Kapitel 10 - Botschaft aus der Ferne.

Es war aber von da an nicht mehr auszuhalten mit Frau Behold. Wahrscheinlich bereitete sich in dieser Zeit schon der furchtbare Gemütszustand vor, der späterhin ihr Schicksal verhängnisvoll beschloß. Jedermann scheute sich, mit ihr zu tun zu haben. Kaum hatte sie sich irgendwo hingesetzt, so sprang sie auch schon wieder auf, um fünf Uhr früh war sie schon munter, lärmte in den Zimmern und auf den Stiegen und klopfte Caspar aus dem Schlaf, wobei sie ein solches Gepolter an seiner Tür machte, daß er mit wehem Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu keiner Arbeit fähig war. Bei Tisch sollte er nicht reden, und wenn er einmal Widerspruch hielt, drohte sie, ihn beim Gesinde in der Küche essen zu lassen. Kam ein Fremder und Caspar wurde gerufen, so erging sie sich in bissigen Wendungen. „Ich bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfisch etwas herausbringen,“ sagte sie etwa; „man hat Ihnen sicherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von Klugheit an ihm finden werden. Überzeugen Sie sich doch; sehen Sie zu, ob die arme Seele ein vernünftiges Wort hergibt.“ Solches machte den Gast, wer er auch war, verlegen, und Caspar stand da und wußte nicht, wohin er schauen sollte.

Wie früher mußten Menschen her, um die Räume des Hauses zu füllen, Gelächter sollte über die morschen Stiegen hallen und knisternde Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen. Aber die Tage waren von den Nächten so verschieden wie der Ballsaal, wenn die Lichter brennen und dann, wenn die Leute gegangen sind, der Pförtner die Kerzen auslöscht und Mäuse über die befleckten Teppiche huschen. In einem solchen Dasein wächst Schuld wie das Unkraut auf nichtgepflügtem Acker. Große Schuld kann reinigen in Buße oder Leiden; die kleinen Versäumnisse und unnennbaren Missetaten, die an vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben die Seele und fressen das Mark des Lebens auf.


Jedenfalls war Frau Behold eine sehr moralische Natur, weil sie dem Menschen nicht verzeihen konnte, der ihre Tugend ins Wanken gebracht hatte, wenngleich nur für eine schwüle Gewitterstunde. Aber lag es bloß daran? War ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf gestellt durch das unerwartete Bild der Unschuld, das ihr der Jüngling dargeboten hatte? Eine solche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich, um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr geschehen und sie verlangte nach Rache.

Den Freunden Caspars blieb der veränderte Zustand im Hause Behold nicht verborgen. Bürgermeister Binder war der erste, der mit Nachdruck erklärte, Caspar dürfe nicht länger dort verbleiben. Daumer unterstützte diese Meinung lebhaft, und der Redakteur Pfisterle, hitzig und unbequem wie immer, beschimpfte in seiner Zeitung den Magistratsrat und äußerte den Verdacht, man wünsche den Findling unschädlich zu machen und die Stimmen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, welche die Anrechte seiner geheimnisvollen Geburt durchsetzen wollten. „Da lebt er, der rätselhafte Knabe, dem ein unsichtbares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein einsames Tier, das sich nur mit ein paar schüchternen Sprüngen ans Licht getraut und, während es über den Acker hüpft, possierlich mit Schwanz und Ohren wackelt, um seine Feinde zu ergötzen, dabei aber ängstlich nach allen Seiten spitzt, um bald wieder ins erste beste Loch zu kriechen.“

So der aufgeregte Schreibersmann. Danach entschlossen sich die Stadtväter nach mancherlei Beratungen, wie vordem einen Erziehungs- und Kostbeitrag aus der Gemeindekasse auszusetzen, und weil niemand so wie Herr von Tucher geeignet schien, dem Elternlosen ein Obdach zu bieten, legte man ihm die Sache beweglicherweise ans Herz, appellierte an seine Großmut und an die ausgezeichnete Stellung seiner Familie, deren Name allein genügen würde, den Jüngling vor gemeinen Verfolgungen zu schützen.

Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das plötzliche Gezeter gegen die Beholdschen verdroß ihn. „Erst seid ihr froh gewesen, für den jungen Menschen einen Unterschlupf zu finden, und auf einmal wird hohes Kammergericht gespielt,“ sagte er; „soll ich annehmen, daß es mir besser ergeht? Ich will nicht Gefahr laufen, daß mein Privatleben von oben bis unten beschnüffelt wird, ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, sein Kikeriki in meinen Frieden zu krähen.“

Auch die Familie, besonders seine Mutter, erhob Einspruch und warnte ihn, sich in Abenteuer zu begeben. Es hieß sogar, die alte Freifrau habe dem Sohn einen unangenehmen Auftritt bereitet und ihm gesagt, wenn er den Hauser zu sich nehmen wolle, möge er nur dessen Unterhalt aus Gemeindekosten bestreiten, sie gebe keinen Groschen dafür her.

