Kapitel 16 - Anbetung der Sonne.

Am Morgen nach Caspars Ankunft blieb der Lord länger als gewöhnlich in seinen Zimmern. Auch dann vermied er es noch, Caspar rufen zu lassen, und machte erst die tägliche Promenade. Als er zurückkam, ging Caspar vor dem Salon auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle er ihn umarmen, schien Caspar zu übersehen; er blickte steif zu Boden. Sie traten ins Zimmer, der Lord entledigte sich seines schneebedeckten Pelzmantels und stellte möglichst unbefangen Fragen: wie es Caspar ergangen, wie der Abschied, wie die Reise gewesen und mehr dergleichen. Caspar antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführlichkeit, war freundlich und keineswegs bedrückt oder vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denken, und es bedurfte einer gewissen Anstrengung von seiner Seite, um die sonderbar kühle Unterhaltung fortzusetzen. Er konnte sogar einen leisen Schrecken nicht unterdrücken, wenn er Caspar ansah, der ihn mit seinen weinfarbigen Augen fortwährend fremd betrachtete.

Es war eine Erlösung, als der Polizeileutnant gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Nebenzimmer; sie sprachen dort über eine halbe Stunde leise miteinander. Nachdem der Graf hinausgegangen war, trat Caspar zum Schreibtisch, streifte den Diamantring von seinem Finger und legte ihn mit bedächtiger Gebärde auf einen angefangenen, in englischer Sprache geschriebenen Brief; dann schritt er zum Fenster und blickte in das Schneetreiben.


Stanhope kam allein zurück. Er fragte, ob Caspar wisse, wo er untergebracht werden solle. Caspar bejahte.

„Es ist am besten, wir gehen mal gleich zu den Lehrersleuten hin, um dein künftiges Quartier in Augenschein zu nehmen,“ sagte der Lord.

Caspar nickte und wiederholte: „Ja, es ist am besten.“

„Der Weg ist nicht weit,“ meinte Stanhope, „wir können zu Fuß gehen; wenn du es aber wünschest und die Zudringlichkeit der Menschen scheust, die zu erwarten ist, kann ich den Wagen bestellen.“

„Nein,“ erwiderte Caspar freundlich, „ich gehe lieber; die Leute werden sich schon trösten, wenn sie sehen, daß ich auch auf zwei Beinen spaziere.“

Da fiel Stanhopes Blick auf den Ring. Erstaunt nahm er ihn in die Hand, sah Caspar an, sah den Ring an, überlegte mit zusammengezogenen Brauen, lächelte flüchtig und wild, dann legte er den Ring schweigend in eine Lade, die er verschloß. Als ob nichts geschehen wäre, zog er den Mantel an und sagte: „Ich bin bereit.“

Das Aufsehen in den Gassen war erträglich; es spielte sich alles in Ruhe ab, das Volk hier war gutmütig und scheu.

Über dem Tor des Quandtschen Hauses war ein Kranz aus Immergrün aufgehängt, in dessen Mitte auf einem Pappendeckel ein gemaltes „Willkommen“ prangte. Quandt trat den Ankömmlingen im braunen Bratenrock entgegen, sonntäglich aussehend, seine Frau hatte einen schottischen Schal umgehängt, damit ihr körperlicher Zustand weniger auffällig hervortrete.

Zuerst wurde Caspars Zimmerchen besichtigt, das im obern Flur lag. Der Raum hatte auf einer Seite eine schiefe Mansardenwand, bot aber sonst ein nettes Ansehen. Über dem altväterisch-bunten Kanapee hing ein schwarzgerahmter Stich; das Bild stellte ein unsagbar schönes Mädchen vor, das die Arme schmerzlich nach einem Jemand ausstreckte, von dem man gerade noch zwischen Gebüschen die Beine und einen fliegenden Mantel sah. An der andern Wand hingen zwei längliche Deckchen, worauf Sinnsprüche eingestickt waren; auf dem einen: „Früh auf, spät nieder bringt verlorene Güter wieder“; auf dem andern: „Hoffnung ist des Lebens Stab von der Wiege bis zum Grab“. Auf dem Sims standen Töpfe mit Winterblumen, und über niedriges Dächerwerk hinweg konnte sich der Blick an einer lieblich geschlossenen Landschaft ergötzen; schneeweiße Hügel begrenzten in nicht zu großer Weite das ansteigende Tal.

