Kapitel 07 - Daumer stellt die Metaphysik auf die Probe.

Der Präsident blieb länger als eine Woche in der Stadt. Während dieser Zeit kam er entweder ins Daumersche Haus, um Caspar zu sprechen, oder er ließ den Jüngling zu sich in den Gasthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen seines Zusammenseins mit Caspar. Seit er an einem der ersten Tage mit ihm durch die Straßen gegangen war (wo der früh gealterte, doch mächtig anzuschauende Mann neben dem zarten, ein wenig gebückt gehenden jungen Menschen allenthalben Aufsehen erregt hatte) und an einer Ecke, an der die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der Erde gewachsen plötzlich neben ihnen hergeschlichen war, verzichtete der Präsident darauf, sich mit seinem Schützling öffentlich zu zeigen.

Seine Gespräche mit Caspar, so geschickt sie auch eine Beziehungslosigkeit bisweilen vortäuschen mochten, verfolgten natürlich einen ganz bestimmten Zweck. Caspar, der davon wenig merkte, teilte sich seinem hohen Gönner ohne Befangenheit mit, und durch sein unschuldiges Geplauder wurde Feuerbachs Herz oft sonderbar bewegt, so daß er, dem Wort und Sprache in Fülle gegeben waren, sich nicht selten zum Schweigen verurteilt fand. Ja, er verlor an Sicherheit; „Caspars Blick gleicht dem Glanz eines morgendlich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“ schrieb er an eine altvertraute Freundin, „und manchmal ist mir unter diesem Blick zumute, als hielte der rasend dahinstürmende Schicksalswagen zum ersten Male still; die ganze Vergangenheit steht auf, erlittene Willkür und der Trug des Rechts, die Kränkungen des Neides und manche Tat, deren Früchte faul und ekel am Wege liegen. Dazu kommt, daß ich in betreff seiner unbekannten Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte sehr, an den Rand eines verderblichen Abgrunds führt, wo es gilt, sich den Göttern zu vertrauen, denn Menschen werden dort keinem Gesetz mehr untertan sein.“


Am letzten Tag der Anwesenheit Feuerbachs schickte sich Caspar eine Stunde vor Abend zum Ausgehen an, da der Präsident ihn zu sich bestellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu sagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. Sie saß am Fenster und las gerade das Büchlein des Polizeirats Merker. Kaum daß Caspar die Tür geöffnet, versteckte sie das Heft rasch und erschreckt unter der Schürze. „Was lesen Sie denn da und warum verbergen Sie es denn?“ fragte Caspar lächelnd.

Anna errötete und stotterte etwas. Darauf schaute sie mit feuchten Augen empor und sagte: „Ach, Caspar, die Menschen sind doch gar zu schlecht.“

Er entgegnete nichts, sondern lächelte noch immer. Das erschien Anna auffallend, aber Caspar dachte sich weiter gar nichts dabei. Es war eine seiner Seltsamkeiten, daß er sich nie entschließen konnte, eine Frauensperson ganz ernst zu nehmen; Frauenzimmer können nichts als dasitzen und ein wenig nähen oder stricken, pflegte er zu sagen; sie essen und trinken unaufhörlich und alles durcheinander und deswegen sind sie immer krank; auf andre Weiber schmähen sie und wenn sie dann mit ihnen beisammen sind, tun sie schön und lieb. Als er einmal in solcher Weise redete, beklagte sich Frau Daumer, doch er antwortete ihr: „Sie sind kein Frauenzimmer, Sie sind eine Mutter.“ Auch ereignete es sich einst, daß er bei einem Paradezug von Seiltänzern einem zu Pferd sitzenden Mädchen, dessen bunter Putz und Reitkunst seine Aufmerksamkeit erweckt hatte, ein paar Straßen weit folgte; darüber ärgerte er sich nachher gewaltig, und er meinte, nun sei ihm doch auch einmal geschehen, was bei andern, wie er höre, zuweilen der Fall sei, er sei einem Weibe nachgelaufen.

