Kapitel 15 - Ein Kapitel in Briefen.

Freiherr von Tucher an Lord Stanhope:

Seit geraumer Zeit bin ich ohne Nachricht von Eurer Herrlichkeit. Die unsichere Lage, in der ich mich Caspar gegenüber befinde, veranlaßt mich, zudringlicher zu sein, als es Ihnen, verehrter Herr, genehm sein mag, und Sie um eine rasche Erledigung der schwebenden Angelegenheit zu bitten, um so mehr, da meine Teilnahme an dem Findling nicht mehr die gleiche wie ehedem ist, und er selbst wiederum durch den gezwungenen Aufenthalt in meinem Hause sich mehr als ein Gefangener, denn als Gast und zugehöriges Glied erscheinen muß. Ein endgültiger Zustand wäre dem Jüngling ehestens zu wünschen; seine aufgeregten Hoffnungen enthalten seinem Geist jede Ruhe vor, und Tag für Tag glüht er in einer so fieberhaften Erwartung, daß an ein vorgesetztes Studium nicht mehr zu denken ist und auch dem blödesten Auge die Unruhe seines Gemüts nicht entgeht. Die Abende bringt er mit unnützen Schreibereien hin, und sein Hauptvergnügen ist, mit der Spitze eines Bleistifts auf einer großen Landkarte die Straßen zu verfolgen, die er bald mit Eurer Lordschaft zu fahren hofft, jedenfalls eine praktische, wenn auch einseitige Art, Geographie zu treiben. Er spricht, denkt und träumt von nichts anderm als von der bevorstehenden Reise, und wenn Ihnen, Mylord, noch ein Geringes an dem Wohl des unglücklichen Jünglings gelegen ist, so vermag ich keinen stärkeren Appell an Ihre Güte zu erheben als den, ein so drängendes und fruchtloses Hinweben in möglichster Bälde zu beenden. Sie sind der einzige Mensch auf Erden, dessen Wort und Name noch Gewicht in seinen Ohren hat, und sein grenzenloses Vertrauen gegen Sie muß auch das Herz desjenigen bewegen, der sonst durch die Launen, die Unverläßlichkeit und Zwitterhaftigkeit des rätselvollen Wesens eines ehemals intensiven Attachements für ihn beraubt wurde.


Daumer an den Präsidenten Feuerbach:

Eure Exzellenz haben mir die Ehre erwiesen, mich um Auskunft über Caspar Hausers nunmehrige Verfassung zu ersuchen. Ich muß gestehen, daß mich dies einigermaßen in Verlegenheit gesetzt hat. Ich habe mich in den letzten anderthalb Jahren wohl gehütet, dem so sorgfältig Abgeschlossenen nahezutreten, weil ja hierzulande jeder ängstlich bedacht ist, sein kleinstes Privileg vor fremdem Einspruch zu wahren, und so wird ein Interesse, das die Menschheit angeht und jeden freien Geist in Mitleidenschaft ziehen muß, unversehens zur Angelegenheit einer Partei. Eure Exzellenz möge diese Insinuation entschuldigen, sie möge lediglich für meine unerloschene Teilnahme an dem Los des Findlings zeugen, das seinen Freunden heute weniger als je Anlaß zu übertriebenen Hoffnungen gibt. Die vertrauensvolle Zuschrift Eurer Exzellenz hat meine Bedenklichkeit besiegt, ich habe Caspar letzter Tage im Tucherschen Haus aufgesucht, er ist auch, zum erstenmal seit langer Zeit, bei mir gewesen, und ich gebe Ihnen hier einige Mitteilungen über ihn, die, wiewohl allgemeiner Natur, doch das Besondere seiner gegenwärtigen Lage erhellen.

Caspar ist ein hochaufgeschossener junger Mann geworden, der jetzt gut und gern den Eindruck eines etwa Zweiundzwanzigjährigen macht. Träte er, der nun den gesitteten Menschen von Lebensart zugerechnet werden muß, unerkannt in eine Gesellschaft, so würde er doch als eine befremdliche Erscheinung auffallen; sein Gang hat etwas von dem Furchtsam-Zaudernden und Vorsichtigen einer Katze; seine Züge sind weder männlich noch kindlich, weder jung noch alt: sie sind alt und jung zugleich, besonders auf der Stirn verraten einige leicht gezogene Furchen seltsam ein vorzeitiges Altern. Auf seiner Lippe sproßt heller Bartflaum, dies scheint ihn oft befangen zu machen, will auch nicht zu der sanften Mädchenhaftigkeit des Gesichts und den noch immer bis zur Schulter hängenden braunen Haarlocken stimmen. Seine Freundlichkeit ist herzgewinnend, sein Ernst bedächtig, über beiden schwebt stets ein Hauch von Melancholie. Sein Benehmen ist altklug, hat aber eine vornehme, ganz ungezwungene Gravität. Tölpelhaft und schwerfällig sind bloß noch manche seiner Gebärden, auch seine Sprache ist hart und die Worte sind ihm nicht immer bereit. Er liebt es, mit wichtiger Miene und in anmaßendem Ton Dinge zu sagen, die bei jedem andern läppisch klängen, aus seinem Mund jedoch sich ein schmerzlich-mitleidiges Lächeln erzwingen; so ist es höchst possierlich, wenn er von seinen Zukunftsplänen spricht, von der Art, wie er sich einrichten wolle, wenn er was Rechtes gelernt, und wie er es mit seiner Frau halten wolle. Eine Frau betrachtet er als notwendigen Hausrat, als etwas wie eine Obermagd, die man behält, solange sie taugt, und fortschickt, wenn sie die Suppe versalzt oder die Hemden nicht ordentlich flickt.

Sein immer sich gleichbleibendes stilles Gemüt ähnelt einem spiegelglatten See in der Ruhe einer Mondscheinnacht. Er ist unfähig zu beleidigen, er kann keinem Tier weh tun, er ist barmherzig gegen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet. Er liebt den Menschen; jedes Menschengesicht wird ihm zum Götterantlitz, und er sucht den ganzen Himmel darin. Nichts Außerordentliches ist mehr an ihm als das Außerordentliche seines Schicksals. Ein reifer Jüngling, der keine Kindheit besessen, die erste Jugend verloren, er weiß nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Altersgenossen, ohne Freunde, gleichsam das einzige Geschöpf seiner Gattung, erinnert ihn jeder Augenblick an seine Einsamkeit mitten im Gewühl der ihn umdrängenden Welt, an seine Ohnmacht, an seine Abhängigkeit von der Gunst und Ungunst der Menschen. Und so ist eigentlich all sein Tun nur Notwehr; Notwehr seine Gabe zu beobachten, Notwehr der umsichtige Scharfblick, womit er jede Besonderheit und Schwäche des andern erfaßt, Notwehr die Klugheit, womit er seine Wünsche anbringt und den guten Willen seiner Gönner sich dienstbar zu machen weiß.

Ja, Eure Exzellenz, er ist ohne Freunde. Denn wir, die ihm wohlwollen, ihn vor der gröbsten Bedrängnis des Lebens bewahren, wir sind doch nur Zuschauer vor dem Ungeheuern seiner Existenz. Und jener vielberedete Mann, Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caspars Freund genannt werden? Was dürfen wir glauben? Wo findet der begründete Zweifel Stillung? Mir ahnt Schreckliches, wenn ich der Erwartungen des Jünglings in bezug auf den Grafen denke, der ein Heiliger, ein Ohnegleichen sein müßte, wenn sich alle Versprechungen erfüllen würden, die mit seinem Auftreten für Caspar verbunden waren. Und erfüllen sie sich nicht, erfüllt sich nur ein Hundertstel von ihnen nicht, so prophezeie ich ein böses Ende. Denn ein solches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum Leben der Welt, aus äußerstem Frieden den ausschweifendsten Lockungen erschlossen, will alles, fordert das ganze Maß des Glücks oder muß, nur um ein weniges betrogen, einer ungemessenen Devastation anheimfallen.