Caspar war es beim Hinschauen recht jämmerlich zumute; er dachte gewisser Vorstellungen von ehedem, die jetzt keinen Bezug mehr hatten: eine Fahrt mit weitgestecktem Ziel; die Straße läuft fröhlich dem Wagen voran; Wolken teilen sich beim Näherkommen; Berge treten gefällig zur Seite; die Luft schwirrt vom Gesang der Fremde; Wälder und Wiesen, Dörfer und Städtchen hüpfen im besonnten Nebel vorüber, und unter dem schließenden Ring des Himmels strömt Welt auf Welt hervor.

Es war nicht mehr an dem.

Unten im Wohnzimmer dunsteten die frischgefegten Dielen noch von Feuchtigkeit. Quandt setzte dem Lord die wichtigsten Punkte seines Programms auseinander. Bisweilen schaute er Caspar dabei an, und sein Blick war dann durchdringend wie bei einem Schützen, der das Ziel fixiert, ehe er die Flinte anlegt.

Stanhope sagte, er schätze sich glücklich, daß Caspar endlich Aussicht auf eine geregelte Bildung habe, alles bisherige sei ja nur Willkür und Ungefähr gewesen. Wenn der Herr Staatsrat nicht so fest darauf bestanden hätte, daß Caspar in Ansbach bleibe – dies sollte offenbar eine Erklärung gegen den still zuhörenden Jüngling sein –, wären sie ohne Zweifel heute schon in England oder doch auf dem Weg dahin. „Da ich ihn aber in so guten Händen weiß,“ fügte er hinzu, „bin ich nichtsdestoweniger froh; man sieht daraus, daß auch ein unerwünschter Zwang oft die ersprießlichsten Folgen hat.“

Seine Worte waren trocken; es war, als rede sein Hut oder sein Stock. Das Kompliment, das sie enthielten, war schal, oft gebraucht wie Spülwasser. Aber für Quandt waren sie eine Herzenserquickung. Er belebte sich zusehends und meinte eifrig, es sei am geratensten, wenn Caspar noch heute einziehe. Stanhope schaute Caspar fragend an; dieser senkte den Kopf, worauf sich der Lord zu einem nachsichtigen Lächeln zwang. „Wir wollen nichts überstürzen,“ sagte er. „Ich lasse morgen früh das Gepäck herschaffen, heute soll er noch bei mir bleiben.“

Es war dunkel geworden, als beide das Haus verließen. Quandt begleitete sie bis auf die Straße. Zurückkehrend schloß er ganz leise und langsam die Tür, wie er immer zu tun pflegte, dann stellte er sich in die Mitte des Zimmers, legte beide Hände flach gegen die Brust und schüttelte mindestens eine Viertelminute lang in lautlosem Erstaunen den Kopf.

„Warum schüttelst du denn so den Kopf?“ fragte Frau Quandt.

„Ich begreife nicht, ich begreife nicht,“ antwortete der Lehrer bekümmert und schlich herum, als suche er etwas auf dem Boden.

„Was begreifst du denn wieder nicht?“ fragte die Frau verdrießlich.

Quandt zog einen Stuhl herbei, setzte sich neben seine Gattin und schaute sie aus seinen blassen Augen fest an, bevor er fortfuhr: „Hast du vielleicht etwas Wunderbares an dem Menschen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette, hast du etwas, irgend etwas Außergewöhnliches bemerkt, irgend etwas, das ihn von einem andern Menschen unterscheidet?“

Frau Quandt lachte. „Ich habe nur bemerkt, daß er nicht besonders höflich war und daß er seidene Strümpfe trägt wie ein Marquis,“ entgegnete sie leichthin.

„Ja, nicht wahr? nicht besonders höflich, wie? und seidene Strümpfe, ganz recht,“ sagte Quandt mit sonderbarer Hast, als sei er einer Entdeckung auf der Spur. „Na, die seidenen Strümpfe werden wir ihm schon abgewöhnen und das Modewestchen auch; dergleichen schickt sich nicht für unser einfaches Haus. Aber ich frage dich: verstehst du die Menschen? verstehst du die Welt? Davon hört man nun seit Jahren als von einem noch nie dagewesenen Wunder reden! Dafür erhitzen sich geistreiche Männer, Männer von Geschmack, von Welt, von Kenntnissen; ist es zu fassen? Gibt es denn keinen, der mit seinen eignen, ihm von Gott eingesetzten Augen sehen kann? Ist es zu fassen?“

Mittlerweile waren Caspar und der Lord zum Gasthof zurückgekehrt. Stanhope war nicht gerade rosig gestimmt. Die Schweigsamkeit seines Begleiters erboste ihn; es war ihm, als werde hinter einem Vorhang eine Pistole gegen ihn gerichtet.