Er sagte, daß er zum Nachtessen wieder zu Hause sein werde, aber Anna erwiderte, das sei wohl zu spät, ihr Bruder habe davon gesprochen, daß er den Abend mit Caspar bei der Magistratsrätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe schon einige Male darum gebeten, sie sei eine einflußreiche Person, und wenn Daumer sich nicht eine Feindin an ihr machen wolle, müsse er der Einladung folgen.

„Der Herr Präsident geht vor,“ sagte Caspar verdrossen und ging.

Es war mildes Wetter, der Schnee war längst verschwunden, weiße Wolken zogen über die spitzgiebligen Dächer hin. Als Caspar in das Zimmer trat, das der Präsident bewohnte, saß dieser am Schreibtisch und blickte mit zurückgelehntem Körper düster sinnend ins Leere. Erst nach einer Weile wandte er sich zu Caspar und redete ihn, aus seinem dunkeln Nachdenken heraus, ohne Begrüßung an. „Ich kehre morgen nach Ansbach zurück, Caspar, wie Sie ja wissen,“ begann er und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie werden mich einige Wochen, ja vielleicht monatelang nicht sehen. Ich möchte hie und da von Ihnen Nachricht haben, von Ihnen selbst, will Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßig zu schreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte Pflicht daraus erwachse. Nun dachte ich mir, Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, bei der Sie mehr auf sich selbst als an andre gewiesen sind. Sie sollen nicht zur Rechenschaft befohlen sein, aber was Sie einem Freund oder sagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, das sollen Sie hier bewahren.“

Damit reichte er Caspar ein in blauen Pappendeckel gebundenes Schreibheft. Caspar ergriff es mechanisch und las auf einem weißen herzförmigen Schildchen: Tagebuch – Stundenbuch für Caspar Hauser. Er schlug es auf und gewahrte, auf der ersten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der Hand des Präsidenten geschrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Lasterhafte entflieht sich selbst.

Caspar schaute den Präsidenten mit großen Augen ängstlich an. Er wiederholte für sich im stillen, mit sichtbarer Bewegung der Lippen, die geschriebenen Worte und dann, was der Präsident zu ihm gesagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von Gefahr.

Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präsidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Kaum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglocke läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es solle sogleich angespannt werden. „Ich muß noch diesen Abend reisen,“ sagte er zu Caspar.

In unbestimmtem Lauschen und Warten blieb Caspar stehen. Der Postillon im Hof knallte mit der Peitsche. Ein Hauch der Ferne umwehte Caspar, er spürte plötzlich etwas von der Größe der Welt, und die Wolken am Himmel schienen Arme herunterzustrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präsident die Hand zum Abschied reichte, bat er schmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht’ auch mitfahren.“

“Wie, Caspar!“ rief der Präsident in gespielter Überraschung, und plötzlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, „willst du denn fort von den Nürnbergern? Hast du denn vergessen, was du deinem gütigen Pflegevater schuldig bist? Was würde Herr Daumer sagen, wenn du ihn so undankbar verließest? und viele andre wackere Männer, die sich deiner angenommen haben? Es erstaunt mich, Caspar. Bist du denn nicht gern hier?“

Caspar schwieg und senkte die Augen. Hier ist immer dasselbe, dachte er. Er sehnte sich fort; er dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wissen. Vielleicht käme dann einer, um zu fragen: wohin, Caspar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks versammelt ist; drinnen ruft eine Stimme Caspars Namen, die Leute machen Platz und viele Arme deuten auf das Tor, dem er zuschreitet.

„Sprich!“ mahnte der Präsident barsch.

„Sie sind alle gut mit mir,“ flüsterte Caspar mit zuckenden Lippen.

„Nun also!“

„Es ist nur –“

„Was? Was ist –? Heraus mit der Sprache!“

Caspar schlug langsam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Geste, als wolle er den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und sagte: „Die Mutter.“

Feuerbach wandte sich weg, ging zum Fenster und blieb schweigend stehen.