Aber Herr von Tucher war ein Pflichtmensch. Er fand, daß es seine Pflicht sei, Caspar aufzunehmen. Da er in ihm schon einen halb Verlorenen sah, stellte er sich vor, daß er damit einen unglücklich Irrenden wieder auf die gebahnten Wege des Lebens führen könne. Der gute Caspar ermangelt vielleicht nur einer männlich-kräftigen Hand, sagte er sich; die Faseleien von Übernatur und Ausnahmswesen, das beständige Bestarrt- und Bewundertwerden, alles das war ihm verderblich; Einfachheit, Ordnung, überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer gesunden Zucht werden ihm heilsam sein. Probieren wir’s!

Herr von Tucher hatte sich also hier eine Aufgabe gestellt, und das war das wichtigste. Er erklärte: „Ich bin bereit, den Findling zu betreuen, knüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man mich in allen Dingen gewähren und daß niemand, wer es auch sei, sich einfallen läßt, mich in meinen Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher Absicht zwischen mich und Caspar zu treten.“

Natürlich wurde das zugesagt und versprochen.

Kaum hatte Frau Behold gehört, was sich hinter ihrem Rücken abspielte, so beschloß sie, den Ereignissen zuvorzukommen. Sie wartete eine Nachmittagsstunde ab, während welcher Caspar nicht zu Hause war, ließ alles, was sein Eigentum war, Kleider, Wäsche, Bücher und sonstige Gegenstände, in eine Kiste werfen und diese ohne Deckel auf die Straße stellen. Dann sperrte sie selber das Tor zu und lehnte sich befriedigt lächelnd zum Erkerfenster des ersten Stockwerks heraus, um auf Caspars Rückkehr zu harren und die Verblüffung des angesammelten Volkes zu genießen.

Caspar kam bald; er wurde von seinem Leibpolizisten über das Vorgefallene belehrt, und indes der Mann von Amts wegen aufs Rathaus trollte, um Meldung zu erstatten, lehnte sich Caspar gegen seine Kiste und schaute hin und wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es dauerte gute zwei Stunden, bis man sich auf dem Rathaus entschieden hatte, was zu tun sei, und Herr von Tucher benachrichtigt worden war. Währenddem fing es an zu regnen, und hätte nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfensack herbeigebracht, mit dem sie die Kiste bedeckte, so wäre Caspars ganzes Hab und Gut durchnäßt worden. Endlich zeigte sich der Polizist wieder in Begleitung eines Tucherschen Bedienten; sie brachten ein Handwägelchen mit und schleppten die Kiste hinauf. Nun ging’s fort, und ein einfältig schwatzender Haufen Menschen folgte bis in die Hirschelgasse ans Tucherhaus.

Es begann nun wieder ein ganz neues Leben für Caspar. Vor allem hörte der Besuch der Schule auf und anstatt dessen kam zweimal täglich ein junger Lehrer ins Haus, ein Studiosus namens Schmidt. Sodann wurde jedem unberufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner wurde das Reiten nicht mehr gestattet. „Derlei Übungen sind für Aristokraten und reiche Leute, nicht aber für einen Menschen, der zu bürgerlichem Brotverdienst erzogen werden muß und sicherlich einst darauf angewiesen sein wird, sich mit seiner Hände Arbeit durchzuschlagen,“ sagte Herr von Tucher.

Daraus war ersichtlich, daß er den Redereien von vornehmer Abstammung, die im Lauf der Zeit keineswegs verstummt waren, nicht die mindeste Bedeutung zumaß. „Die gegebenen Verhältnisse sind schwierig genug,“ erwiderte Herr von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Möglichkeit dieser Art hinwies; „ich bin durchaus nicht gesonnen, einem solchen Phantom, und mehr ist es nicht, meine Grundsätze zu opfern.“

Herr von Tucher war ein Mann, der unerschütterlich an seine Grundsätze glaubte. Grundsätze zu haben, war für ihn das erste Element des Lebens, nach ihnen zu handeln, ein selbstverständliches Gebot. Es gehörte zu diesen Grundsätzen, daß er von Anfang an eine Entfernung zwischen sich und Caspar schuf, die den Respekt sicherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohnehin seine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemessene Gang, der kühle Blick, die Tadellosigkeit in Kleidung und Manieren kennzeichneten auch ganz und gar sein Inneres.