Er war unruhig, fühlte sich in die Enge getrieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schicksale sich wie auf einem schmalen Pfad zwischen Abgründen begegnen und wo es zum Austrag kommen muß. Da stellen sich Worte ungerufen ein; die Dämonen erheben sich aus dem Schlummer.

Stanhope schellte dem Diener, ließ die Lichter anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich darauf wurde der Hofrat Hofmann gemeldet; der Lord sagte, er sei nicht zu sprechen, gab auch Befehl, niemand mehr vorzulassen. Er machte sich unter seinen Papieren zu schaffen und fragte dabei Caspar: „Wie haben dir die Lehrersleute gefallen?“

Caspar wußte nicht recht, wie, und gab eine unbestimmte Antwort. In Wahrheit wußte er überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder dessen Frau oder das Haus aussahen. Er erinnerte sich bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee aus der Untertasse getrunken und den Zucker dazu abgebissen hatte, was ihm sehr albern erschienen war.

Plötzlich kehrte sich Stanhope um und fragte mit der Miene eines Menschen, der die Geduld verliert: „Also, was ist es mit dem Ring? Was wolltest du damit sagen?“

Caspar antwortete nicht; in traurigem Trotz schaute er ins Leere. Stanhope näherte sich ihm, tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter und sagte scharf: „Sprich; sonst wehe dir!“

„Mir ist schon weh genug,“ entgegnete Caspar eintönig, und sein Blick glitt von der Gestalt des Grafen wie von etwas Schlüpfrigem hinweg auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kaminfeuer Schatten malte.

Was hätte er sagen sollen? War doch sein Gefühl fast ungemindert gegen den, der ihm den Weg gewiesen, der zum erstenmal wie ein Mensch zu ihm geredet. Sollte er von der furchtbaren Nacht im Tucherschen Haus erzählen, wo er gesessen, die Fäuste in der Brust, das Herz zerrieben, einsam und der Welt beraubt? Wie er angefangen hatte zu suchen, zu suchen, wie er die Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt war, wie er Kinder gesehen, den Fluß gesehen, an einem Baume gekniet, alles wie nie zuvor, alles anders, er selbst verwandelt, mit neuen Augen, von Unwissenheit erlöst ... Unmöglich, solches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte.

Er fuhr fort, ins Leere zu starren, indes Stanhope, die Hände auf dem Rücken, auf und ab wanderte und widerwillig, hastig, stoßweise zu reden begann. „Willst du mich etwa anklagen? Soll ich mich rechtfertigen? Goddam, ich habe für dich gekämpft wie für mein eigen Fleisch und Blut, Vermögen und Ehre zum Pfand gesetzt, keine Demütigung gescheut, mich unter Pöbelvolk und Pedanten herumgeschlagen, was denn noch? Wer das Unmögliche von mir verlangt, ist mir nicht wohlgesinnt. Noch ist nicht aller Tage Abend, das Garn ist noch nicht abgewickelt, ich stelle noch immer meinen Mann, aber ich muß mir verbitten, daß du mich wie den Aussteller eines Schuldscheins beim Buchstaben packst und meine schöne Freiwilligkeit unter moralischen Druck setzest. Wenn du von mir forderst, anstatt das Gewährte dankbar zu erkennen, dann sind wir geschiedene Leute.“

Was er doch alles spricht, dachte Caspar, der kaum zu folgen vermochte.