Eine Viertelstunde später schritt Caspar durch die engen Gassen beim Rathaus und kam alsbald auf den menschenverlassenen Egydienplatz. Es war schon dunkel geworden, vor der Kirche brannte eine Öllaterne, und während er nach links abbog, wo das niedere Buschwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die Laufergasse schloß, gewahrte er einen ruhig stehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach ihm hersah. Caspar ging ein wenig langsamer, plötzlich sah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte.

Caspars Herz klopfte laut. Irgend etwas zwang ihn, der stummen Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caspar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caspar konnte sein Gesicht nicht sehen, das unter dem weit in die Stirn gedrückten Hut versteckt war.

Er folgte dem Menschen, obwohl alle Fibern seines Leibes widerstrebten, mit Grauen fühlte er sich Schritt um Schritt gezogen, seine Augen waren aufgerissen, Staunen und Schrecken lagen in seinem Gesicht, und die Hände hielt er mit gespreizten Fingern von sich gestreckt.

Schon war er dem Unbekannten so nahe, daß er dessen gelbe Zähne zwischen den Lippen schimmern sah, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn sich nicht in diesem Augenblick auf der andern Seite des Gebüsches ein Trupp betrunkener junger Leute hätte hören lassen; der fremde Mann stieß einen gurrenden Laut aus, bückte sich rasch und war unter dem Schutz des Laubwerks im Nu verschwunden.

Auch Caspar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er lief geradeswegs mitten in die Schar der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten suchten, und so vermischte sich ein Schrecken mit dem andern. Nur mit Mühe riß er sich los, einige folgten ihm schreiend, er verdoppelte seine Eile, der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, rannte, so schnell er konnte, durch die Judengasse und weiter und ging erst wieder langsamer, als er sich auf der Brücke zur Insel Schütt befand.

Daumer war schon unruhig geworden und wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er Caspars hastigen und unklaren Bericht an, und nach einiger Überlegung meinte er, er glaube nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl deine allweil erregte Phantasie einen törichten Streich gespielt,“ sagte er ungewöhnlich streng. „Nein, es ist wirklich wahr,“ beteuerte Caspar. Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, und schließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter geworden, das Heft, das ihm der Präsident geschenkt und das er während der ganzen Zeit krampfhaft in der Hand festgehalten hatte.

Zerstreut besah es Daumer. „Hat dir Anna nicht gesagt, daß wir zur Magistratsrätin gehen?“ fragte er mißgelaunt. „Es ist höchste Zeit; mach flink und zieh dir den Sonntagsrock an.“

Caspar schaute ihn mit schrägem Blick von unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, der schon im Gesellschaftskleid war, wandelte zweimal bis zum Pegnitzufer und wieder zurück; eine halbe Stunde verfloß und Caspars langes Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er eilte die Stiege hinan und betrat Caspars Zimmer, wo eine Kerze brannte. Zu seinem Ärger nahm er wahr, daß Caspar angekleidet auf dem Bette lag und schlief. Er rüttelte ihn an der Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paarmal das Zimmer, ohne seines Mißmuts Herr zu werden, dann stieß er zornig hervor: „Ach was, soll die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus betrogen werden!“

Durch den finstern Flur schritt er ins Gemach der Schwester, die vor dem Klavier saß und spielte. Er legte ihr den Fall vor und Anna gab ihm ohne weiteres recht, daß er Caspar zu Hause lasse. „Dann muß jemand zur Rätin und unser Ausbleiben entschuldigen,“ sagte Daumer in einem Ton, als ob das Versäumnis sonst schlecht ausgelegt werden könne und er Unannehmlichkeiten zu befürchten habe. Anna erwiderte, die Magd sei nicht da, und nach einigem Besinnen erklärte sie sich bereit, den Gang selbst zu tun.