Strenge erschien ihm wichtig; er zeigte Caspar ein strenges Gesicht. Die oberste Maxime war: sich nicht rühren lassen. Daneben war es billig, für erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren. Die Stunden vom Morgen bis zum Abend waren aufs genaueste eingeteilt. Am Vormittag der Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufsicht des Dieners oder Polizisten, am Nachmittag beschäftigte sich Caspar allein. Neben seiner Stube war eine kleine Kammer als Werkstätte eingerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt hatte, verfertigte er allerlei Tischler- und Papparbeiten, wozu er viel Geschick bewies. Auch an Uhren und deren Zerlegung und Zusammensetzung fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn von Tucher vollkommen. Er konnte nicht umhin, den eisernen Fleiß des Jünglings und seinen hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewundern. Es gab nicht Widerspruch noch Auflehnung, niemals tat Caspar weniger, als von ihm gefordert wurde. Ganz klar, man hat mich falsch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute, die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu behandeln gewußt, zum erstenmal erfährt er den Segen einer folgerechten Leitung.

Die Grundsätze triumphierten.

Das häufige und lange Alleinsein war Caspar zuerst angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obwaltete, und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen, die ihm Zerstreuung und Unterhaltung versprachen. Wenn auf der sonst so öden Hirschelgasse Lärm entstand, riß er das Fenster auf und lehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es wieder stille war. Es brauchten nur zwei alte Weiber schwatzend stehenzubleiben, gleich war unser Caspar auf dem Posten und lauschte. Er wußte genau, um welche Zeit die Bäckerjungen am Morgen vom Webersplatz herkamen, und ergötzte sich an ihrem Pfeifen. Sobald der Postillon am Laufertor sein Horn blies, unterbrach er die Arbeit und seine Augen glänzten. So machte ihn auch jedes Geräusch aus dem Innern des weitläufigen Hauses stutzig, und nicht selten lief er zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufgeregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte, die unbekannt klang. Die Dienstleute wurden darauf aufmerksam; sie sagten, er sei ein Türenhorcher und lege es darauf an, sie dem Baron zu verklatschen.

Vor dem Hause selber empfand Caspar eine unbestimmte Hochachtung; er schritt fast auf Zehen über die Korridore, etwa wie man in der Gegenwart eines vornehmen Herrn leise spricht. In stolzer Zugeschlossenheit thronte der Bau abseits vom Getriebe, und wer Einlaß heischte, mußte sich von einem langbärtigen Pförtner besichtigen und befragen lassen. Die Mauern waren so gewaltig in die Erde gebohrt, Fassade, Dach und Giebel so majestätisch gefügt und verwachsen, als hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunst des Baumeisters ihnen zu solchem Ansehen verholfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe fesselte Caspars Auge gern am Abend, wenn die feinverschnörkelten Formen, durchglüht von bläulichem Dunst, sich ineinanderwirkend zu beleben schienen.

Bisweilen gewahrte er hinter einem versperrten Fenster einen eisgrauen Scheitel über einem pergamentenen Gesicht. Es war die alte Freifrau, die sich sonst ihm niemals zeigte. Man sagte ihm, daß sie von schwacher Gesundheit sei und ängstlich das Zimmer hüte. Dies Fremdsein Wand an Wand erregte sein Nachdenken. Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter lauter fremden Menschen herumging und von der Mitleidsschüssel speiste. Einer nahm ihn und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er wurde geholt. Ein andres Haus; eines Tages wirft man sein Zeug auf die Gasse: wieder woandershin.

Wie ging das zu? Andre lebten ständig an ihrer Stelle, kannten ihr Bett von Kindheit an, keiner durfte sie losreißen, sie hatten Rechte. Das war es, sie hatten angestammte und gewaltige Rechte. Es gab Arme, die um Geld dienten, die zu den Füßen derer lagen, welche man als reich bezeichnete, selbst die standen irgendwo fest auf der Erde, hielten irgend etwas fest in den Händen, sie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte sie für die Arbeit und sie konnten hingehen und sich ihr Brot kaufen. Der eine machte Röcke, der zweite Schuhe, der dritte baute Häuser, der vierte war Soldat, und so war einer dem andern Schutz und Hilfe und bekam einer vom andern Speise und Trank. Warum konnte man sie nicht wegreißen von der Stelle, wo sie hausten?

Darum war es, ja, darum war’s: weil sie eines Vaters und einer Mutter Sohn waren. Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen jeden zur Gemeinschaft der Menschen und zeigten somit allen andern an, woher er gekommen sei und was er sein wollte.

Das war es, Caspar wußte nicht, woher er gekommen sei; aus irgendeinem unentdeckbaren Grund war er, er ganz allein vaterlos, mutterlos. Und er mußte es herausbringen, warum. Er mußte zu erfahren suchen, wer und wo sein Vater und seine Mutter waren, und vor allem mußte er hingehen und sich seinen Platz erobern, von dem man ihn nicht vertreiben konnte.