Der nächste Gedanke Stanhopes war, Caspar habe vielleicht eine geheime Verbindung und von daher Lehre und Ermunterung empfangen, denn er sah wohl, und mit Angst nahm er es wahr, daß er nicht mehr das willenlose Geschöpf von ehedem vor sich hatte. Aber auf seine rauh zufahrende Frage machte Caspar ein so verwundertes Gesicht, daß er den Argwohn sogleich fallen ließ. Caspar legte die Hände flach zusammen und sagte nun in seiner um Deutlichkeit bemühten Weise, er habe Stanhope nicht kränken wollen, auch mit dem Ring nicht; es sei nur etwas geschehen, was die Geschichten betreffe; man habe ihm immer Geschichten erzählt, Geschichten von ihm selbst, er habe zugehört und doch nicht ordentlich verstanden. Es sei wie mit dem Holzpferdchen gewesen, mit dem er in seinem Kerker geredet und gespielt und das doch nichts Lebendiges gewesen sei. „Aber jetzt,“ fügte er stockend hinzu, „jetzt ist das Holzpferdchen lebendig geworden.“

Stanhope warf den Kopf zurück. „Wie? was denn?“ rief er schnell und furchtsam, „sprich deutlich.“ Er nahm die Lorgnette und schaute Caspar stirnrunzelnd durch die Gläser an, eine Gebärde, die Hochmut ausdrücken sollte, aber im Grunde nur Verlegenheit war.

„Ja, das Holzpferdchen ist lebendig geworden,“ wiederholte Caspar bedeutungsvoll.

Ohne Zweifel glaubte er mit diesem kindlichen Sinnbild alles dargelegt zu haben, was ihm das entschleierte Antlitz der Vergangenheit verraten hatte. Er mochte die Gewalten ahnen, die sein Schicksal geformt hatten, und jedenfalls begriff er das Wirkliche, das schwer von Gründen Wirkliche seiner langen Gefangenschaft, die ihn, außerhalb der Gesetze, bis über das Jünglingsalter hinaus zum Zustand eines Halbtiers verurteilt hatte. Es mochte ihm klar geworden sein, daß es sich dabei um eine Sache handelte, der in den Augen der Menschen ein hoher, ja der höchste Wert zukam; daß sein Anrecht auf diese Sache ungeschmälert fortbestand und daß, wenn er nur hinginge, um zu zeigen, daß er lebe, um zu sagen, daß er wisse, aller Widerstand und Willkür zu Ende sei und er besitzen durfte, wessen er freventlich beraubt.

Das war es etwa, aber es war noch mehr. Und es fügte sich, daß der Lord selbst, in Angst für sich, für seine Auftraggeber, für die Zukunft, für das ganze Gebäude, an dem er mitgezimmert und von dem er, wenn es zusammenbrach, vielleicht mit zerschmetterten Gliedern in eine bodenlose Tiefe stürzen mußte, daß er selbst das Wort fand und aussprach, welches dies andre, Größere, Unsagbare für Caspar zauberhaft und schrecklich erleuchtete.

Beinahe fühlte sich Stanhope besiegt, und er hatte nur noch wenig Lust, gegen eine Macht zu kämpfen, die gleichsam aus dem Nichts entstanden war und wie der Ifrid aus Salomons Wunderflasche den ganzen Himmel verfinsterte. Ich war zu großmütig, dachte er; ich war zu lau; Wankelmut trägt die eigne Haut zu Markt; läßt man die Träumer aufwachen, so greifen sie nach den Zügeln und machen die Rosse scheu; das süße Zeug schmeckt nicht länger, nun gilt es Salz in den Brei zu tun.

Er setzte sich an den Tisch, Caspar gegenüber, und indem er beim Sprechen kaum die Zähne voneinander entfernte und fortwährend düster und blicklos lächelte, sagte er: „Ich glaube dich zu verstehen. Man kann es dir nicht verübeln, daß du Schlüsse aus meinen, wie ich bekennen muß, ein wenig unvorsichtigen Erzählungen gezogen hast. Ich werde in diesem Augenblicke sogar noch weiter gehen und dir an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen. Ich will dein lebendig gewordenes Holzpferdchen aufzäumen, und wenn du dann Lust hast, kannst du es meinetwegen reiten. Ich habe dich nicht getäuscht: du bist durch deine Abkunft den mächtigsten unter den Fürsten ebenbürtig, du bist das Opfer der scheußlichsten Kabale, die Satans Bosheit je ersonnen hat; hättest du keine andre Instanz zu fürchten als die der Tugend und des moralischen Rechts, dann säßest du nicht hier, und ich wäre nicht gezwungen, dich so zu warnen, wie ich es jetzt tue. Denn merk auf. So gegründet deine Ansprüche, deine Hoffnungen sind, so verderblich müssen sie dir werden, sobald sie dich nur den ersten Schritt zum vorgefaßten Ziele lenken. Die erste Handlung, das erste Wort besiegelt unabänderlich deinen Tod. Du wirst vernichtet sein, eh du noch den Finger ausgestreckt hast, um zu nehmen, was dir gebührt. Vielleicht kommt eine Stunde, morgen oder in einem Monat oder in einem Jahr, wo du an der Aufrichtigkeit dessen, was ich dir sage, zweifeln könntest; nun, so beschwöre ich dich: glaube mir! Laß deine Lippen siebenfach vernietet sein. Fürchte die Luft und den Schlaf, daß sie dich nicht verraten. Möglich, daß einst der Tag kommt, an dem du sein darfst, was du bist, aber bis dahin halte still, wenn dir dein Leben lieb ist, und laß dein Holzpferdchen hübsch im Stall.“

