Pfingsten hinter der Karlskirche ein Rechnungsakzessist überfallen und halb erschlagen worden.

Verdrossen hastete er in die Kleider; hierauf holte er die Magd aus den Federn und befahl ihr, eine befreundete Nachbarin zu rufen, die sich im Notfall zur Hilfeleistung erboten hatte, dann schlurfte er wieder herein, durchkramte die Truhe nach seinen Pistolen, wobei er das Nähtischlein umwarf, was ihn wieder derart in Verzweiflung setzte, daß er mit den Händen seinen Kopf packte und sein unseliges Los verwünschte. Die Frau, der das Elend schon den Sinn verrückte, entnahm ihrem Zustand den Mut, ihm allerlei sonst feig zurückgehaltene Aufrichtigkeiten zuzuschleudern, welche ihn im besondern und das Mannsvolk im allgemeinen trafen. Das hatte die beste Wirkung, und nachdem er sein kleines Söhnchen, das nebenan schlief und von dem Tumult erwacht war, in die Magdkammer getragen hatte, trollte er sich endlich.

Caspar, im Begriff sich niederzulegen, vernahm auf einmal mit Schaudern die schmerzensvolle Stimme der Frau unten. Immer furchtbarer wurden die Laute, immer greller drangen sie herauf. Dann war es wieder eine Zeitlang stille, dann knarrte die Haustüre, Schritte gingen, Schritte kamen, und nun begann das Schreien viel ärger. Caspar dachte, ein großes Unglück sei passiert; sein erster Trieb war, sich zu retten. Er lief zur Tür, sperrte auf und eilte die Stiege hinab. Die Wohnzimmertüre war offen, überheizte Luft quoll ihm entgegen. Die Magd und die Nachbarin standen geschäftig am Bett der Frau Quandt; diese schrie nach ihrem Mann, schrie zu Gott und bäumte sich auf.

Ach, was sah Caspar da! Wie ward ihm doch zumute! Ein Köpflein sah er, einen weißen kleinen Rumpf, ein ganzes winziges Menschlein, emporgehoben mit Händen, die nicht kleiner waren als es selbst! Alle Glieder zitterten an Caspar, er wandte sich um, und ohne daß ihn jemand erblickt, floh er die Stiege hinauf, sank auf dem obersten Treppenabsatz atemlos hin und blieb sitzen.

Wieder ging die Haustür, Quandt erschien mit der Wehfrau, doch schon stürzte ihm die Nachbarin jubelnd entgegen: „Ein Töchterlein, Herr Lehrer!“

„Ei, sieh da!“ rief Quandt mit einer Stimme, so stolz, als hätte er dabei etwas Nennenswertes geleistet.

Piepsendes Geplärr bestätigte die Anwesenheit der neuen Weltbürgerin. Nach einer Weile kam trällernd die Magd, und Caspar sah, daß sie eine Schüssel voll Blut trug.

Es mochte in allem nicht mehr denn eine Stunde verflossen sein, als Caspar sich endlich erhob und in seine Kammer taumelte. Wie betrunken entkleidete er sich, wühlte sich in die Betten und vergrub das Gesicht.

Er konnte nichts dawider tun: aus der Nacht erhob sich gleich einer purpurnen Scheibe die Schüssel voll Blut.

Er konnte nichts andres sehen als dies: aus einem blutigen Schlund krochen junge Wesen und wurden Menschen genannt. Nackend und winzig, einsam und hilflos und unter dem Jammer der Mutter krochen sie wehevoll aus einem Kerker ohnegleichen, wurden geboren, ja, geboren, sowie die Mutter ihn geboren.

Das ist es also, dachte Caspar. Er spürte das Band, begriff den Zusammenhang, fühlte seine Wurzeln tief in der blutenden Erde, alles starre Leben regte sich, das Geheimnis war entschleiert, die Bedeutung offenbar.

Doch Mitleid und Grauen, Sehnsucht und Furcht waren nun eines, Leben und Sterben zu einem Namen verschmiedet. Er wollte nicht einschlafen und schlief ein, aber je näher der Schlummer kam, eine je qualvollere Todesangst umfing ihn, so daß er sich nur widerstrebend ergab: ein banger kleiner Tod im Leben.