An einem Winterabend betrat Herr von Tucher Caspars Zimmer und fand ihn tief in sich gekehrt. Zwei- oder dreimal wöchentlich pflegte Herr von Tucher nach beendetem Tagewerk seinen Zögling zu besuchen, um sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag dies im Schema des Erziehungsplanes. Das Prinzip verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er eine würdevolle Unnahbarkeit bewahre; das Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natürlichen Verkehrs zu verzichten. Und wenn es ihm auch manchmal schwer wurde, solche Überwindung zu üben, sei es durch ein eignes Bedürfnis, sich mitzuteilen, oder weil ein stumm forschender Blick Caspars an sein Herz faßte, es gab kein Schwanken, das Prinzip, grimmig wie ein Vitzliputzli, verstattete nicht, daß man die Grenze der Zurückhaltung mehr als nützlich überschreite.

Wie er aber Caspar so gewahrte, verborgenem Sinnen hingegeben, ergriff ihn der Anblick doch und seine Stimme nahm wider Willen einen milderen Klang an, als er den Jüngling um die Ursache seines Nachdenkens befragte.

Caspar überlegte, ob er sich aufschließen dürfe. Wie bei jeder Gemütsbewegung war die linke Seite seines Gesichtes konvulsivisch durchzuckt. Dann strich er mit einer ihm eignen unnachahmlich lieblichen Geste die Haare von der einen Wange gegen das Ohr zurück und fragte mit einem Ton aus innerster Brust: „Was soll ich denn eigentlich werden?“

Herrn von Tucher beruhigten diese Worte sogleich. Er machte eine Miene, als wolle er sagen: die Rechnung stimmt. Darüber habe er auch schon nachgedacht, erwiderte er; Caspar möge ihm doch sagen, wozu er am meisten Lust habe.

Caspar schwieg und schaute unentschlossen vor sich hin.

„Wie wäre es mit der Gärtnerei?“ fuhr Herr von Tucher wohlwollend fort. „Oder wie wäre es, wenn du Tischler würdest oder Buchbinder? Deine Papparbeiten sind ganz vortrefflich, und du könntest das Buchbindergewerbe in kurzer Zeit erlernen.“

„Dürft’ ich dann alle Bücher lesen, die ich einbinden soll?“ fragte Caspar versonnen, der so geduckt saß, daß sein Kinn die Tischplatte berührte.

Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das hieße eben den Beruf vernachlässigen,“ antwortete er.

„Ich könnte ja auch Uhrmacher werden,?? sagte Caspar; er hatte in diesem Augenblick eine ziemlich überspannte Vorstellung von einem Uhrmacher; er sah einen Mann, der im Innern hoher Türme steht und den Glocken zu läuten befiehlt, der goldene Rädchen ineinander fügt und durch einen Zauberspruch die Zeit unsichtbar macht und in ein winziges Gehäuse bannt. Überhaupt mit solchen Namen war es schwer; nicht sein Wollen lag dahinter, sondern ein unbegreiflich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem Gehaben Caspars doch kein wahrer Ernst, erhob sich und sagte kalt, er werde sich die Sache überlegen.

Am nächsten Abend wurde Caspar in Herrn von Tuchers Zimmer gerufen. „Ich bin nun mit Bezug auf unser gestriges Gespräch zu folgendem Entschluß gelangt,“ sagte der Baron; „du bleibst das Frühjahr und den Sommer über noch in meinem Haus. Wenn du fleißig bist, kann deine Ausbildung in den Elementarfächern bis zum September beendet sein, dessen versichert mich auch Herr Schmidt. Damit nun der Tag ein ununterbrochenes Ganzes für dich wird, sollst du des Mittags nicht mehr mit mir essen, sondern alle Mahlzeiten auf deinem Zimmer einnehmen. Ich werde bald mit einem anständigen Buchbindermeister sprechen; wir wissen dann, woran wir sind. Bist du’s zufrieden, Caspar? Oder hast du andre Wünsche? Nur frisch heraus mit der Sprache, du kannst noch immer wählen.“

Ein flüchtiger Schauer lief Caspar über den Rücken. Er schüttelte sich ein wenig, setzte sich nieder und schwieg. Herr von Tucher wollte ihn nicht weiter bedrängen, er wollte ihm Zeit lassen. Eine Weile ging er hin und her, dann nahm er vor dem Flügel Platz und spielte einen langsamen Sonatensatz. Es geschah dies nicht aus zufälliger Laune; am Dienstag und Freitag von sechs bis sieben Uhr abends spielte Herr von Tucher Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälderuhr soeben sechs gekrächzt hatte, wäre eine Versäumnis sehr gegen die Regel gewesen.