Langsam hatte sich Caspar erhoben. Ein übergewaltiger Schrecken donnerte, vielgestaltig wie die Blöcke eines Felssturzes, um ihn her. Um seine Gedanken anderswo hinzulenken, betrachtete er mit einer an Wahnsinn grenzenden Aufmerksamkeit die leblosen Gegenstände: Tisch, Schrank und Stühle, den Leuchter, die Gipsfiguren am Kamin, den krummgebogenen Schürhaken. War ihm dies alles neu oder nur unerwartet? Keineswegs. Es hatte, wie giftige Luft, schon lange um ihn her gebrütet. Aber ein andres das bloße Ahnen und Spüren und ein andres das zermalmende Wissen.

Auch Stanhope war aufgestanden; er trat nahe vor Caspar hin und fuhr mit eigentümlich näselnder Stimme fort: „Es hilft nichts; in diesem Zeichen bist du eben geboren; in diesem Zeichen hat dich deine Mutter geboren. Das ist das Blut. Es richtet dich und rechtfertigt dich; es ist dein Führer und dein Verführer.“

Und nach einer Weile: „Laß uns nun schlafen gehen, es ist spät. Morgen früh wollen wir in die Kirche und beten. Vielleicht schickt uns Gott eine Erleuchtung.“

Caspar schien nicht zu hören. Blut! das war das Wort. Das war die Kraft, die alle Poren seines Wesens durchdrang. Schrie nicht sein Blut aus ihm, und von fernher wurde der Schrei erwidert? Blut trug aller Erscheinungen Grund, verborgen, wie es war, in Adern, im Gestein, in Blättern und im Licht. Liebte er sich nicht in seinem Blut, spürte er nicht die eigne Seele wie einen Spiegel aus Blut, in dem er sich ruhend beschauen konnte? Wieviel Menschen in der Welt, so nahe beieinander, so reich bewegt, so fremd und stumm, und alle durch einen Strom von Blut wandelnd, und sein Blut doch besonders rauschend, ein besonderes Ding, in einsamem Bette fließend, voll von Geheimnissen, unbekannter Schicksale voll!

Auch als er den Blick wieder gegen den Grafen kehrte, war es, als wandle der durch Blut, eine Vorstellung, die freilich durch die scharlachfarbene Tapete begünstigt, wenn nicht erzeugt wurde. Wenn man die Kerzen verlöscht, dachte Caspar, wird alles tot sein, das Blut und die Worte, er und ich; ich will nicht schlafen diese Nacht, nicht sterben. Ja, Caspar hätte, was sein Mund geredet, gern wieder in sich hineingeschluckt, in jenen Kerker des Leibes gesperrt, der Schweigen hieß. Gehorsam sein, unwissend sein, unglücklich sein, Schande und Schimpf ertragen, die Stimme des Blutes ersticken, nur nicht sterben müssen, nur leben, leben, leben. Ei, man wird sich fürchten, man wird feig sein wie eine Maus, man wird Türen und Fenster verriegeln, man wird die Träume vergessen, den Freund vergessen, man wird sich klein machen, man wird das Holzpferdchen vergraben, aber man wird leben, leben, leben ...