Ich gestehe, daß mein schwarzsichtiges Temperament mehr als das immer unverhohlener werdende Gerede der Hiesigen mir die Kühnheit zu solchen Erwägungen gibt; wie dürfte sich auch mein Mißtrauen an einem so hochgestellten Mann vermessen. Aber man spricht seit heute davon, daß Caspar nach Ansbach in Pflege kommen solle. Frau Behold, die alte Feindin Caspars, trägt das Gerücht in der Stadt herum und verkündet überall mit Schadenfreude, daß aus der englischen Reise und aus den Luftschlössern des Grafen nichts geworden sei. Wie mir meine Schwester erzählt, habe die Magistratsrätin indirekte Nachricht von der Lehrerin Quandt erhalten; beide Frauen sind Jugendfreundinnen und in demselben Haus mitsammen aufgewachsen. Gott verhüte, daß Caspar von diesem Geschwätz etwas erfährt. Ich wäre Eurer Exzellenz sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft berichten ließen, damit ich dem ungereimten Geklatsche so entgegentreten kann, wie es für das Wohl unsers Schützlings wünschbar ist.

Feuerbach an Herrn von Tucher:

Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der eingetretenen Notwendigkeit Rechnung tragend, teile ich Ihnen hierdurch mit, daß Sie Ihres Amtes als Vormund Caspar Hausers von heute ab enthoben sind. Eine gleichzeitige Urkunde des Kreis- und Stadtgerichtes wird Ihnen dies in amtlicher Form bekanntgeben, wie auch weiterhin die Verfügung, daß Caspar dem Grafen Stanhope zu überlassen sei; freilich einstweilen nur der Form nach, denn bis die schwierigen und verwickelten Verhältnisse eine Änderung erlauben werden, soll Caspar in der Familie des Lehrers Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope hat während dieser Zeit für seine zweckmäßige Erziehung und Verpflegung zu sorgen, ich selbst werde in Abwesenheit des Pflegevaters über das Wohl des Jünglings wachen. Am siebenten des Monats wird der Gendarmerieoberleutnant Hickel bei Ihnen eintreffen, ein energischer Beamter, der durch Regierungsdekret zum Spezialkurator für die Übersiedlung Caspars nach Ansbach bestellt ist. Seine Lordschaft, Graf Stanhope, hat sich in letzter Stunde entschlossen, einer Handlung, die in den Augen des Publikums einen durchaus amtlichen Charakter tragen soll, fernzubleiben, und dieser Vorsatz hat meine volle Billigung. Ich sehe keine Schwierigkeit darin, Caspar von der veränderten Lage der Dinge zu unterrichten, und halte die Besorgnisse wegen dieses Punktes für übertrieben. Ich selbst werde dieser Tage eine längst vorbereitete Reise nach der Hauptstadt antreten, ich hoffe bei dieser Gelegenheit eine günstige Wendung in den Lebensumständen Caspars endgültig herbeizuführen.

Baron Tucher an den Präsidenten Feuerbach:

Eurer Exzellenz die untertänige Nachricht, daß der plötzliche Tod meines Oheims mich zwingt, die Stadt zu verlassen und nach Augsburg zu reisen. Ich habe die Obsorge für den noch in meinem Hause weilenden Caspar Herrn Bürgermeister Binder und Herrn Professor Daumer übergeben und es ihnen anheimgestellt, Caspar hier zu belassen oder für die restliche Frist seines Aufenthaltes in der Stadt zu sich zu nehmen. Eine Mitteilung über das Bevorstehende oder auch nur eine Andeutung ist von meiner Seite aus gegen den Jüngling noch nicht erfolgt, und ich muß ohne Hehl bekennen, daß mich eine gewisse unbesiegbare Furcht davon abhält. Caspar glaubt noch steif und fest daran, daß er mit seinem erlauchten Beschützer nach England oder Italien reisen soll, ihm erscheint eine, wenn auch nur zeitweise Entfernung von dem Grafen als eine Sache der Unmöglichkeit, und derjenige, der ihm eine solche Kunde überbringt, müßte eine göttliche Überredungskunst besitzen, um ihn mit den neuen Umständen zu versöhnen. Meinem unmaßgeblichen Erachten nach ist es ein Fehler, den Knaben wiederum in enge Verhältnisse zu bringen, die ihn niemals werden befriedigen, seinen Durst nach Leben und Betätigung nicht werden stillen können. Der Hang seiner Ideen hat eine verhängnisvolle Anmaßung gewonnen, er ist dem Kreis friedlicher Bürgerlichkeit entwachsen, sein Lerneifer in den vergangenen Monaten war gleich Null, alle seine Gedanken, sein ganzes Streben ist auf den Lord gerichtet, und wenn nun Graf Stanhope von ihm gehen wird, dann bin ich sicher, daß er einen unglücklichen Gesellen, ein unnützes und bedauernswertes, aus jedem sozialen Zusammenhang gelöstes Glied der menschlichen Gesellschaft zurücklassen wird. Wenn es der eigentliche Wesenszug der Fürstenkinder wäre, daß sie dem privaten Leben untauglich und hilflos gegenüberstehen, dann allerdings wäre Caspar ein Auserwählter unter den Prinzen. Vielleicht aber schmiedet ihn das Schicksal noch, und es wird ein Mann aus ihm, der eine Krone zu erwerben vermag, wenn es auch eben keine Fürstenkrone ist. Für mich ist die Episode Caspar Hauser nunmehr abgeschlossen, und was auch immer ich an Enttäuschung und Bitterkeit daraus gewonnen habe, sie hat mir einen Einblick in Menschenwahn und Menschengeschäfte gegeben, den ich für mein ferneres Leben nicht missen möchte. So muß eben jeder auf seine Weise bezahlen.

Daumer an den Präsidenten Feuerbach:

Ich fühle mich verpflichtet, Eurer Exzellenz von den Ereignissen der letzten Tage eine wahrheitsgetreue Darstellung zu machen, insoweit eben Wahrheit auf zwei Augen ruht. Vielleicht klingt vieles von dem, was ich zu berichten habe, so ungewöhnlich, daß ich mich fragen muß, ob ein Mann, der den übeln Ruf eines nicht ganz nüchternen Kopfes genießt, die geeignete Person ist, solche Vorfälle zu beschreiben. Aber die strenge Einsicht Eurer Exzellenz habe ich noch am wenigsten zu fürchten; wenn ich sachlich bin, wird die Sache für sich selber sprechen, und meiner Hand bleibt nur die Aufgabe, die Reihenfolge der Begebnisse festzuhalten, was freilich nicht immer ganz leicht sein mag.

Vor vier Tagen besuchte mich Herr von Tucher und teilte mir mit, daß er wegen eines Todesfalles verreisen müsse. Schon vorher hatte er mich wie auch Herrn Binder gebeten, die Aufsicht über Caspar zu führen so lange, als der Jüngling noch in Nürnberg bleiben müsse. Da mir dies befremdlich erschienen war, ließ Herr von Tucher durchblicken, die an höherer Stelle beliebte Umgehung seiner Person mache ihm ein solches Handeln zum Gebot. Er meinte das Schreiben Eurer Exzellenz, durch welches ich, halb wider Willen, bewogen wurde, Caspar aufzusuchen und mich neuerdings mit ihm zu beschäftigen. Dies hatte Herr von Tucher sehr übel aufgenommen. Ich gab mir keine Mühe, den stolzen Mann andern Sinnes zu machen, auch vermute ich zu seiner Ehre, daß dies Betragen noch eine ernstere, menschliche Regung habe, denn als ich ihn fragte, ob er Casparn schon eine Andeutung über die zu erwartende Ankunft des Polizeileutnants Hickel gemacht, wich er aus und entgegnete hastig, er wolle dies mir überlassen, der ich doch eines gewinnenderen Zuredens fähig sei und bei Caspar mehr Vertrauen genieße.

Am Nachmittag beschloß ich, zu Caspar zu gehen. Als ich in sein Zimmer trat, las er die christliche Andacht des Tages. Er schaute heiter von dem Buch empor, blickte in mein Gesicht und, Seltsameres ist nicht zu denken, im Nu überzogen sich seine Wangen mit leichenfahler Blässe. Es war mir schwül um die Brust, ich setzte mich auf einen Stuhl und schwieg ängstlich. Ganz und gar vergaß ich die übernommene Rolle, ich fühlte bloß mit ihm, ich sah, daß er alles, was ich ihm zu sagen hatte und weswegen ich gekommen war, von meinen Augen abgelesen hatte, die unbewußte Furcht mußte wohl in seinem Innern geschlummert haben, anders kann ich es auf natürlichem Weg nicht erklären, ich fühlte, wie plötzlich die Wurzeln seines Herzens aufgerissen wurden. Er erhob sich, er schwankte, ich wollte ihn halten, er gewahrte mich kaum, er schien völlig betäubt. Ich folgte ihm bis zum Bett, er warf sich darauf hin, krümmte den Körper und fing in einer solchen Weise zu weinen an, daß mir das Mark in den Knochen gefror.