Es war eine ziemlich schwermütige Melodie. Für Caspar war dergleichen eine Qual; so gern er Märsche, Walzer und lustige Lieder hörte – die Anna Daumer, die kann spielen, sagte er immer –, so unbehaglich war ihm bei solchen Tönen. Als Herr von Tucher den Schlußakkord des Stückes angeschlagen hatte, sich auf dem Drehsessel umkehrte und Caspar fragend anschaute, dachte er, er solle sich äußern, wie es ihm gefalle, und er sagte: „Das ist nichts. Traurig kann ich von alleine sein, dazu brauch’ ich keine Musik.“

Herr von Tucher zog erstaunt die Brauen in die Höhe. „Was maßest du dir an?“ entgegnete er ruhig. „Ich habe kein musikalisches Urteil von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, deinen Geschmack in dieser Hinsicht zu veredeln. Im übrigen geh auf dein Zimmer.“

Caspar war es ganz lieb, daß er nicht mehr mit dem Baron zu essen brauchte. Das steife Beieinandersitzen erschien ihm jedesmal unsinnig und lästig. Vieles entzückte ihn an diesem Manne, besonders seine Ruhe und sein sachtes Sprechen, das überaus Reinliche seines Körpers, die porzellanweißen Zähne und vor allem die rosigen gewölbten Nägel der langen Hände. Er kannte viele Leute mit blassen Nägeln und mißtraute ihnen; blasse Nägel erweckten ihm die Vorstellung des Neides und der Grausamkeit.

Doch immer hatte Caspar das Gefühl, als ob Herr von Tucher auf irgendwelche Art schlechte Nachrichten über ihn erhielte und sich davon betören lasse; es war ihm manchmal, als müsse er ihm zurufen: es ist ja alles nicht wahr! Aber was? Was sollte nicht wahr sein? Das wußte Caspar nicht zu sagen.

In seiner Einsamkeit war ihm zumute, als seien die Menschen seiner überdrüssig und gingen damit um, sich seiner zu entledigen. Er war voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten, wo der Mond am Himmel stand, verlöschte er die Lampe früher als sonst, setzte sich ans Fenster und verfolgte unverwandt die Bahn des Gestirns. An Vollmondtagen ward er häufig unwohl, es fror ihn am ganzen Leibe, erst der Anblick des Mondes selbst nahm den Druck von seiner Brust. Er wußte, von welchem Dach oder zwischen welchen Giebeln die helle Scheibe emporsteigen müsse, hob sie wie mit Händen aus der Tiefe des Himmels heraus, und wenn Wolken da waren, zitterte er davor, daß sie den Mond berühren könnten, weil er glaubte, das strahlende Licht müsse befleckt werden.

Sein Ohr schien in dieser Zeit manchmal den Lauten einer Geisterwelt zu lauschen. Eines Morgens erhob er sich während des Unterrichts plötzlich, ging zum Fenster und beugte sich weit hinaus. Herr Schmidt, der Studiosus, ließ ihn gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er ihn zurück. Caspar richtete sich auf und schloß das Fenster, sein Gesicht war so bleich, daß der Studiosus besorgt fragte, was ihm sei.

„Mir war, wie wenn jemand käme,“ versetzte Caspar.

„Wie wenn jemand käme? Wer denn?“

„Ja, wie wenn mich jemand unten gerufen hätte.“

Der Studiosus fand dies wunderlich. Er dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage gestellt. Es war da neuerdings in der Stadt viel von einer seltsamen Geschichte die Rede, die Caspar betraf oder auf ihn gedeutet wurde und die in allen Journalen, auch draußen im Reich, des langen und breiten durchgehechelt wurde. Aber weil Herr von Tucher dem Studiosus aufs strengste verboten hatte, mit Caspar jemals über solche Dinge zu sprechen, nahm er sich zusammen und schwieg.

Nun hatte Caspar seit Monaten die Gewohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die Hand kamen und die er sich zum Teil heimlich zu verschaffen wußte – denn Herr von Tucher fürchtete von dieser Seite her Beeinflussungen mit gutem Grund –, aufs genaueste durchzulesen. Hin und wieder geschah es, daß er irgendeine Nachricht, eine Mitteilung über sich selbst entdeckte, und obgleich er noch nie etwas Wesentliches gefunden hatte, bekam er jedesmal Herzklopfen, sobald er nur seinen Namen gedruckt sah. Kurze Zeit nach jenem kleinen Zwiegespräch mit dem Lehrer spielte ihm der Zufall eine schon mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpost“ in die Hände, und beim Lesen fand er folgende eigentümliche Erzählung:

Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fischer bei Breisach eine schwimmende Flasche aus dem Rheinstrom gezogen, und diese Flasche enthielt einen Zettel, auf welchem geschrieben stand: „In einem unterirdischen Kerker bin ich begraben. Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf meinem Thron sitzt. Grausam bin ich bewacht. Keiner kennt mich, keiner vermißt mich, keiner rettet mich, keiner nennt mich.“ Dann kam ein halb unleserlicher und verstellter Name, von dem alle deutlichen Buchstaben auch im Namen Caspar Hauser enthalten waren.