Als sie fort war, setzte sich Daumer zu den Büchern, rückte die Lampe zurecht und las. Doch er hatte ein schlechtes Gewissen und fuhr bei jedem Laut zusammen. Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter seinen Stuhl und sagte hastig, die Magistratsrätin sei mitgekommen, um Caspar zu holen. Daumer sprang auf; „das heiße ich den Spaß zu weit getrieben,“ murmelte er entrüstet. Anna legte ihm die Hand auf den Mund, denn schon stand die Rätin in der Türe; reich geschmückt, im Seidenmantel, ein kostbares Spitzentuch um den Kopf.

Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber sehr stattliche Frau, ungewöhnlich groß gewachsen, mit ungewöhnlich kleinem Kopf. In ihrem Betragen vermischte sich das Modisch-Französische und das Nürnbergerisch-Provinzliche auf eine nicht immer ganz einwandfreie Weise, und wo jenes zur Geltung kommen sollte, guckte dieses wie der Zipfel eines schlechtverborgenen Armeleutgewands unter einer brokatenen Tunika hervor.

Sie rauschte auf Daumer zu, majestätisch wie eine schaumige Woge, und der gute Mann, niedergeschmettert von so viel Glanz, vergaß seinen Groll und führte die dargereichte Hand der Dame an seine Lippen. „Muß ich selbst Sie an Ihr Versprechen erinnern?“ rief sie mit einer sonoren, kräftigen Stimme. „Was soll’s bedeuten, Professor? Was ist vorgefallen? Weshalb die Absage? Sie sehen, ich verlasse meine Gäste, um ein Wort einzulösen, das Ihnen zu brechen so leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer, Caspar muß mit, wo ist er?“

„Er schläft,“ erwiderte Daumer zaghaft.

„Nom de Dieu! Er schläft! Daß dich das Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken. Marsch, marsch, voran!“

Daumer hatte nicht den Mut, zu widersprechen, dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegenständlichen Gründe. Er nahm die Lampe und schritt voraus. Anna, die zurückblieb, räusperte sich empört, dies beirrte aber Frau Behold keineswegs, als Antwort zuckte sie nur verächtlich die Achseln.

Daumer stand so versonnen an Caspars Lager, daß er die Lampe wegzustellen vergaß. In der Tat mochte es schwerlich etwas Schöneres zu sehen geben als den Engelsfrieden und die rosenhafte Heiterkeit, die auf dem Gesicht des Schläfers leuchteten. Frau Behold schlug unwillkürlich die Hände zusammen, und darin lag Wahrheit und Gefühl.

„Bestehen Sie noch darauf, ihn zu wecken?“ fragte Daumer richterlich. „Der Schlaf ist heilig. Die seligen Geister werden fliehen, sobald unsre Hand ihn berührt.“

Frau Behold klappte die Lider auf und zu, als wolle sie das bißchen Rührung davonjagen, wie man Fliegen mit einem Wedel vertreibt. „Schön gesagt,“ spottete sie, und ihre Stimme surrte wie das Rädchen einer Spindel. „Aber ich bestehe auf meinem Schein. Ich will dem Buben was dafür schenken, und was die seligen Geister betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen gibt’s Nächte genug.“

Während Daumer den Schlafenden bei den Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden mehr sich selbst als Caspar zu beschwichtigen schien, zeigte sich in dem kleinen Gesicht der Frau Behold eine wunderliche Erregung. Sie blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde schlaff und entblößte eine schmale, feste Zahnreihe wie bei einem Nagetier. „Pauvré diable,“ murmelte sie, „armes Herzle,“ und erfaßte Caspars Hand.

Davon erwachte Caspar völlig, befreite die Hand mit einem Ruck und schüttelte sich. Sein trunken-müder Blick fragte, was man mit ihm vorhabe, Daumer erklärte es, schenkte Wasser in ein Glas und gab es ihm zu trinken, nahm den Sonntagsrock, der schon bereitlag, und hielt ihn zum Anziehen hin.

