Kapitel 14 - Nacht wird sein.

Stanhope hatte dem Kutscher befohlen, vorauszufahren, und ging zu Fuß durch die menschenleeren Gassen, in denen sein Schritt wie in einer Kirche widerhallte. Er war verstört, zerschlagen und außerstande, eine vernünftige Überlegung anzustellen. Im Gasthof angelangt, schloß er sich ein und machte eine halbe Stunde lang Fechtübungen mit dem Florett.

Er unterbrach sich erst, als er von draußen eine Stimme vernahm, die mit dem Kammerdiener unterhandelte, der Auftrag hatte, niemand vorzulassen. Stanhope lauschte; er erkannte die Stimme, nickte gleichgültig, und mit dem Degen noch in der Hand öffnete er. Es war Hickel, der auch sofort eintrat und den ihn schweigend betrachtenden Grafen etwas verlegen begrüßte.


Nach seinem Begehr gefragt, räusperte er sich und stotterte ein paar unzusammenhängende Floskeln, aus denen hervorging, daß er um den Besuch Stanhopes bei Feuerbach wußte. Sein Benehmen verriet trotz einer unangenehm wirkenden Kriecherei eine nicht zu fassende freche Vertraulichkeit.

Stanhope verwandte keinen Blick von dem aufgeregten Mann in der kleidsamen Uniform. „Was hatte es eigentlich zu bedeuten, daß Sie mir zu einer Zusammenkunft mit dem Herrn Präsidenten Ihre Hilfe anboten?“ fragte er frostig.

„Der Herr Graf haben sich aber meine Hilfe doch gefallen lassen,“ erwiderte Hickel. „Wer weiß, ob der Staatsrat ohne mich zu haben gewesen wäre, er versteht es, sich zu verschanzen. Der Herr Graf geruhen das nicht anzuerkennen. Je nun,“ fügte er achselzuckend hinzu, „große Herren haben ihre Launen.“

„Wie kommen Sie denn überhaupt dazu, sich zum Zwischenträger anzubieten?“

„Zwischenträger? Der Herr Graf legen meiner unschuldigen Zuvorkommenheit ein zu großes Gewicht bei.“

“Das Gewicht gaben Sie selbst. Sie beliebten dunkel zu sein. Sie gefielen sich in einigen Wendungen, um deren Aufklärung ich höflichst gebeten haben möchte.“ Stanhope verbarg nach wie vor unter steifer Würde die Unsicherheit, die er diesem Menschen gegenüber empfand.

„Ich stehe dem Herrn Grafen ganz zu Diensten,“ versetzte Hickel. „Darf ich meinerseits fragen, inwieweit sich der Herr Graf zu eröffnen gedenken werden?“

„Zu eröffnen? Wem zu eröffnen? Ihnen? Ich habe nichts zu eröffnen.“

„Der Herr Graf haben in mir einen Mann von unbedingter Verschwiegenheit vor sich.“

„Was soll das heißen?“ fuhr Stanhope auf. „Wollen Sie mir Scharaden zu lösen geben?“

„Man hat sich vor der Ankunft Eurer Lordschaft nach einer vertrauenswürdigen Persönlichkeit umgesehen,“ sagte Hickel plötzlich mit eisiger Ruhe. „Meine langjährigen Beziehungen zu Exzellenz Feuerbach empfahlen mich mehr als einige bescheidene Fähigkeiten.“

Stanhope entfärbte sich und sah zu Boden. „Sie haben also direkte Aufträge?“ murmelte er.

Der Polizeileutnant verbeugte sich. „Aufträge? Nein,“ entgegnete er zögernd. „Man versicherte sich meines guten Willens und ich wurde angewiesen, mich Eurer Lordschaft zur Verfügung zu stellen.“

Es war Stanhope zumute, als ob er an diesem Tag schon einmal gestorben wäre, und zwar einen bußfertigen Tod, und als ob er nun wieder zum Leben aufgestanden und ein für allemal seiner Bestimmung übergeben sei.

Er wollte um fünf Uhr bei Frau von Imhoff zum Tee erscheinen und fragte den Polizeileutnant, ob er ein Stück Wegs mitfahre. Obwohl aus der Frage der Wunsch einer Ablehnung klang, nahm Hickel, dem es darum zu tun war, mit dem Lord öffentlich gesehen zu werden, das Anerbieten dankbar an.