Alles das war damals schon von einigen Zeitungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel jeglichen Anhaltspunktes natürlich wieder in Vergessenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vorfall aus einem alten Jahrgang der ›Magdeburger Zeitung‹ neuerdings ans Licht gebracht. Andre Journale bemächtigten sich der Angelegenheit, die nach und nach viel Staub aufwirbelte. Auf einmal wurde nachgewiesen, daß seinerzeit ein Piaristenmönch von einer gewissen Regierung bezichtigt wurde, die Flasche in den Rhein geworfen zu haben. Es stellte sich ferner heraus, daß derselbe Mönch plötzlich verschwunden und eines schönen Tages im Elsaß, in einem Wald der Vogesen, ermordet aufgefunden worden war. Den Täter hatte man nie entdeckt.

„Wenn auf diese Spur hin das Mysterium, das über dem Findling schwebt, nicht endlich gelüftet wird,“ rief der Querulant in der ›Morgenpost‹, nachdem er die Geschichte also ausführlich berichtet hatte, „dann gebe ich keinen Pfifferling für unsre ganze Justizpflege!“

Caspar las und las. Zwei Stunden verbrachte er damit, die wunderliche Historia immer wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes einzelne Wort zu überlegen. Dabei überraschte ihn der Studiosus; er vergewisserte sich, daß es eben dieselbe Affäre sei, von der er neulich nicht sprechen gewollt, und sagte hastig: „Ei, was treiben Sie da, Caspar? Was sagen Sie übrigens dazu? Die meisten Leute halten es für Quark, trotzdem es ein unwiderlegliches Faktum ist, daß die Sache damals in der ›Magdeburger Zeitung‹ gestanden hat. Was sagen Sie dazu, Hauser?“

Caspar hörte kaum; als der Mann seine Frage wiederholte, erhob er das Gesicht, schlug den feuchten Blick zum Himmel empor und sagte leise: „Ich hab’ es nicht geschrieben, was da vom Kerker steht.“

„Vom Kerker und vom Throne,“ fügte der Studiosus mit sonderbarem und begierigem Lächeln hinzu. „Daß Sie es nicht geschrieben haben, glaub’ ich schon, Sie haben ja das Schreiben erst bei uns gelernt.“

„Aber wer kann es geschrieben haben?“

„Wer? Das ist eben die Frage. Vielleicht einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund vielleicht.“

„Vom Kerker und vom Throne,“ lallte Caspar mit willenlosem Mund. Er begab sich in die Ofenecke, kauerte sich auf einem Schemel zusammen und versank in tiefe Grübelei. Weder Ruf noch Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu wecken, und der Studiosus, der sich schuldig fühlte, blieb, um kein Aufsehen zu machen, die Stunde über sitzen und entfernte sich dann still.

Am selben Abend war eine Assemblee im Tucherschen Haus, alle Freunde der Familie waren geladen, und eine halbe Stunde lang dauerte das Wagengerassel vor dem Haus. Als die ersten Tanzweisen vom Saal heraufschallten, begab sich Caspar in den Korridor und horchte. Er hatte nicht mehr Zutritt zu solchen Festen.

Während er noch stand, ans Geländer gepreßt, den Kopf vorgebeugt, und er sich so recht verstoßen vorkam, berührte eine Hand seine Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf silberner Platte einige Süßigkeiten brachte. Caspar schüttelte den Kopf und sagte: „Süßes mag ich nicht,“ worauf der Diener ihn mürrisch mit den Blicken maß und sich zu gehen anschickte.

Da kamen Schritte von der zweiten Treppe her, die unbeleuchtet war, und unversehens stand die alte Freifrau in grauseidenem Kleid und seidener Haarschärpe vor den beiden; indem sie ihre blauen Augen streng in die des Jünglings bohrte, sagte sie stolz und befremdet: „Süßes mag er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?“

Sie kam von unten; Caspar roch deutlich den Menschendunst an ihren Gewändern. Es war ihre Art, sich früh zurückzuziehen. Bevor sie zur Ruhe ging, pflegte sie täglich durch das ganze Haus zu wandern, um nachzusehen, ob kein Feuer sei und kein Dieb sich eingeschlichen habe.