Noch war nichts geschehen, es konnte noch alles gut werden; so bildete ich mir ein und ließ es an tröstlichen Worten nicht fehlen. Das Weinen dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erhob er sich, schlich in den Winkel, kauerte hin und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ich redete unablässig in ihn hinein, ich weiß nicht mehr, was ich alles vorbrachte. Gegen sechs Uhr abends verließ ich ihn, und obgleich er bis dahin noch nicht einmal den Mund aufgetan, dachte ich mir, er werde mit der Geschichte schon fertig werden. Ich empfahl dem Diener, sich bisweilen nach Caspar umzusehen, und im stillen nahm ich mir vor, nach ein paar Stunden wiederzukommen, aber es war unausführbar, meine Berufsarbeit nahm mich bis in die Nacht in Anspruch. Als ich von Caspar fortgegangen war, saß er auf einem Schemel zwischen Ofen und Wandschrank, am andern Morgen um halb neun Uhr trat ich wieder in sein Zimmer, und wer beschreibt das schmerzliche Erstaunen, das ich empfand, als ich ihn an genau derselben Stelle, in unveränderter Haltung, noch immer die Hände vors Gesicht geschlagen, so sah, wie ich ihn vierzehn Stunden früher verlassen. Das Bett war noch in demselben Zustand, etwas zerdrückt von seinem ersten Draufhinsinken, kein Gegenstand war berührt, auf dem Tisch stand der mit einer dicken Haut überzogene Milchbrei, sein Nachtessen, daneben die Schale mit erkaltetem Kaffee vom Morgen, und es herrschte eine stickige, ungelüftete Atmosphäre. Der Diener kam, begegnete meiner stummen Frage mit einem Achselzucken, ich wandte mich an Caspar selbst, ich rüttle ihn an der Schulter, ich packe seine eiskalte Hand – nichts, keine Antwort, kein Laut, er schwelt vor sich hin, kaum daß sich seine Augen rühren. So verging wieder eine Viertelstunde, da wurde mir’s unheimlich, ich beschloß nach dem Arzt zu schicken, vielleicht habe ich auch dergleichen vor mich hingemurmelt, jedenfalls hatte Caspar verstanden, was ich wollte, denn jetzt regte er sich, hob den Kopf wie aus einer Grube heraus und schaute mich an. Ach, diesen Blick! Und wenn ich Abrahams Alter erreichte, nie könnte ich diesen Blick vergessen. Das war ein andrer Mensch. Leider liegt es nicht in meiner Natur, eine Situation momentan in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen; anstatt zu schweigen, begann ich wieder mit Scheintröstungen, aber ich spürte gleich, daß es besser sei, das letzte Abendrot der Hoffnung nicht noch einmal über die verdunkelte Seele heraufzubeschwören; was mich entschuldigt, ist, daß ich selber ja kaum mit Klarheit wußte, was im Werk war, und daß mich die zermalmende Wirkung von etwas vollständig Unausgesprochenem, deren Zeuge ich war, mehr lähmte und erschütterte als das Wissen darum. Doch will ich Eure Exzellenz nicht durch Betrachtungen verwirren und hübsch in der Ordnung bleiben.

Ich hatte schon zuviel Zeit verloren, ich mußte fort. Nach vieler Mühe war es mir gelungen, Caspar zu überreden, daß er sich ein bißchen niederlege, auch hatte er mir versprochen, mittags bei uns zu essen; das war mehr als ich erwarten durfte, ich ging also beruhigter meinen Geschäften nach, war um halb eins wie gewöhnlich zu Hause, wir warteten einige Zeit, aber wer nicht kommt, ist Caspar. Ich vermutete, er sei eingeschlafen, denn daß er die Nacht über nicht ein Auge geschlossen, hatte ich ihm angesehen, und ohne böse Gedanken ging ich um zwei Uhr wieder ins Gymnasium mit dem Vorsatz, beim Nachhauseweg in der Hirschelgasse nachzuschauen. Das tat ich auch, es war halb fünf und dämmerte schon stark, als ich am Tucherhaus war, aber wie wurde mir, als mir der Pförtner mitteilte, Caspar habe schon um zwölf Uhr das Haus verlassen und angegeben, er gehe zu mir. Ich war wie vor den Kopf geschlagen; neben aller Verantwortlichkeit durfte ich auch die begründetste Sorge für den armen Menschen hegen; ich lief in meine Wohnung, da hatte sich kein Caspar blicken lassen, ich schickte die Schwester zum Bürgermeister, die alte Mutter sogar machte sich auf die Beine, um bei einigen Bekannten nachzufragen; währenddessen beriet ich mich mit dem Kandidaten Regulein, und als meine Schwester Anna binnen kurzem zurückkam und wir gleich an ihrem Gesicht merkten, daß sie nichts erfahren hatte, schien es geboten, ohne Verzug die Polizei zu unterrichten, die ja im Fall eines Unglücks mitschuldig war, da man die Bewachung in letzter Zeit auffallend vernachlässigt hatte. Ich gab hastig noch ein paar Anweisungen und war eben im Fortgehen begriffen, als sich die Tür auftat und Caspar auf die Schwelle trat.

Aber war er es wirklich? Wir glaubten sein Gespenst zu sehen. Ich mache mich keiner Übertreibung schuldig, wenn ich versichere, daß wir alle den Tränen nahe waren. Ohne sich umzusehen und ohne zu grüßen, schritt er mit sonderbarer Langsamkeit durch die Stube bis zum Tisch, nahm auf dem Holzsessel Platz, stützte das Kinn in die Hand und schaute mit unverwandtem Blick regungslos ins Licht der Lampe. Wir waren alle drei wie verzaubert, und meine Schwester sowie der Kandidat gestanden mir später, daß ihnen ganz fröstlich zumute gewesen sei. Mittlerweile war auch meine Mutter zurückgekehrt, sie war die erste, die an den Tisch trat und Caspar fragte, wo er gesteckt habe. Er gab keine Antwort. Meine Schwester Anna glaubte ihn besser zum Reden bringen zu können, sie nahm ihm den Hut vom Kopf, strich mit der Hand über seine Haare und suchte ihn mit leiser Stimme seinem Brüten zu entreißen. Ganz vergeblich; er schaute immer nur ins Licht, immer ins Licht, die geöffnete Hand an der Wange, das Kinn über dem Daumen. Ich sah mir ihn jetzt genauer an, indem ich mich unauffällig näherte, jedoch sein Antlitz verriet nichts als einen unbeweglichen, gar nicht einmal schmerzlichen, sondern starren, fast stupiden Ernst. Meine Mutter fuhr fort, in ihn zu dringen, er solle doch sagen, wo er herkomme und wo er gewesen sei. Da sah er uns alle der Reihe nach an, schüttelte den Kopf und faltete bittend die Hände.