Der Lord wünschte, daß Caspar nicht in seiner Mansarde, sondern hier unten nächtige. Er befahl dem Aufwärter, ein Bett auf dem Sofa zu richten. Indes Caspar sich entkleidete, ging er hinaus, kam jedoch nach einiger Zeit wieder, überzeugte sich, daß der Jüngling ruhig lag, und verlöschte die Lichter. Die Verbindungstür zu seinem Zimmer ließ er offen stehen.

Ungeachtet seines Vorsatzes schlief Caspar bald ein und nahm sein aufgewühltes Gemüt in den Schlummer hinüber. Er mochte vier bis fünf Stunden geschlafen haben, als sich sein bleiernes Daliegen in ein ruheloses Herumwälzen verwandelte. Plötzlich erwachte er mit einem tiefen Seufzer und starrte brennenden Auges in die Finsternis. An den Fensterscheiben war ein Kribbeln und Tasten, das von den anprallenden Schneeflocken herrührte und dem leisen Pochen einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des schlafenden Stanhope; höchst befremdlich klang dies Atmen des andern Menschen in der Nacht, wie ein drohendes Geflüster: hüte dich, hüte dich.

Er ertrug es nicht mehr im Bett. Es war, als sei ihm der Körper mit tausend Fäden umschnürt, und als er aufstand, geschah es nur, weil er sich vergewissern wollte, ob er sich noch frei bewegen könne. Er schlug die Wolldecke um die Schultern und trat barfüßig ans Fenster.

Das ganze große All war angefüllt mit den gesprochenen Worten, die wie rote Beeren in der Dunkelheit hingen. Überall Gefahr; bloß zu denken, war schon Gefahr; jeder Anhauch aus fremdem Munde Gefahr.

Er fing an zu zittern. Die Knie saßen loser in den Gelenken, es war ihm so leicht und schwer zugleich; sein Nachdenken hatte eine andre, nähere Folge, auch alle Gegenstände waren näher, und das Ganze der Erde und des Himmels, Wolken, Wind und Nacht hatten etwas eingebüßt, etwas unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles ist nun so wunderlich wahr. Caspar hält die Scherben eines kostbaren Gefäßes in der Hand, und seine Phantasie will nicht einmal die schöne Form, wie sie gewesen, zurückgestalten.

Unten auf der Gasse geht lautlos der Nachtwächter. Der zuckende Schein seiner Laterne vergoldet den Schnee. Caspar folgt ihm mit den Blicken, denn es ist, als ob der Mann in irgendeinem unerklärlichen Zusammenhang mit seinem Schicksal stehe. Sie wandeln miteinander über ein verschneites Feld, jener fragt Caspar, ob ihn friere, und wirft ihm einen Teil seines Mantels um die Schultern, so daß sie beide unter derselben Hülle gehen. Auf einmal gewahrt Caspar, daß es kein Männergesicht ist, das sich so mild erbarmend zu ihm kehrt, sondern das schöne, traurige Gesicht einer Frau. Es enthalten diese Trauer und diese Schönheit etwas Redendes, und daß sie zusammen unter demselben Mantel wandern, hat den allertiefsten Sinn, etwas, das mit Qual und Freuden eines ist und vom Anfang der Dinge stammt.

Da tönte das ungeheure Wort des Grafen neuschallend in die Nacht: „In diesem Zeichen hat dich deine Mutter geboren.“

Dich geboren! Welcher Laut! Was war darin beschlossen! Caspar legte beide Hände vors Gesicht; ihm schwindelte.

Da hörte er ein Geräusch von Schritten. Jäh drehte er sich um, es war ein Emportauchen aus finsterer Flut; der Graf stand im Schlafrock vor ihm. Wahrscheinlich hatte Caspars nächtliches Wachsein ihn aufgeweckt, er hatte einen leisen Schlummer.

„Was treibst du?“ fragte Stanhope mürrisch.

Caspar machte einen Schritt auf ihn zu und sagte dringlich, atemlos, drohend und flehend: „Führ mich zu ihr, Heinrich! Einmal laß mich die Mutter sehen, nur einmal, nur sehen; nicht jetzt, später vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur sehen! Nur einmal!“

Stanhope wich zurück. Dieser Aufschrei hatte etwas Überirdisches. „Geduld,“ murmelte er, „Geduld.“

„Geduld? Wie lange noch? Hab’ schon lange Geduld.“

„Ich verspreche dir –“

„Du versprichst es, aber wie soll ich glauben?“

„Setzen wir die Frist eines Jahres fest.“

„Ein Jahr ist lang.“

„Lang und kurz. Ein kleines, kurzes Jahr und dann –“

„Dann –?“

„Dann will ich wiederkommen –“

„Und mich holen?“

„Dich holen.“

„Gelobst du das?“ Caspar heftete einen suchenden und wie ein mattes Flämmchen erlöschenden Blick auf den Grafen. Da der Widerschein des Schnees die Nacht erhellte, konnte jeder des andern Züge deutlich unterscheiden.