Vor ihren rauh klingenden Worten duckte Caspar den Kopf. Es ist anzunehmen, daß seine Phantasie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich spürte er eine lähmende Furcht. Schwärze stieg um seine Augen, es war ihm, als habe er die Stimme des Vermummten gehört, und den Arm ausstreckend, schrie er bittend: „Nicht schlagen, nicht schlagen!“

Die alte Dame, die es so schlimm eben nicht gemeint hatte, blickte verwundert und erschrocken auf. Indes hatte Caspars lauter Schrei die Aufmerksamkeit einiger Gäste erregt, die im unteren Flur auf und ab spazierten. Sie wandten sich an Herrn von Tucher, und dieser ging die Treppe empor, gefolgt von einigen Herren. Unter der Gesellschaft im Saal verbreitete sich das Gerücht, es sei etwas passiert, und da Caspars Aufenthalt im Hause natürlich bekannt war, dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer vorgefallene. Es entstand ein Schweigen, die Tanzmusik verstummte, viele drängten hinaus, besonders die jungen Damen waren erregt, und eine Anzahl von ihnen stieg die Treppe empor und blieb schauend stehen.

Herr von Tucher, der dies alles aufs peinlichste empfand, wie ihm denn jedes unnütze Aufsehen ein Greuel war, schickte sich an, Caspar zur Rede zu stellen, wurde aber durch das versteinerte Bild des Jünglings abgeschreckt, auch machte ihn die bestürzte Haltung seiner Mutter stutzig.

Es ging etwas Ungeheures in Caspar vor. Ihm war, als habe er, was jetzt geschah, schon einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es ihn zurück, und die Zeit schien ihren Atem anzuhalten. Da war die alte Frau, fürstlich geschmückt und majestätisch anzusehen; wie, glich sie nicht einem Weib, das einst in ein Gemach gekommen, wo auch er gewesen war, und hatte ihre Gegenwart nicht alle andern erstarren lassen? Lag nicht jemand auf dem Bett und vergrub den Kopf in die Kissen? Da war der Diener, der eine silberne Platte in Händen hielt; war das nicht alt? Stand nicht auch damals einer da, der Geschenke brachte oder Süßes oder Kostbares? Da waren feierlich gekleidete Männer, die auf einen Befehl zu harren schienen, darauf warteten, daß einer käme, noch festlicher angetan als sie selbst, vor dem sie sich verneigen mußten? Und diese schlanken weißen Mädchen in weißen Schleiern, deren Blicke tief und bang waren? Und hier oben die Dämmerung, die sich über zahllose Marmorstufen hinab ins Licht verlor? Caspar hätte jauchzen mögen, denn er erschien sich fremd und zugleich von allen angebetet; sie senkten das Haupt, sie erkannten den Herrn in ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er kam, er spürte, was jenes Wort vom Kerker und vom Throne zu bedeuten hatte; ein geisterhaftes Lächeln umspielte seine Lippen.

Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen Auftritt ein möglichst stilles Ende. Er führte Caspar in sein Zimmer, gebot ihm, sich zu Bett zu begeben, wartete, bis er lag, verlöschte dann selbst das Licht und sagte beim Hinausgehen in scharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen wegen seiner ungehörigen Aufführung zur Rechenschaft ziehen.

Darum scherte sich Caspar wenig. Es wurde auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung. Herr von Tucher sah ein, daß den Grundsätzen eigentlich nichts zuleide geschehen war. Sein Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung, Caspar sei mondsüchtig und werde sicherlich einmal aufs Dach steigen und herunterstürzen. Herr von Tucher konnte den Mond nicht abschaffen; da der Jüngling krankhaften Zuständen unterworfen schien, durfte man ihn für gewisse Fehltritte nicht verantwortlich machen. Ob Caspar Tischler oder Buchbinder werden solle, war noch immer unentschieden. Es mußte hierzu die Meinung des Präsidenten Feuerbach eingeholt werden. Herr von Tucher nahm sich vor, im April nach Ansbach zu fahren und mit dem Präsidenten zu sprechen.

Caspar aber war voller Erwartung. Er wartete auf einen, der kommen mußte, auf einen, der irgendwo unter den Menschen ging und den Weg zu ihm suchte, und so fest war der Glaube an diesen Kommenden, daß er jeden Morgen dachte: heute, und jeden Abend: morgen. Er lebte in einem beständigen innerlichen Spähen, und seine ahnungsvolle Freude glich einem Traum. Aber wie der Pfau seinen Schweif niederschlägt, wenn er seine häßlichen Füße gewahrt, so machte seine eigne Stimme, sein eigner Schritt ihn schon wieder zaghaft, um wie viel mehr erst der Anblick von Menschen, die täglich seine Erwartung enttäuschen mußten.