Wir beredeten uns nun, daß Caspar in unserm Hause bleiben und da übernachten solle; wir hatten, um das Aufsehen wegen Caspars Verschwinden gleich wieder zu ersticken, die Magd zum Bürgermeister geschickt, auch zu den andern Leuten, die wir schon inkommodiert hatten, und meine Mutter ging in die Küche, um fürs Abendessen zu sorgen, da erschien der Tuchersche Diener, erkundigte sich, ob Caspar bei uns sei, und als wir dies bejahten, sagte er, er solle gleich nach Hause, der Polizeileutnant Hickel aus Ansbach wäre da und Caspar müsse noch am Abend mit ihm abfahren. Eine solche Botschaft kam mir nicht weiter unerwartet, nur daß die Sache gar so eilig sein solle, versetzte mich einigermaßen in Wallung, und ich war unüberlegt genug, dem Menschen eine scharfe Antwort zu geben; wenn ich mich recht erinnere, so sagte ich, der Herr Polizeileutnant möge sich doch gedulden, es sei ja nicht ein Sack Kartoffeln zu expedieren, den man holterdiepolter auflade. Meine Erregung muß jedem verständlich erscheinen, der das Vorhergegangene in gerechte Erwägung zieht, es kamen mir aber doch Bedenken an, ich ärgerte mich nachher über meine Unbesonnenheit und veranlaßte den Kandidaten Regulein, daß er ins Tuchersche Haus gehe, um mit dem Herrn aus Ansbach zu sprechen und ihn tunlichst aufzuklären. Das wäre soweit ganz gut gewesen, nur passierte dabei die Fatalität, daß der Kandidat, der etwas redseliger Natur ist und der froh war, den Fremden mit irgend etwas unterhalten zu können, dem Herrn Polizeileutnant die Geschichte von dem Verschwinden Caspars brühwarm hinterbrachte, woraus sich denn später der peinlichste Auftritt ergab.

Es war schon sieben, als das Essen auf den Tisch gesetzt wurde, der Kandidat war noch nicht zurück, wir nahmen alle Platz und waren nun wieder einmal, wie in früheren Zeiten, mit Caspar ganz unter uns. Aber wie anders waren die Zeiten, wie anders Caspar! Ich mußte mir den Menschen beständig ansehen, wie er mit niedergeschlagenen Augen dasaß und lustlos in der Grütze löffelte. Seine Blicke waren jetzt unruhig und bisweilen überlief ein Schauder seine Haut. Lange konnte ich mich solchen Betrachtungen nicht überlassen, denn gegen viertel acht wurde mit sonderbarer Heftigkeit an der Hausglocke gerissen, Anna lief hinunter, um zu öffnen, und alsbald erschien ein Offizier in Gendarmenuniform, und bevor er noch seinen Namen nannte, wußte ich natürlich, wer es war. Caspar war bei dem grellen Glockenlärm stark zusammengefahren. Hinzufügen muß ich noch, daß die vorher erwähnte Auseinandersetzung mit dem Diener sowie das Gespräch mit dem Kandidaten im Flur vor der Treppe stattgefunden und Caspar nichts davon gehört hatte; er erhob sich jetzt und schaute mit einem langen Blick gegen die Türe, und als er des Herrn Polizeileutnants ansichtig geworden, wurden seine Wangen wieder genau so tödlich fahl wie tags zuvor, da ich in sein Zimmer gekommen war. Ich kann mir, wenn ich die Tatsachen im Zusammenhang gegeneinander halte, keine andre Erklärung denken, als daß Caspar alles das, was sich nun seit vierundzwanzig Stunden abspielte, von innen aus erriet, sozusagen durch ein inneres Gesicht, und daß er der äußeren Bestätigung durch die Ereignisse gar nicht mehr bedurfte, denn es gab sich eine Versunkenheit an ihm kund, die ich nur mit der schrecklichen Ruhe eines Schlafwandlers vergleichen kann. Ich selbst war nachgerade so benommen, daß ich, wie ich fürchte, Herrn Hickel mit einer unfreundlich wirkenden Kälte empfing. Glücklicherweise schien dieser keine Notiz davon zu nehmen, und nachdem er sich gegen meine Damen verbeugt, wandte er sich an Caspar und sagte mit einem Ton der Überraschung, der freilich nicht ganz aufrichtig klang: „Das ist also der Hauser! Ist ja ein ganz ausgewachsener Mensch, mit dem wird sich ja reden lassen!“ Caspar schaute den Mann groß an, und zwar mit einem finster prüfenden Blick, in dem durchaus nichts Wehleidiges oder Jämmerliches war. Es entstand nun ein allseitiges Schweigen; ich überlegte mir, wie ich es anstellen könnte, damit Caspar die Nacht über noch in meinem Hause bleiben könne, denn in seinem Zustand ihn einem Fremden zu überlassen erschien mir unratsam. Ich erklärte mich Herrn Hickel mit offenen Worten, er hörte mich ruhig an, sagte aber dann, er habe gemessenen Auftrag, Caspar gleich mitzunehmen, es sei keine Zeit zu verlieren, die Sachen müßten noch gepackt werden und der Wagen stehe schon bereit. Meine Schwester Anna, unbändig wie sie ist, rief mir zu, ich solle mich darum nicht kümmern, zugleich trat sie, wie um ihn zu schützen, an Caspars Seite. Herr Hickel lächelte und sagte, wenn uns so viel an einem Aufschub gelegen sei und wir noch etwas mit Caspar zu besprechen hätten – sein Ton war dabei so beziehentlich, daß ich stutzig wurde –, wolle er nicht den Spielverderber machen, ich müsse mich aber verpflichten, Caspar punkt neun Uhr zum Tucherschen Haus zu bringen. Jetzt verlor auch ich die Fassung und fragte, ob denn die Sache um Gottes willen so dringend sei, daß er in die Nacht hineinreisen wolle. Herr Hickel zuckte die Achseln, schaute auf die Uhr und antwortete kalt, ich möge mich entschließen. Jetzt begann Caspar zu sprechen, und mit einer Stimme, deren Klarheit und Festigkeit mir bei ihm etwas ganz Neues war, sagte er, er wolle sogleich mitgehen. Wir sahen aber alle, daß er vor Erschöpfung zitterte und daß er sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Meine Mutter und Schwester beschworen ihn zu bleiben, Herr Hickel, der bei Caspars Worten abermals gelächelt hatte – o, ich kenne dieses Lächeln! wie oft hat es mir die Schamröte ins Gesicht getrieben! –, kehrte sich gegen mich und sagte: „Also um neun Uhr, Herr Professor,“ und zu Caspar gewandt, erhob er den Finger und sagte schalkhaft drohend: „Daß Sie mir ja pünktlich sind, Hauser! Auch muß ich wissen, wo Sie sich den Nachmittag über herumgetrieben haben. Lassen Sie sich beileibe nicht einfallen, mich anzulügen, sonst gibt’s was. Da kenn’ ich keinen Scherz.“

Grüßend ging Hickel und ließ uns in einem Zustand von Empörung, Zweifel und Unruhe zurück. Das alles nahm sich ja schlimmer aus, als es die ärgste Befürchtung malen konnte. Besonders die letzten Worte des Leutnants hatten mich wie auch meine Angehörigen mit Schrecken erfüllt. Was sollten wir von der Zukunft Caspars denken, was von seinem Glück erhoffen, wenn Drohungen von so brutaler Art unverhüllt auftreten durften? Das Herz war mir schwer geworden. Doch war zu grübeln nicht die Zeit. Ich beschloß, zum Bürgermeister zu gehen und mich mit ihm zu beraten. Anna hatte schnell auf dem Sofa ein Lager bereitet, sie führte Caspar hin, er sank nieder, und kaum ruhte sein Kopf auf dem Kissen, so schlief er auch schon. Indes ich mich zum Fortgehen anschickte, läutete es, und Herr Binder kam selbst. Ich verständigte ihn in Eile von dem Vorgefallenen, er war höchlichst befremdet von dem Auftreten des Ansbacher Herrn, und da er es für tunlich hielt, mit diesem selbst zu sprechen, forderte er mich auf, ihn zu begleiten. Wir überließen Caspar der Obhut der Frauen und gingen in die Hirschelgasse. Es hatten sich trotz der Abendstunde eine Menge Menschen hauptsächlich aus der niederen Volksklasse vor dem Tucherschen Haus eingefunden, die, ich weiß nicht durch welche Umstände, von der bevorstehenden Abreise Caspars unterrichtet waren und teils laut, teils murrend ihre Mißbilligung ausdrückten.