“Ich gelob’ es.“

„Du gelobst es, aber wie kann ich’s wissen?“

Stanhope geriet in eine sonderbare Bedrängnis; dies Gegenüberstehen zu solcher Stunde, die immer herrischer, stürmischer werdenden Fragen des Jünglings wirkten wie Gespensterschauer auf seine Einbildungskraft. „Reiß mich aus deinem Herzen aus, wenn es nicht geschieht,“ murmelte er dumpf; er mußte in diesem Augenblick lebhaft des Mannes gedenken, der vom Teufel lebendigen Leibes in den feuerspeienden Vesuv geschleudert wurde.

Und Caspar darauf: „Was kann mir das nützen? Sag mir den Namen, sag mir ihren Namen, sag mir meinen Namen.“

„Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir nur. Es wacht ein Gott über dir, Caspar. Es kann dir nichts versagt sein, denn du hast die Kaufsumme für das Glück zum voraus entrichtet, die wir andern täglich in kleiner Münze bezahlen müssen. Und bezahlt muß werden, alles muß bezahlt werden, das ist der Sinn des Lebens.“

„Du versprichst also, in einem Jahr wieder dazusein?“

„In einem Jahr.“

Caspar bohrte die Finger in Stanhopes Hand und richtete einen tiefen, seltsam seelenhaften, seltsam stolzen Blick auf den Lord, der seinerseits die Augen senkte, während sein Gesicht steinalt aussah. Als er in sein Zimmer zurückging, begann er plötzlich leise plappernd das Vaterunser zu beten.

Erst gegen Morgen entschlief er wieder. Als er sich mittags erhob, war Caspar längst auf; er saß am Fenster und schien die Eisblumen zu studieren.

Um ein Uhr verließ er mit ihm das Hotel. Arm in Arm, ein Schaugepränge für die Einwohnerschaft, spazierten sie über den hochliegenden Schnee durch das Herrieder Tor zum Markt. Dort war eine große Versammlung von Bauern und Händlern. Vor dem Portal der Gumbertuskirche blieb Stanhope stehen und forderte Caspar auf, mit hineinzugehen. Caspar zögerte, folgte jedoch dem Grafen in den hohen, schmucklosen, von schwarzem Gebälk überdachten Raum.

Mit raschen Schritten eilte Stanhope zum Altar, warf sich mit den Knien auf die steinernen Stufen, beugte die Stirn herab und verblieb so in vollkommener Unbeweglichkeit.

Caspar, peinlich berührt, schaute sich unwillkürlich um, ob niemand Zeuge dieser demütigen Handlung sei. Aber die Kirche war leer. Warum krüppelt er sich so zusammen, dachte er verstimmt, Gott kann doch nicht im Boden drinnen sein. Allmählich ward ihm bange; das Schweigen des riesigen Raumes strömte bis in seine Brust. Und wie er nun in die Höhe blickte, sah er oben, durch ein geöffnetes Bogenfenster, wie die Sonne mit Macht die winterlichen Nebel zu gewältigen suchte. Da rötete sich sein bläßliches Gesicht zu schüchterner Freude und das Schweigen in seiner Brust wandelte sich zu einer hinaufziehenden Verehrung.

„O Sonne,“ sagte er halblaut und mit einfältiger Inbrunst, „mach doch, daß alles nicht so ist, wie es ist. Mach es doch anders, Sonne. Du weißt ja, wie es ist; du weißt ja, wer ich bin. Scheine nur, Sonne, daß meine Augen dich immer sehen können, immer wollen dich meine Augen sehen.“

Indem er so sprach, flutete eine goldene Lichtwelle bis auf die kreidig-weißen Fliesen, und Caspar, sehr zufrieden, meinte, die Sonne hätte ihm damit auf ihre Weise eine Antwort erteilt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.