Sein ganzes Treiben in dieser Zeit war außergewöhnlich, und die aufmerksam horchende Spannung gegen ein Leeres hin hatte etwas von Wahnwitz. Freilich, zusammengehalten mit dem Verlauf der Ereignisse bot sie ein andres Gesicht und hätte einem Mann wie Daumer absonderlichen Stoff für seine Ideen geliefert.

Es lauerte viel Heimliches und Feindseliges auf Caspars Wegen, und es überlief ihn kalt, wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne fiel. Angstvorstellungen begleiteten ihn bis in den Schlaf, und weil er oftmals erwachte und die Finsternis ihn quälte, bat er, daß man neben seinem Bett ein Öllämpchen brennen lasse. Dies geschah.

Einstmals in einer Nacht spürte er, noch schlummernd, ein eigentümliches Ziehen im Gesicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem streife. Jählings richtete er sich auf, blickte über Bett und Wand und gewahrte eine große Spinne, die an einem Faden in der Nähe seines Kopfes hing. Entsetzt sprang er aus dem Bett, und unf?hig, sich zu regen, beobachtete er, wie das Tier sich aufs Kissen niederließ und über das weiße Linnen kroch, einen glitzernden Faden hinter sich herschleppend.

Caspars ganzer Leib war wie mit einer neuen, schaudernden kalten Haut bedeckt. Er preßte die Hände zusammen und flüsterte angstvoll und seltsam schmeichelnd: „Spinne! Was spinnst du, Spinne?“

Die Spinne duckte den gelblichen Leib.

„Was spinnst du, Spinne?“ wiederholte er flehend.

Das Tier überklomm den Bettpfosten und gewann die Mauer. „Was schickst du dich denn so, Spinne?“ hauchte Caspar. „Warum so eilig? Suchst du was? Ich tu’ dir nichts ...“

Die Spinne war schon oben an der Decke. Caspar setzte sich auf den Stuhl, wo die Kleider hingen. „Spinne, Spinne!“ sagte er tonlos vor sich hin. Es schlug vier Uhr draußen und er hatte sich noch immer nicht ins Bett zurückgetraut. Dann, ehe er sich hinlegte, wischte er Kissen und Wand eifrig mit dem Taschentuch ab.

Er trug von der unbekleidet verwachten Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere Tage ans Lager fesselte. Er wurde traurig, des Wartens war er schon müde. Obwohl ihm schließlich nichts mehr fehlte, hatte er keine Lust, das Zimmer zu verlassen. Herr von Tucher nahm seinen Zustand für ein hypochondrisches Zwischenspiel; als er sich jedoch überzeugte, daß sowohl seine vorsätzliche Gleichgültigkeit wie sein gütiger Zuspruch fruchtlos blieben und daß da eine unverstellte seelenvolle Betrübnis waltete, ward er besorgt.

Nun geschah es an einem dieser Tage, daß ein auswärtiger Bote im Haus vorstellig wurde, der zu Caspar geführt zu werden verlangte, um ihm einen Brief auszuhändigen. Herr von Tucher verweigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem Bedenken überließ ihm der Mann das Schreiben und entfernte sich wieder. Herr von Tucher hielt sich für berechtigt, den Brief zu öffnen. Er war von rätselhafter Fassung; noch rätselhafter dadurch, daß ihm ein kostbarer Diamantring beilag, den Caspar damit als Geschenk bekam. Herr von Tucher war unschlüssig, was er tun solle. Brief und Ring dem Gericht oder dem Präsidenten Feuerbach auszuliefern, erschien ihm das ratsamste. Doch widersprach es immerhin seinem Rechtsgefühl. Eine flüchtige Stimmung von Weichheit gegenüber Caspar ließ ihn den Vorsatz völlig vergessen; er hoffte, den Jüngling aus seiner Niedergeschlagenheit aufzurütteln, und diesen Zweck erreichte er vollkommen. Er brachte Brief und Ring herbei.

Caspar las: „Du, der du das Anrecht hast, zu sein, was viele leugnen, vertrau dem Freund, der in der Ferne für dich wirkt. Bald wird er vor dir stehen, bald dich umarmen. Nimm einstweilen den Ring als Zeichen seiner Treue und bete für sein Wohlergehen, wie er für das deine zu Gott fleht.“

Als Caspar dies gelesen hatte, drückte er das Gesicht gegen den Arm und weinte still für sich hin. Herr von Tucher saß am Tisch und ließ den schönen Stein des Rings nachdenklich im Sonnenlicht spielen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.