Als wir die Tür von Caspars Zimmer geöffnet hatten, bot sich uns ein sonderbarer Anblick. Die Kommodeschubladen und Schränke waren vollständig ausgeräumt; Wäsche, Kleider, Bücher, Papier, Spielwaren, alles lag wüst auf dem Boden und auf Stühlen, und Herr Hickel kommandierte den Diener, der damit begonnen hatte, die Sachen ordnungslos in einem Reisekoffer und einer kleinen Kiste unterzubringen. Als er uns gewahrte und den Unwillen aus unsern Blicken las, sagte er lächelnd, als ob es sich um eine Schmeichelei handle, jetzt fange ein neues Regiment für den Findling an, jetzt werde alles an den Tag kommen. Mit finsterem Gesicht entgegnete Herr Binder, was er damit meine, was denn eigentlich an den Tag kommen solle; zugleich gab er sich unter Nennung seines Namens zu erkennen. Herr Hickel geriet in Verlegenheit; mit einigen nichtssagenden Wendungen entschlug er sich der Antwort; er behauptete, Caspar zu lieben; es sei ihm nur darum zu tun, den jungen Menschen vor falschen Illusionen zu bewahren. Da stieg mir das Blut zu Kopfe, und ich antwortete, wer denn anders solche Illusionen erzeugt und genährt hätte als gewisse Herrschaften, die sich nun aus dem Staub zu machen schienen; erst schmücke man den Arglosen mit einem festlichen Kleid, und wenn er dann darin herumzuspazieren wage, sehe man einen gefährlichen Überhebling in ihm. Das begreife wer wolle, ein solches Spiel sei verdammungswürdig. Das war heftig, war unvorsichtig, es sei gestanden, doch muß ich hinzufügen, daß mich die ironische Ruhe des Polizeileutnants aufreizte. Um so verblüffter war ich, als er mir nun in jedem Punkt beipflichtete, sich aber auf keine weitere Erörterung einließ und sich wieder zu dem Diener kehrte, indem er Eile vorschützte, da er nicht in so später Nacht abreisen wolle. Herr Binder bemerkte ihm darauf, daß die Abfahrt sehr gut bis morgen verschoben werden könne, Caspar bedürfe der Ruhe, die Verantwortung sei er bereit auf sich zu nehmen. Herr Hickel versetzte, das sei unmöglich, er habe strikten Befehl und müsse auf seiner Anordnung bestehen. Wir waren ratlos.

Der Polizeileutnant hatte sich auf den Tischrand gesetzt und blickte uns Schweigende spöttisch-erwartungsvoll an. Da vernahmen wir Schritte, und als wir uns umwandten, die Türe stand offen, sahen wir Caspar und hinter ihm meine Schwester. Anna flüsterte mir zu, Caspar sei kurz nach unserm Fortgehen erwacht, er habe erklärt, mit dem fremden Mann gehen zu wollen, und sich durch keinen Einwand zurückhalten lassen; so habe sie ihn denn begleitet.

Caspar schaute sich forschend um, dann sagte er, zu Herrn Hickel gewandt: „Nehmen Sie mich nur mit, Herr Offizier. Ich weiß schon, wohin Sie mich bringen wollen, ich fürcht’ mich nicht.“ Es war in diesen Worten, so wenig Besonderes sie enthielten, ein wunderbarer Antrieb und das, was man Haltung nennt, und ich kann nicht verhehlen, daß ich durch sie aufs tiefste bewegt wurde. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich Caspar jetzt eine Stunde lang für mich allein hätte haben können. Der Herr Polizeileutnant verbarg seine Freude über die unvermutete Wandlung nicht und antwortete lachend: „Na, fürchten, Hauser! Warum nicht gar! Es geht ja nicht nach Sibirien!“ Er näherte sich nun dem Jüngling, legte beide Hände auf dessen Schulter und fragte: „Jetzt seien Sie einmal ganz offen, Hauser, und sagen Sie mir ohne Umschweife, wo Sie den Nachmittag über gesteckt haben?“ Caspar schwieg und besann sich, dann entgegnete er dumpf: „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ – „Ja wie denn, was denn, was soll das heißen, heraus mit der Sprache!“ rief der Leutnant, und Caspar darauf: „Ich hab’ was gesucht.“ – „Ja, was denn gesucht?“ – „Einen Weg.“ – „Zum Donnerwetter,“ begehrte Herr Hickel auf, „spielen Sie mir kein Theater vor und machen Sie keine Flausen, sonst werde ich Ihnen zeigen, was die Glocke geschlagen hat. Wir in Ansbach werden Ihnen nicht auf das aberwitzige Wesen hereinfallen, das lassen Sie sich nur gesagt sein.“

Herr Binder und ich waren durch solche herausfordernde Redeweise wie begreiflich sehr empört. Aber Herr Hickel zeigte keine Lust, sich zu rechtfertigen, er befahl Caspar in knappen Worten, sich fertigzumachen, in einer halben Stunde werde er fahren. Währenddem kamen der Baron Scheuerl, der Assessor Enderlin und andre Bekannte Caspars, die von der Abreise gehört hatten und ihm Lebewohl sagen wollten; ich hatte keine Zeit mehr, nur drei Worte mit ihm zu wechseln, binnen kurzem waren wir alle im Hausflur versammelt. Die Menge auf der Straße hatte sich vermehrt, in der Dunkelheit sah es aus, als ob ganz Nürnberg auf den Beinen sei. Die Zunächststehenden stießen drohende Reden aus, Herr Hickel forderte vom Bürgermeister, daß er die Wache aufziehen lassen solle, doch eine solche Maßregel erklärte dieser für überflüssig, und in der Tat genügte sein bloßes Erscheinen, um die Ruhe wiederherzustellen.

Als Caspar zum Wagenschlag trat, rannte alles zuhauf, jeder wollte ihn noch einmal sehen. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren erleuchtet und Frauen winkten mit Tüchern herab. Die Kisten und Vachen waren aufgebunden, der Kutscher schnalzte, die Pferde zogen an – und fort war er.

Überzeugt, daß Eure Exzellenz zu den wenigen aufrichtigen Gönnern des Jünglings gehören, fühlte ich mich im Innersten gedrängt, Ihnen über diese Vorfälle genauen Bericht zu erstatten. Nur einige Stunden sind seit den erzählten Begebenheiten verflossen, es ist weit über Mitternacht, die Feder will meiner Hand entsinken, aber ich durfte keine Frist verstreichen lassen, um nicht selber zum Fälscher meiner Erinnerung zu werden. Wo die Verleumdung so unermüdlich am Werk ist, soll auch der Gutgesinnte eine Nachtwache nicht scheuen, wenn er zu fürchten hat, daß ihn der bloße Schlaf nur um eine Linie von der Deutlichkeit seines Erlebens betrügen könnte. Vielleicht finden Eure Exzellenz, daß ich die Dinge falsch deute oder in ihrer Wichtigkeit überschätze. Mag sein, ich habe jedoch meine Pflicht erfüllt und bin mir keiner Versäumnis bewußt. Ich trage schwere Sorge um Caspar, ohne daß ich ganz zu sagen vermöchte weshalb, aber ich bin nun einmal als Geister- und Gespensterseher auf die Welt gekommen, und mein Auge sieht den Schatten früher als das Licht.

Nicht vergessen will ich zum Schluß die Erwähnung, daß mir Herr von Tucher bei seinem letzten Besuch die hundert Goldgulden übergab, die Caspar vom Herrn Grafen Stanhope geschenkt erhalten. Ich werde die Summe mit nächster fahrender Post an Eure Exzellenz überschicken.