Die Straßen waren jetzt etwas belebter als am Mittag; die alten Beamten und Pensionisten machten um diese Stunde ihren täglichen Spaziergang über die Promenade. Viele blieben stehen und grüßten gegen das Innere der hocherlauchten Kutsche.

Nun passierte es, daß an einer Straßenecke der Mann auf dem Bock wieder einmal sein welsches Geschrei ertönen ließ; es stand nämlich mitten auf dem Fahrdamm ein träumerisch wolkenwärts guckender Herr, der von dem Herannahen der gräflichen Karosse keine Notiz zu nehmen schien. Höchst erschrocken sprang er beiseite, als der Elsässer zu fluchen begann, doch nicht schnell genug, daß nicht seine Kleider durch den Kot beschmutzt wurden, der von den Hufen der Pferde und den Rädern aufspritzte.

Hickel bog den Kopf zum Fenster hinaus und griente, denn der Besudelte stand mit einem verdutzten und unglücklichen Gesicht, hielt die Arme vom Leib und sah sich die Bescherung an.

„Wer ist der ungeschickte Mann?“ erkundigte sich Stanhope, den die Schadenfreude des Polizeileutnants verdroß.

„Das? Das ist der Lehrer Quandt, Mylord.“

Eigner Zufall; eine halbe Stunde später wurde bei Frau von Imhoff derselbe Name genannt. Der Präsident und seine Freundin waren nach langen Beratungen übereingekommen, Caspar in die Obhut des Lehrers Quandt zu geben.

„Er ist ein aufgeklärter und gebildeter Kopf und genießt als Bürger wie als Mensch allgemeine Achtung,“ sagte Frau von Imhoff.

„Und ist er denn geneigt, eine so verantwortungsreiche Aufgabe zu übernehmen?“ fragte der Lord zerstreut. Doch darüber konnte Frau von Imhoff keine Auskunft geben.

Als Stanhope sich am andern Morgen beim Präsidenten melden ließ, traf er Herrn Quandt dortselbst. Beide waren offenbar schon einig, denn Feuerbach zeigte sich sehr aufgeräumt, und als sich der Lord wegen des gestrigen Zwischenfalls mit dem Wagen bei Quandt entschuldigte, hatte der Präsident seinen Spaß an der Verlegenheit des Lehrers, die er durch harmlose Witzchen über zerstreute Denker und dergleichen noch steigerte. Sein Gelächter trieb einen wahren Angstschweiß auf Quandts Stirn, er verneigte sich vor Stanhope wie ein Muselmann vor dem Kalifen, und es hatte den Anschein, als müsse er sich geschmeichelt fühlen, daß der Kot der gräflichen Karosse seine geringe Person der Beachtung wert gefunden.

„Na, Quandt, machen Sie sich nicht so mausig,“ mahnte der Präsident belustigt, „ich wette, Ihre Ehefrau hat Ihnen tüchtig den Marsch geblasen und sich gemüht, das Röcklein wieder sauber zu kriegen.“

„Es war ja nur der Mantel, Euer Exzellenz,“ erwiderte Quandt lächelnd und von so viel Leutseligkeit beglückt.

Stanhope blieb gemessen. Sie befanden sich diesmal im Staatszimmer des Präsidenten, und drei hohe Fenster gewährten Aussicht gegen den Garten. Der Raum war wohnlich geschmückt, auch hier alles von der größten Nettigkeit. In einer Art von vertiefter Nische hing ein gutes Ölbild Napoleon Bonapartes im Krönungsornat; Stanhope betrachtete es mit vorgeblichem Interesse; in Wirklichkeit prüfte er aufmerksam das Wesen und Gehaben des Lehrers.

Quandt war mittelgroß und hager; über der hohen Stirn waren tabaksgelbe Haare mit Hilfe von Pomade ganz lächerlich glatt zurückgekämmt. Die Augen blickten schüchtern, fast betrübt, und blinzelten bisweilen, die Hakennase stach ein wenig prahlerisch in die Luft, der Mund, versteckt unter demütigen und zerbissenen Schnurrbartstoppeln, hatte einen säuerlichen Zug, der die Berufsgewohnheit vielen Nörgelns verriet.