Caspar heftete den verdunkelten Blick auf Frau Behold und sagte trotzig: „Ich will nicht zu der Frau.“

„Wie, Caspar?“ rief Daumer erstaunt und verletzt. Zum erstenmal vernahm er dies „ich will nicht“, zum erstenmal stand Caspars Wille gegen ihn auf. Caspar war selber erschrocken, sein Blick war schon wieder gefügig, als Daumer mit ernsthaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es. Ich will auch, daß du die Dame um Verzeihung bittest. Es geht nicht an, daß du eine Laune über dich Herr werden läßt. Wenn wir uns der Rücksichten gegen die Menschen entbinden würden, stünden wir alle so hilflos da wie du am ersten Tag.“

Mit niedergeschlagenen Augen tat Caspar, was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm den ganzen Auftritt nicht schwer. Sie tätschelte Caspars Wange und fand den Professor Daumer ziemlich komisch.

Eine halbe Stunde später waren sie in den festlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caspar, von Menschen umdrängt, mußte die gewöhnliche Flut der Fragen über sich ergehen lassen. Frau Behold wich nicht von seiner Seite, sie lachte beinahe zu allem, was er sagte, und er wurde allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angst vor den Worten; es schien ihm gefährlich, zu sprechen, es war, als ob alle Worte zweifach vorhanden wären, einmal offenbar, das andre Mal verhüllt, und so wie die Worte hatten auch die Menschen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich suchten seine Blicke in ein und derselben Person die zweite, die lauernd hinterherging und verführerisch mit dem Finger winkte.

Es war ihm unverständlich, was sie von ihm wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Nicken, ihr Lächeln, ihr Beisammensein, alles war ihm unverständlich, und auch er selbst, er selbst fing an, sich unverständlich zu werden.

Indessen verlebte Daumer eine böse Stunde. Frau Behold, die stolz darauf war, ihr Haus zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen, hatte heute einen Herrn zu Gast, der, wie man sich erzählte, unter falschem Namen reiste, da er in wichtiger diplomatischer Mission nach einer Residenz im Osten des Landes unterwegs sei. Man raunte sich auch zu, daß der hohe Fremde großes Interesse an dem Findling Hauser nehme und daß er vielen einflußreichen Personen gegenüber sich abfällig und tadelnd über die unsinnigen Gerüchte geäußert habe, die Caspars Herkunft zum Gegenstand hatten. Und man muß gestehen, daß die einflußreichen Personen sich dem Gewicht einer solchen Meinung nicht verschlossen, aber das Treiben des vornehmen Herrn gab auch Anlaß zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfisterle, Querulant wie immer, behauptete sogar, der diplomatische Herr sei nach seiner Ansicht nichts andres als ein verkappter Spion.

Wie dem auch war, von all diesen Neuigkeiten hatte Daumer in seiner Weltverlorenheit nichts erfahren. Der Fremde gesellte sich nach kurzer Weile zu ihm, und sie kamen ins Gespräch, wobei es jener leicht anzustellen wußte, daß sie sich von den übrigen Gästen absonderten. Daumer, eingeschüchtert durch die Manieren, die delikate Zwanglosigkeit des hohen Herrn, dessen Rockbrust voller Orden hing, wußte zuerst kaum etwas zu sagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit nein und ja. Allmählich gab er sich freier und erzählte seinem Zuhörer vieles von Caspar, kam auf dessen furchtsames Wesen zu sprechen und schilderte wie zur Erläuterung das Benehmen des Jünglings, als er heute abend, vor einem eingebildeten, ohne Zweifel eingebildeten, Verfolger flüchtend nach Hause gekommen war.