Frau Behold an Frau Quandt:

Werte Frau, excusez, daß ich mich schriftlich an Sie wende, was Sie extraordinaire finden werden, da ich Ihnen doch im ganzen fremd bin, obwohl Sie in meiner Eltern Hause Ihre Jugend verlebten. Mit großem Etonnement vernehme ich, daß der Caspar Hauser nunmehr in Ihrem Heim weilen wird, und ich fühle mich gedrungen, Ihnen zum Belehr etwelches über den Sonderling zu eröffnen. Sie wissen doch, daß der Hauser das Wunderkind von Nürnberg war. Lob und Verhätschelei hätten bei einem Haar den Knaben zum Narren gemacht, es ist eben ein tolles Volk dahier. In solchem verderbten Zustand haben wir ihn aus reinem christlichem Mitleid und, ich schwöre, ohne jede Nebenabsicht zu uns genommen. Bei aller Tollheit haben die andern doch vor dem vermummten Kerl mit dem Beil Angst gehabt, wir aber fürchteten nichts, und der Hauser wurde bei uns wie ein Kind geliebt und estimieret. Übel ist uns das gelohnt worden; keine Erkenntlichkeit vom Hauser, und noch dazu die böse Nachrede seines Anhangs. Wieviel ärgerliche Stunden, wieviel Verdruß er uns durch seine entsetzliche Lügenhaftigkeit bereitet hat, davon sind alle Mäuler stumm. Nachher freilich hat er alleweil Besserung gelobet und ward mit frischer Liebe an unser Herz geschlossen, aber fruchten tat es nichts, der Lügengeist war nicht zu bannen, immer tiefer versank er in dieses abscheuliche Laster. Ist viel Gerede gewesen von seinem keuschen Sinn und seiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hierüber kann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab’s mit meinen eignen Augen gesehen, wie er sich meiner damals dreizehnjährigen Tochter, heute ist sie in der Schweiz in Pension, unziemlich und unmißverstehlich näherte. Nachher zur Rede gestellt, wollt’ er’s nicht wahr haben, und aus Rache hat er mir die arme Amsel umgebrungen, die ich ihm donationieret. Gebe Gott, daß Sie nicht ähnliche Erfahrungen an ihm machen; er steckt voller Eitelkeit, meine Liebe, voller Eitelkeit, und wenn er den Gutmütigen agieret, ist der Schalk dahinter verborgen, und so man ihm den Willen bricht, ist es mit seiner Katzenfreundlichkeit am Ende. Wieviel wir auch durch sein detestables Betragen zu dulden hatten, Undank und Calomnie, aus unsern Lippen ist keine Klage gefahren, denn warum, man hätt’ ihm auch dann die Wahrheit nicht mehr glauben können, und ein Betrüger ist er nicht, nur ein armer Teufel, ein sehr armer Teufel. Ihnen und dem Herrn Gemahl glaube ich hingegen einen Gefallen zu erweisen, wenn ich die Decke lüpfe, unter der er seinen Unfug treibet; der gegen ihn so gütig gesinnte Graf Stanhope wird gewiß bald zu der schmerzlichen Entdeckung gelangen, daß er eine Schlange an seinem Busen nähret. Wäre der Herr Graf nur zu mir gekommen, dieses aber hat der Pfiffikus Hauser hintertrieben, und aus guten Gründen. Seien Sie nur recht wachsam, gute Frau; er hatte alleweil Heimlichkeiten, bald da, bald dort versteckt er was in einem Winkel, das läßt auf nichts Gutes schließen. Und nun bitte ich Sie oder den Herrn Gemahl, mir in einiger Zeit Nachricht zu geben, wie sich Ihr Zögling produzieret und was Sie von ihm halten, denn ohneracht alles Geschehenen nimmt er doch ein Plätzchen in meinem Herzen ein, und ich wünsche nur, daß er tätig an seiner Selbstbesserung arbeite, ehe er in die große Welt entrieret, wo er viel mehr Kraft und Beständigkeit vonnöten haben wird als in unsrer kleinen.

Von mir selbst ist nicht viel Gutes zu sagen, ich bin krank; der eine Doktor meint, es ist ein Geschwür auf der Milz, der andre nennt’s eine Maladie du cœur. Die große Teuerung der Lebensmittel ist auch nicht angetan, einem die Laune zu verbessern, Gott sei Lob gehen die Mannsgeschäfte im allgemeinen gut.

Bericht Hickels über den vollführten Auftrag der Übersiedlung Caspar Hausers:

Ich traf am 7. ds. vorschriftsgemäß in Nürnberg ein, verfügte mich sogleich in die Wohnung des Freiherrn von Tucher, fand aber den Kuranden nicht zu Hause und erfuhr zu meiner Verwunderung, daß er sich den ganzen Nachmittag über aufsichtslos und unbekannt wo herumgetrieben habe, was doch gegen die Vorschrift ist, und daß er sich zurzeit beim Professor Daumer aufhalte, wahrscheinlich in der Absicht, die Reise zu verzögern und dabei die Unterstützung seiner Freunde zu finden. Denn als ich bei Herrn Daumer vorsprach, wurden zu besagtem Zweck alle möglichen Ausreden versucht, auch gefiel sich der Hauser selbst in einigen leicht durchschaubaren Schnurrpfeifereien, was mich aber nicht hinderte, auf der mir erteilten Weisung zu beharren. Eine strenge Inquisition nach seinem Verbleib während des Nachmittags blieb fruchtlos, der Bursche gab die albernsten Antworten von der Welt. Mein entschiedenes Auftreten hatte die Wirkung, daß von einer Verzögerung nicht weiter gesprochen wurde, um neun Uhr war der Wagen zur Stelle, es war großer Zulauf in den Gassen, die Leute, vermutlich insgeheim aufgehetzt, gebärdeten sich einigermaßen revoltant, wurden aber durch meine Drohung, daß ich die Wache aufziehen lassen würde, schnell eingeschüchtert. Dem Kutscher gebot ich Eile, und nach einer Viertelstunde hatten wir das Weichbild der Stadt verlassen. Während der ganzen drei Stunden bis zum Dorfe Großhaslach ließ mein Kurand nicht eine Silbe verlauten, sondern starrte ununterbrochen in die Dunkelheit hinaus; gewiß mag es ihm gar trübselig zumute gewesen sein, da er nun doch erkennen mußte, daß es mit seinen großen Hirngespinsten Matthäi am letzten war. Ich hatte den Sergeanten nach Großhaslach bestellt, und derweil die Pferde gefüttert und getränkt wurden, verfügten wir uns in die Poststube. Hauser legte sich daselbst alsogleich auf die Ofenbank und entschlief. Ich konnte aber des Verdachts nicht ledig werden, daß er sich nur schlafend stellte, um mich und den Sergeanten sicher zu machen und unser Gespräch zu belauschen. In diesem Argwohn bekräftigte mich auch das jedesmalige Blinzeln seiner Lider, wenn ich in nicht gerade schmeichelhaften Ausdrücken seiner Person erwähnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen und zugleich herauszubringen, was es mit dem allerwärts verbreiteten Märchen von seinem steinernen Schlummer für eine Bewandtnis habe, nahm ich meine Zuflucht zu einer kleinen List. Nach einer Weile gab ich nämlich dem Sergeanten einen Wink, und wir erhoben uns leise, als ob wir gehen wollten, und siehe da, kaum hatte ich die Türklinke gefaßt, so schnellte mein Hauser wie von der Tarantel gestochen empor, tat ein wenig wirr und verstört und folgte uns, die wir uns kaum das Lachen verbeißen konnten. Im Wagen fragte mich Hauser plötzlich, ob der Herr Graf noch in Ansbach weile; ich bejahte, fügte aber hinzu, daß Seine Lordschaft dieser Tage gen Frankreich fahren werde, worauf Hauser einen tiefen Seufzer ausstieß; er lehnte sich in die Ecke zurück, schloß die Augen und schlief nun wirklich ein, wie ich aus seinen tiefen Atemzügen entnehmen konnte. Die Weiterfahrt verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle, es war ein Viertel nach drei, als wir bei Schneetreiben vor dem Sterngasthof anlangten; ich hatte diesmal harte Mühe, den Hauser aus dem Schlaf zu bringen, und erst als ich ihn energisch anschrie, entschloß er sich, aus der Kutsche zu steigen. Da nur der Torwart zugegen war und ich den Herrn Grafen nicht wecken lassen wollte, brachten wir den jungen Menschen in eine Kammer unterm Dach; ich befahl ihm, sich zu Bette zu begeben, sperrte der größeren Sicherheit halber die Tür von außen zu und hieß meinen Sergeanten, bis zum Anbruch des Tages auf Wache zu bleiben. Soll ich nun zum Schlusse über die Person und das Betragen des Kuranden ein Urteil abgeben, so muß ich bekennen, daß mir der junge Mann wenig Sympathie oder Mitgefühl abnötigte. Sein verschlossenes, trotziges und hinterhältiges Wesen läßt auf einen, wenn auch nicht verdorbenen, so doch angefaulten und widrigen Charakter schließen. Von wunderbaren Eigenschaften hab’ ich an ihm nichts beobachtet, als eine in der Tat wunderbare Begabung zur Schauspielerei, was noch milde ausgedrückt ist. Ich fürchte, man wird hiesigenorts manche Enttäuschung an ihm erleben.