Da er am Morgen über die gewohnte Stunde ausblieb, verwunderte sich Quandt, ging hinauf und pochte an der Tür. Obgleich er das Zimmer vom Abend her versperrt wußte, drückte er auf die Klinke, fand jedoch zu seinem Erstaunen die Tür unverschlossen. An Caspars Bett tretend, rüttelte er ihn und sagte ärgerlich: „Nun, Hauser, Sie fangen ja an, ein Siebenschläfer zu werden. Was ist’s denn?“

Caspar setzte sich auf, und der Lehrer sah, daß das Kopfkissen ganz naß war; er deutete hin und fragte, was das sei. Caspar besann sich ein wenig und antwortete, es sei vom Weinen, er habe im Schlaf geweint.

Was, geweint? dachte Quandt argwöhnisch; warum geweint? wieso weiß er es denn so schnell, wenn er im Schlaf geweint hat? und warum hat er so lange gewartet, bis ich mich entschlossen, ihn zu holen?

Dahinter steckt eine Finte, entschied Quandt, er will mich milde stimmen. Forschend schaute er sich um, und sein Blick fiel auf das Wasserglas, das auf dem Nachttischlein stand. Er nahm das Glas und hob es prüfend empor, es war halb leer. „Haben Sie Wasser getrunken, Hauser?“ fragte er düster.

Caspar sah ihn verständnislos an. Der Blick des Lehrers, von dem Glas auf das Kissen gleitend, bekam einen vorwurfsvollen Ausdruck. „Sollten Sie nicht aus Versehen das Wasser verschüttet haben?“ fragte er weiter; „ich sage: aus Versehen und meine durchaus nichts andres, Sie können freimütig mit mir reden, Hauser.“

Caspar schüttelte langsam den Kopf; er verstand nicht, was der Mann wollte.

Verstockt, verstockt, dachte Quandt und gab das Verhör auf. Als Caspar zum Unterricht ins Wohnzimmer kam, teilte ihm Quandt in geziemender Würde mit, daß ihm eine Tochter geschenkt worden sei.

„Wieso geschenkt?“ fragte Caspar naiv.

Quandt runzelte die Stirn. Die Gleichgültigkeit, mit welcher der Jüngling ein solches Ereignis aufnahm, verdroß ihn sehr. Seine Haltung war kalt und förmlich, als er sagte: „Wir beginnen wie gewöhnlich mit der Bibelstunde. Lesen Sie Ihr Pensum vor.“

Es war die Geschichte Josephs.

Da ist ein alter Mann, der viele Söhne hat, aber den jüngsten unter ihnen am meisten liebt und ihm einen bunten Rock gibt, um ihn auszuzeichnen. Deswegen hassen ihn nun die Brüder und wollen nicht mehr freundlich mit ihm reden. Und Joseph erzählt ihnen einen Traum von den Garben. „Siehe, wir banden Garben auf dem Felde“, erzählt er, „da stand meine Garbe auf und blieb stehen und siehe, eure Garben waren ringsum und beugten sich vor meiner Garbe.“ Da antworten die Brüder: „Willst du denn König werden über uns? willst du herrschen über uns?“ Und sie hassen ihn noch mehr wegen seiner Träume. Aber Joseph ist sehr arglos, er scheint den Grund ihrer Abneigung nicht zu ahnen, er erzählt ihnen alsbald einen zweiten Traum, nämlich wie die Sonne, der Mond und elf Sterne sich vor ihm beugten. Ein Traum von leichter Deutbarkeit, denn elf ist die Zahl der Brüder. Sogar der Vater schilt ihn wegen dieses Traumes. „Was denkst du, Joseph,“ spricht er vorwurfsvoll, „soll ich und deine Mutter und deine Brüder, sollen wir kommen, uns vor dir zu beugen?“ Und bald darauf gehen die Brüder, die alle Hirten sind, aufs Feld, um die Schafe zu weiden, und Joseph wird von seinem Vater zu ihnen gesandt. Und wie die Brüder ihn von ferne sehen, sprechen sie zueinander: „Seht, da kommt der Träumer.“ Und sie beschließen ihn zu erwürgen, sie wollen ihn in eine Grube werfen und vorgeben, ein wildes Tier habe ihn verzehrt; „dann werden wir ja sehen, was aus seinen Träumen wird,“ sagen sie hohnvoll. Da ist aber einer unter den Brüdern, der Erbarmen hat, und er warnt die andern. Er rät ihnen, den Jüngling in die Grube zu werfen, ihn jedoch nicht zu töten. Und so geschieht es auch; sie ziehen ihm den Rock aus, den bunten Rock, den er trägt, und werfen den Knaben in die Grube, und als dies vollbracht ist, erscheint ein Zug von Kaufleuten aus fernem Land, und die Brüder einigen sich jetzt, den Joseph zu verkaufen, und sie verkaufen ihn um Geld. Dann nehmen sie Josephs Kleid, tauchen es in das Blut eines geschlachteten Tieres und sprechen zum Vater: „Das blutige Kleid haben wir gefunden, sieh doch, ob es nicht deines jüngsten Sohnes Kleid ist.“ Der Alte zerreißt sein Gewand und ruft aus: „Trauernd will ich hinunterfahren zu meinem Sohn in die Unterwelt.“