Der Lord war nicht unzufrieden mit dem Ergebnis seiner Beobachtung; er fragte den Präsidenten, ob die Verhandlungen zum gewünschten Ziel geführt hätten, und als dieser bejahte, wandte er sich an Quandt, reichte ihm stumm dankend die Rechte und sagte, er werde ihm am Nachmittag seinen Besuch abstatten. Sehr benommen von solcher Huld, verbeugte sich der Lehrer abermals tief, machte sein Kompliment gegen den Präsidenten und ging.

Auch Stanhope entfernte sich bald, da Feuerbach zu einer Gerichtssitzung mußte. Im Hotel angekommen, verbrachte er zwei Stunden mit dem Schreiben eines Briefes, und als er fertig war, schickte er den Jäger damit ab. Um halb zwei stellte sich, wie verabredet, der Polizeileutnant ein; sie aßen zusammen und gingen hernach zu Quandt.

Das Häuschen des Lehrers, das am Kronacher Buck beim oberen Tor lag, war auf den Glanz hergerichtet; Frau Quandt, eine frische, gefällige junge Frau, mit dem rostfarbigen Seidenkleid wie zu einer Hochzeit angetan, stand knicksend am Eingang, in der guten Stube war der Tisch mit Konditorkuchen beladen, und das feine Porzellanservice blinkte einladend auf dem schneeweißen Tuch.

Der Lord war gegen die Lehrerin von väterlicher Freundlichkeit; da sie guter Hoffnung war, wünschte er Glück, ein Händedruck bekräftigte seine zarte Teilnahme; er fragte, ob es das erstemal sei; das junge Weib wurde purpurrot, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe schon einen dreijährigen Knaben. Als der Kaffee aufgetragen war, gab ihr Quandt einen Wink, sie ging still hinaus und die drei Männer blieben allein.

Stanhope sagte, noch könne er sich nicht in den Gedanken einer Trennung von Caspar finden, aber er sei enchantiert von dieser friedlichen und geordneten Häuslichkeit und es beruhige ihn ungemein, seinen Liebling hier untergebracht zu wissen. So dürfe man denn endlich hoffen, daß der Unglückliche, an dem schon so viele Pfuscherhände herumprobiert und der dabei an Leib und Seele Schaden erlitten, einen rettenden Port erreicht habe.

Quandt legte beteuernd die Hand auf die Brust.

„Ja,“ mischte sich Hickel ein, indem er den letzten Bissen Kuchen hinunterschluckte und Schnurrbart und Lippen mit dem Handrücken abwischte, „das wohl; und es muß nun einmal Licht werden um dieses Kind der Dunkelheit.“

Der Lord runzelte die Brauen, ein Zeichen des Unwillens, das Hickel nicht entging; er lächelte leer vor sich hin, nahm aber eine drohende Miene an.

„Leider ist ja Anlaß zum Argwohn vorhanden,“ fuhr Stanhope fort, und seine Stimme war tonlos und kalt; „wohin man sich auch wendet und wie man es auch betrachtet, überall Argwohn und Zweifel. Da ist es kein Wunder, wenn die ursprüngliche Neigung von Bitterkeit durchtränkt ist. Will ich mich gleich dem liebenden Gefühl hingeben, so melden sich doch immer wieder Stimmen, deren Urteil oder Gewicht zu verdächtigen sinnlos wäre, und der schlummernde Funke des Mißtrauens löscht nicht aus.“

„Nun also,“ ließ sich Hickel wieder vernehmen, „so hab’ ich doch recht! Man muß reinen Tisch machen. Man muß den hinterlistigen Burschen endlich Mores lehren. Man muß ihm die Mucken aus dem Kopf jagen.“

Stanhope erblaßte; über Hickel hinwegblickend, sagte er schneidend: „Herr Polizeileutnant, ich muß mich gegen einen solchen Ton verwahren. Was immer auch gegen den Jüngling zeugen mag, so ist er doch nur als die mißleitete Kreatur eines unbekannten Frevlers zu betrachten.“