Binder an Feuerbach:

Um des ferneren allem überflüssigen Gerede und Vermuten vorzubeugen, das in derselben Sache schon an Eure Exzellenz gelangt sein mag, diene die Nachricht, daß ich bereits genügenden Aufschluß habe über den rätselhaften, vier bis fünf Stunden andauernden Verbleib Caspar Hausers am letzten Nachmittag seines Aufenthalts in hiesiger Stadt. Freilich, dieser Aufschluß ist im Grunde keiner, denn so wenig der Jüngling sich selbst hatte erklären wollen, so wenig erklären die mir bekannt gewordenen Einzelheiten seine ganze Handlungsweise.

Ich will mich kurz fassen. Am Morgen nach Caspars Abreise kam der Gefängniswärter Hill zu mir und berichtete, der Hauser sei gestern mittag nach eins bei ihm auf dem Turm erschienen und habe gebeten, ihm die Kammer zu zeigen, worin er einst gefangen gewesen. Zufällig war an jenem Tag kein Häftling auf dem Luginsland, und er, Hill, habe nach einigem verwunderten Fragen und Forschen Caspar eintreten lassen. Nachdem er eine Weile grübelnd dagestanden, begab er sich in dieselbe Ecke, wo ehedem sein Strohlager gewesen, hockte auf den Boden und brütete stumm vor sich hin. Dem Hill war das befremdlich, und da alle Versuche, den Jüngling seiner Lethargie zu entreißen, nichts fruchteten, kehrte er in seine Wohnung zurück und machte seiner Ehefrau von dem Vorfall Mitteilung. Sie überlegten gerade, was zu tun sei, da kam Caspar von selbst die Stufen herunter und trat in das Zimmerchen, das ihm ebenfalls von früher wohlbekannt war, das er jedoch mit bohrend nachdenklichen Blicken durchmusterte, genau wie er oben in der Zelle getan. Hill und sein Weib dachten nicht anders als der arme Mensch habe den Verstand eingebüßt. Die Frau näherte sich ihm, stellte einige Fragen, erhielt aber keine Antwort. Da fiel sein schweifendes Auge auf die beiden Kinder des Wärters, die auf einem Tritt beim Fenster mitsammen spielten, und plötzlich lächelte er gar wunderlich, schlich sich heran und setzte sich am Rand des über den Boden erhöhten Tritts nieder.

Hill tat das Vernünftigste, was er tun konnte, er ließ ihn gewähren und wartete ab, was daraus werden würde. Nachdem sich Caspar also niedergelassen, begann er die zwei Kinder auf eine Weise anzustarren, als ob er nie im Leben Kinder gesehen hätte; er beugte sich vorwärts, er studierte förmlich ihre Finger, ihre Lippen, seine heißhungrigen Blicke verschlangen gleichsam jede ihrer Gebärden; der Frau wurde dabei angst und bang, mit Mühe hielt Hill sie ab, dazwischenzufahren, denn er fürchtete nichts. „Kenn’ ich doch Hausers sanfte Seele,“ so drückte er sich mir gegenüber aus. Auf einmal sprang Caspar auf, streckte die Arme in die Luft, stöhnte, starrte vor sich hin, als sehe er einen Geist, dann kehrte er sich um und rannte mit erstaunlicher Geschwindigkeit zur Tür und die Treppe hinunter auf den Platz. Hill folgte ihm unverzüglich, denn er schloß mit Recht, daß Caspar in einer bedenklichen Verfassung sei und daß man ihn so nicht sich selber überlassen dürfe. Als er den Burgberg herunter gegen die Füll lief, gewahrte er ihn noch rechtzeitig und konnte ihn im Auge behalten.

Caspar eilte nun durch mehrere Gassen, und zwar ganz unsinnig die kreuz und quer, danach über die Glacis und nach St. Johannis hinüber. Hill folgte in einer Entfernung von fünfzig oder sechzig Ellen und hatte auf jede Bewegung Caspars genau acht. Trotzdem es den Anschein ziellosen Gehens hatte, war doch der Schritt des Jünglings so beschleunigt, ja ungeduldig, als wolle er ein vor ihm fliehendes Etwas erhaschen. Es ging nun durch die Mühlgasse, am Ende dieser Gasse breitet sich das flache Feld aus und die Straße verwandelt sich in einen Wiesenweg, der längs der Mauer des Johanniskirchhofs zur Pegnitz und zum Wald hinunterführt. An der Kirchhofsmauer, die so niedrig ist, daß auch ein mittelgroßer Mensch leicht über sie hinwegblicken kann, blieb Caspar jählings stehen, riß den Hut vom Kopf und preßte die Hand gegen die Stirn. Es wird Eurer Exzellenz bekannt sein, eine wie ungeheure Wirkung schon früher einmal bei der Annäherung an den Gräberort an ihm wahrgenommen worden ist. Er schien zu zittern, er atmete mit offenem Mund, seine Züge drückten Grauen aus, die Hautfarbe wurde bleifahl, er sah aus, als könne er sich nicht losreißen, plötzlich aber stürzte er so schnell weiter, daß sein Beobachter Mühe hatte, ihm nah zu bleiben, auch dachte Hill, Caspar müsse ins Wasser stürzen, da er am Flußufer in ein wildes Torkeln geriet. Glücklicherweise wandte er sich gegen den nahen Forst und verschwand alsbald zwischen den Stämmen. Hill hatte Angst, daß er ihm entkommen könnte; er bemerkte einige Arbeiter, die an einer Erdgrube Sand schaufelten, und forderte sie auf, ihm zu helfen; drei oder vier gesellten sich zu ihm, und sie drangen verteilt ins Gehölz; doch Hill selbst war es, der Caspar nach langem Suchen und als er schon höchlichst besorgt wurde, zuerst wieder erblickte. Er sah ihn kniend am Fuß einer mächtigen Tanne, er sah, wie er die Hände aufhob, und hörte ihn mit einer leidenschaftlich flehenden Stimme rufen: „O Baum! O du Baum!“ Nichts weiter als diese Worte, und mit solchem Gefühl, wie man ein Gebet spricht, wenn der Geist in höchster Bedrängnis ist. Hill sagte aus, er habe es nicht über sich gebracht, ihn anzurufen, überhaupt hat der einfache Mann bei all diesen Vorgängen ein Zartgefühl und eine Menschlichkeit bewiesen, um deretwillen ich ihm meine Anerkennung nicht versagen kann. Die Arbeiter, die er mitgenommen, riefen ihm, er gab ein Zeichen, sie kamen herbei; Caspar hatte sich indes erschrocken aufgerichtet, blickte die Leute der Reihe nach an, und es schien, als erkenne er Hill nicht. Dieser dankte den Männern und bedeutete ihnen, daß er sie nicht mehr brauche. Von ihm untergefaßt, ließ sich Caspar ohne Widerstand aus dem Forst herausführen; im Gegensatz zu seinem bisherigen Wesen zeigte er nun eine vollkommene Gelassenheit. Hill fragte ihn, wohin er denn gehen wolle, und nach einigem Zögern antwortete Caspar, er müsse zum Mittagessen zu Herrn Daumer. Da lachte Hill und erinnerte ihn, daß Mittag längst vorbei sei; als sie vor der Stadtmauer ankamen, begann es schon zu dämmern. Caspar ging jetzt außerordentlich langsam, und trotzdem Hill um vier Uhr auf der Polizeiwache hätte sein sollen, begleitete er ihn noch zu Professor Daumers Haus und wich erst von der Stelle, als sich das Tor hinter seinem Schützling geschlossen hatte.

Dies, Exzellenz, die getreue Wiedergabe dessen, was der Mann berichtet hat. Ich habe seine Erzählung, deren Glaubwürdigkeit zu bezweifeln kein Anlaß vorliegt, protokollieren lassen. Aus den Begebnissen selbst weiß ich, wie gesagt, nichts zu machen, auch ist es nicht an mir, den Schlüssen Eurer Exzellenz vorzugreifen. Gestern habe ich mich von Hill zu der Stelle führen lassen, wo Caspar kniend gefunden wurde, denn ich dachte mir, daß da vielleicht etwas Besonderes sei. Es ist, ungewöhnlich bei solcher Stadtnähe, ein friedensvoller Ort; der Wald ist dicht bestanden, lautlose Einsamkeit fordert zu beschaulicher Stimmung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicherheit wieder und zeigte zum Beweis auf Fußabdrücke und zerwühltes Moos. Sonst habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen.