Als Caspar so weit gekommen war, versagte ihm die Stimme. Er stand auf, legte das Buch beiseite, und seine Brust ward von Seufzern nur so geschüttelt. Die Hand vor den Mund gepreßt, erstickte er mit großer Anstrengung das heraufquellende Schluchzen.

Quandt stutzte. Er beobachtete den Jüngling scharf. Er hatte dabei den schrägen Blick einer an den Pfahl gebundenen Ziege. „Hören Sie mal, Hauser,“ sagte er endlich. „Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß Sie von dieser simpeln Geschichte so ergriffen sind, die Ihnen noch dazu wohlbekannt sein muß; meines Wissens haben Sie ja diesen Teil des Alten Testaments schon beim Professor Daumer durchgenommen. Da muß Ihnen doch auch gegenwärtig sein, daß es dem Joseph noch recht glücklich ergangen ist, denn er war ein reiner und guter Mensch. Ich bitte, sparen Sie sich also die Mühe. Wenn Sie pflichtgetreu, aufrichtig und folgsam sind, werden Sie bei mir zehnmal besser fahren als durch die unzeitige Schaustellung von so weit hergeholten Affekten. Ich glaube Ihnen Ihre Tränen einfach nicht; ich denke Ihnen das heute schon einmal deutlich genug bewiesen zu haben. Damit erzielen Sie bei mir nur das Gegenteil von dem, was Sie beabsichtigen mögen, ich bin nämlich kein Freund von Gefühlsausbrüchen, im allgemeinen nicht, und bei so ungegründetem Anlaß schon gar nicht. Es ist nachgerade Zeit für Sie, sich an den Ernst des Lebens zu gewöhnen. Und weil wir nun schon so offen miteinander reden, möchte ich Sie dringend warnen, alle Leute, mit denen Sie zu tun haben, für dumm zu halten; das ist eine Verblendung von Ihnen, welche die nachteiligsten Folgen haben wird. Ich bin Ihnen wohlgesinnt, Hauser, ich meine es wahrhaft gut mit Ihnen, vielleicht haben Sie keinen bessern Freund als mich, was Sie freilich erst einsehen werden, wenn es zu spät sein wird. Aber hüten Sie sich, mich hinters Licht zu führen! Und nun fahren wir fort. Ich will diesen Zwischenfall als nicht geschehen betrachten.“

Im Verlauf dieser eindrucksvollen Predigt war die Stimme des Lehrers weich und gütig geworden, und es hatte beinahe den Anschein, als wolle er nun Caspar nehmen und an sein Herz drücken. Aber Caspar stand mit albernem Gesicht, in welchem ein Lächeln hilflos zuckte, vor ihm da. Was ist denn das? dachte er, was will der Mann?

Es war ihm, auch bei späterem Nachdenken, ganz und gar nicht verständlich, worauf die Worte des Lehrers hinzielten, und er kam zu der Ansicht, daß Quandt der rätselhafteste Mensch sei, dem er je begegnet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.