Hickel senkte den Kopf, und von neuem irrte das leere Lächeln über sein Gesicht. „Verzeihen Eure Lordschaft,“ entgegnete er hastig und ziemlich erschrocken, „aber das ist die Meinung der ganzen Welt, zumindest des aufgeklärten und vernünftigen Publikums. Erst gestern war ich Zeuge, wie der Ritter von Lang und der Pfarrer Fuhrmann sich über den Findling und die Dummheit der Nürnberger geäußert haben. Das hätten der Herr Graf nur hören sollen. Wir wissen ja dahier auch, es ist von Gerichts wegen bekannt geworden, was der Herr von Tucher über den Undank und die moralische Verderbtheit des Findlings an Eure Lordschaft geschrieben hat. Zeigen Sie doch Herrn Quandt den Brief des Barons und er wird sich überzeugen, daß ich nur gesagt habe, was jeder anständige und vorurteilslose Mann darüber denkt.“ Und Hickel heftete auf den Grafen einen befremdet-forschenden Blick.

„Dem ist nicht ganz so,“ versetzte Stanhope abweisend und nippte mechanisch von der Kaffeetasse. „Herr von Tucher spricht in seinem Brief nur von einigen übeln Gewohnheiten Caspars. Auch ich habe Augen; ein liebendes Herz ist niemals blind; versteht es nicht abzuwägen, so ist ihm doch die Gabe der Ahnung eigen. Im übrigen wollen wir unserm würdigen Gastgeber nicht vorgreifen. An ihm wird es sein, zu richten. Was krumm gewachsen ist, kann er grade biegen, und wenn er mir die häßlichen Flecken von meinem Kleinod nimmt, will ich’s ihm fürstlich danken.“

Hickel verzog das Gesicht und schwieg. Quandt hatte mit gespannter Aufmerksamkeit das Gespräch verfolgt. Wozu der Wortstreit? dachte er; als ob es nicht die leichteste Sache von der Welt wäre, zu erkennen, ob einer ein Spitzbube ist. Man muß die Augen offen halten, das ist alles; der Gute ist gut, der Böse ist bös, wo liegt da die Schwierigkeit? Ein Übel auszurotten, wenn es sich nicht zu tief eingefressen hat, ist nur eine Frage der Tatkraft und Umsicht. Aber mir scheint, mir scheint, meditierte der Lehrer in seinem stillen Sinne weiter, da sind noch ganz andre Dinge verborgen, die Herren reden nicht von der Leber weg.

Und damit traf er wohl das Richtige, wie sich bald erweisen sollte. Er entwickelte dem höflich zuhörenden Lord seine Anschauungen über Moral, über den Verkehr mit Menschen, den Umgang mit Schülern, die Notwendigkeit der Aufmunterung, den Wert der Zensur; alles ein wenig umständlich und verklausuliert, aber einfach, staunenswert einfach; nur die sorgenvolle Miene gab einen Anschein von Schwierigkeit und Philosophie. Der Lord nickte ein paarmal mit dem Kopf, während Hickel entschiedene Zeichen von Ungeduld von sich gab. Dann beim Fortgehen, während Stanhope sich von der Frau verabschiedete, zog Hickel den Lehrer beiseite und flüsterte ihm zu: „Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen durch die Reden des Grafen, lieber Quandt. Der gute Graf betrügt sich selber und möchte das Sonnenklare nicht wahr haben. Die Teufelsgeschichte nimmt ihn absonderlich her. Sie leisten ihm einen gewaltigen Dienst, wenn Sie den Schwindler entlarven.“

Das war das Merkwort und der Anschlag. Es barg den Kern des Komplotts. Nun, Caspar, sollst du in ein kleines Städtchen gehen und in ein kleines Haus, sollst in Verborgenheit leben, und die Wände der Welt sollen sich verengen, bis sie wieder zum Kerker werden. Gewalt hat sich der List verbrüdert; der Richter wird richten, was er sieht, und nicht wissen, was er fühlt. Niedrig sollst du werden, damit die Freunde sich in Feinde verwandeln und deine Einsamkeit leichtere Beute des Verfolgers sei. Das Blut soll gegen sich selber zeugen, Licht soll verweslich werden, Frucht soll nicht mehr wachsen, die Stimme des Himmels soll verstummen, und auf die Nacht – denn Nacht wird sein – soll keine Frühe folgen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.