Der Polizeisoldat, der durch seine Nachlässigkeit in Caspars Bewachung all dieses verschuldet hat, wurde der verdienten Strafe zugeführt.

Lord Stanhope an den Grauen:

Ich weile noch immer in dem weltentlegenen Nest, obwohl ich zu Weihnachten in Paris sein wollte. Ich sehne mich nach freier Konversation, nach Maskenbällen, nach der italienischen Oper, nach einem Spaziergang auf den Boulevards. Hier sind aller Augen auf mich gerichtet, jeder will teilhaben an mir; von einer gewissen Hofratsfamilie, die nicht in den besten Verhältnissen lebt, wird erzählt, sie habe eine goldene Stehuhr, ein vortreffliches Erbstück, versetzt, um eine Soiree zu Ehren des Lords geben zu können. Man verdächtigt eine Dame, Frau von Imhoff – uralter Patrizieradel! –, der näheren Beziehung zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Arme in einer unglücklichen Ehe lebt, an der sich der Klatsch seit Jahren mästet. Scherzhafter Unsinn. Die Dame ist, leider, ein makelloser Mensch. Das übrige Volk ist kaum der Rede wert. Die guten Deutschen sind servil bis zum Erbrechen. Der behäbige Kanzleidirektor, der mit einer sklavisch tiefen Reverenz den Hut vor mir zieht, würde mir mit Vergnügen die Stiefel putzen, wenn ich’s ihm befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art Caligula zu spielen.

Zur Sache. Ein äußerer Grund meines Verweilens hier ist nicht mehr vorhanden. Der bislang vorgeschriebene Teil meiner Aufgabe ist erfüllt. Was verlangt man noch von mir? Wessen hält man mich noch weiterhin für fähig? Hat Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch intime Wünsche, so wäre es geraten, sie in Bälde vernehmen zu lassen, denn der ergebenst Unterzeichnete ist satt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum Hals, er muß jetzt ans Verdauen denken. Ich gehe mit der Absicht um, in Rom Prälat zu werden oder mich hinter Klostermauern einzusperren, vorher muß ich noch das nötige Schwergeld für den Ablaß beisammen haben; wenn der Papst kein Einsehen hat, kehr’ ich in den Schoß der puritanischen Kirche zurück, so bin ich wenigstens der Sorge und des Ekels enthoben, mir den Bart wachsen lassen zu müssen. Auch in meinem Land gibt es Masken und jedenfalls ein würdigeres Kostüm. Ist der Minister H. in S., der Pensionist, von allen Vorgängen verständigt und hat man ihn gegen Überfälle gesichert? An welcher Bankstelle kann ich meinen nächsten Zinsgroschen beheben? Dreißig Silberlinge; mit welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren? Denn auf Multiplikation ist nun einmal mein Leben gestellt. Herr von F. ist vor einigen Tagen nach München abgereist; dies zur Notiz. Das bewußte Dokument ist, wie ein ranziges Stück Fleisch, von einem gewissenhaften Raben in Aussicht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich. Wie hoch normiert man den Preis und, sollten im Kriegsfalle kühnere Maßregeln geboten sein, was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um einen neuen Untertanen reicher machen will? Ich muß dies wissen, gegenwärtig stellen auch die geringsten Diener des Satans ihre Ansprüche. Wenn Herr von F. so weit kommt, mit der Königin zu verhandeln, wie er beabsichtigt, muß ein geeigneter Repräsentant gefunden werden, um das angefachte Feuer zu löschen; freilich wird dann das ranzige Stück Fleisch anfangen zu stinken. Dabei fällt mir ein penetranter Passus in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren ein; wie lautet er doch gleich: „Sie beginnen, mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Verruchte und Verfluchte zu legen, sobald es nur einen Anschein von Zweckmäßigkeit und Behendigkeit hat.“ Ich nehme diesen Worten die Schminke und lese: es ist unglaublich, was Sie für ein Spitzbube sind. Kennen Sie die hübsche Replik des alten Fürsten M., als ihn der amerikanische Gesandte ins Gesicht hinein einen Betrüger nannte? „Mein Lieber, Teurer,“ erwiderte der Fürst mit seinem sanftesten Lächeln, „daß Sie doch in Ihren Ausdrücken niemals maßhalten können!“ Ja, halten wir Maß, wenn auch nicht im Tun, so doch im Reden. Wozu Sottisen? Ein Schurke wird geboren so gut wie ein Edelmann. Wer sich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schicksals zu pfuschen, ist ein Philister oder ein Dummkopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer will mich richten oder formen? Verrät mich nicht jeder Atemzug? Verwandte Sterne haben über Ihrer und meiner Wiege geleuchtet. Sie sind ein getreuer Diener. Das ist eine wunderschöne Ausrede. Werfen Sie ab, was Sie bindet, fliehen Sie in eine Einöde, auf das Meer, in die Wüste, zum Pol, auf einen andern Planeten, zu sich selbst und erproben Sie, ob Sie sich noch am Glanz des Himmels und am Schein der Sonne zu freuen vermögen, und wenn das der Fall ist, wollen wir über das Thema weiter verhandeln. Schlagen wir uns in die Nacht wie Wölfe und sammeln wir Mut, denn das Opfer könnte wehrhaft werden.

Unser Schutzbefohlener bereitet mir neuestens mancherlei Sorge, und ich muß gestehen, daß er es ist, der mich in dieser gottverlassenen Gegend noch immer festhält. Allerdings ohne daß er davon weiß, aber er ist mir in jeder Hinsicht verdächtig geworden, und ich komme mir bisweilen wie ein tauber Musikant vor, der auf einer verstopften Flöte spielen muß. Aber nicht nur dies hält mich, sondern auch noch ein andres, womit ich jedoch Ihr allen Empfindsamkeiten abholdes Ohr nicht belästigen will. Auf jeden Fall, und dies nun im Ernst, entlassen Sie mich aus der Arena. Ich bin betäubt, ich bin müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ich werde alt, ich fange an, den Geschmack an Treibjagden zu verlieren; es erregt meinen Widerwillen, wenn der geängstigte Hase dem bissigsten der Hunde von selbst in die Zähne rennt, ich bin zu sehr Schöngeist, um dies noch ergötzlich zu finden, und ich könnte kaum dafür einstehen, daß ich nicht im letzten Moment eine Bresche in die Treiberkette schlage, die der verfolgten Kreatur zur Flucht verhilft. Dann aber könnte sich eine merkwürdige Metamorphose begeben, der Hase könnte zum Löwen werden und zurückkehren und die blutgierige Meute müßte zitternd in ihre Hinterhalte schleichen. Doch fürchten Sie nichts: dies sind Zuckungen und Phantasien eines senilen Gewissens. Auch ich bin ein treuer Diener – meiner selbst. Das Werk befiehlt. Unsre Lüste sind die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der keine Philosophie im Leibe hat, verdient gehängt zu werden. In meiner Jugend hatte ich Tränen übrig, wenn ich mir den gitarrespielenden Knaben auf Carpaccios Bild in Venedig betrachtete, jetzt bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von der Mutterbrust risse und seinen Schädel am Rinnstein zerschmetterte. Das macht die Philosophie. Wenn sie sich besser bezahlte, wäre ich vielleicht fröhlicher. Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen einen amüsanten Traum erzählen, den ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum. Wir beide, ich und Sie, feilschten um eine gewisse Ware; plötzlich unterbrachen Sie mich mit den Worten: „Nehmen Sie, was ich Ihnen biete, denn wenn Sie jetzt erwachen, bekommen Sie gar nichts.“ Ich fand dies Argument göttlich und so wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat, mit Angstschweiß bedeckt, erwachte.

Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt Ihnen diesen Brief, der durch seinen Mangel an Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das beiliegende Akzept, um dessen Signierung ich bitte, dürfte Sie noch weniger versöhnen. Dem Lehrer habe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er ist ein brauchbarer Mann, unbestechlich wie Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd. Wie alle Deutschen hat er Prinzipien, die sein Selbstvertrauen hervorbringen. Gott befohlen, die Nacht will ihren Schlaf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.