Der Fremde hörte aufmerksam zu. „Vielleicht hat er sich aber gar nicht getäuscht,“ entgegnete er vorsichtigen Tons, „es mag sich da mancherlei in der Verborgenheit abspielen. Meines Wissens haben ja auch Sie, lieber Professor, vor längerer Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen sich daher nicht wundern, wenn aus gewissen Drohungen Ernst wird.“

Daumer stutzte, doch der Fremde fuhr mit liebenswürdiger Offenheit, scheinbar harmlos plaudernd, fort: „Sie sollten sich an den Gedanken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel sind, die vor nichts zurückschrecken, um ihre Maßregeln mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Gemunkel wird vielleicht als störend empfunden, vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und möchte die Öffentlichkeit vermeiden. Vorläufig mag es der Gewalt, die da im Hintergrund ist, darum zu tun sein, die Dinge möglichst in Verborgenheit abzumachen, aber sie könnte wohl auch offenes Spiel treiben, sie könnte der Polizei und den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden. Einstweilen begnügt man sich aber, die Fäden hinter den Kulissen zu ziehen.“

Von neuem stutzte Daumer; die Worte seines Gegenüber schienen einen genauen Bezug zu haben; doch der Fremde ließ ihm keine Zeit zu überlegen, er fuhr mit heller Stimme, fast vertraulichen Tones fort: „Ich glaube vor allem, daß man die Verbreitung all des hirnlosen Geschwätzes durch das bequeme und naheliegende Mittel der Druckschrift fürchtet und ahnden wird. Man demaskiert sich dort oben ungern, noch weniger will man von andern demaskiert werden, man liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch seine privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu sehen; das ist begreiflich. Der Staatsbürger hat Freiheiten genug; in seinem Bereich mag er sich tummeln, nach oben soll er sich gebunden finden.“

Was war das? Daumer meinte zu verstehen, worauf es hinauswollte; er beschloß, dem dunkeln Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang schon seine eigne Freiwilligkeit zuvorgekommen.

„Ich möchte mir eine Frage erlauben, verehrter Professor,“ begann der Fremde wieder; „sind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene Knabe, an dem ich auf meine Art, ich will es nicht leugnen, ein gewisses äußeres Interesse nehme, die ununterbrochene Aufmerksamkeit ernsthafter Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt es sich denn, die ganze Welt mit seiner zweifelhaften Sache zu beschäftigen? Was bleibt für die großen Angelegenheiten der Nation, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, des Lebens überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die besten Geisteskräfte an ein empfindsames Naturspiel verschwendet? Man rühmt die außergewöhnlichen Gaben des Findlings. Ich bemühe mich umsonst, solche Gaben zu entdecken; ich bin kühn genug, zu behaupten, daß ich damit nur an Ihre eigne Ungewißheit rühre. Lassen wir noch ein wenig Zeit vergehen und wir werden über diesen Punkt eine betrübende Sicherheit gewinnen. Innerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt es Hunderttausende von Wesen, die, mit ebensogroßen oder noch größeren Eigenschaften geboren, gleichwohl einem ungleich elenderen Los verfallen sind. Die wahrhafte Tugend müßte sich auch für sie entflammen, denn in der Idee darf dem Erbarmen mit der menschlichen Not keine Grenze gesetzt sein. Aber wo endete der Mann, der sein Herz nach allen Seiten hin zerrisse und in Fetzen austeilte? Er stünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger Gegenstand ein würdiges Opfer von ihm forderte. Denken Sie sich von Caspars Lebensalter ein Dutzend Jahre hinweg und das vermeintliche Wunder ist enthüllt bis auf den Grund und hat Ihnen nichts mehr zu geben als die beschämende Selbstverständlichkeit einer natürlichen Tatsache. Bestenfalls bleibt ein Kuriosum, mit welchem man ein Tischgespräch würzen kann. Ein Kuriosum und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen Köpfen so aufregend dünkt.“

Widerspruch und Abwehr malten sich in Daumers Zügen; sein umherschweifender Blick suchte nach Caspar, aber alles, was er zu sagen wußte, war: „Nicht durch Worte kann die Seele für sich zeugen.“

Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die Seele!“ erwiderte er spöttisch. „Sie kann nicht durch Worte zeugen, denn sie ist nur ein Wort wie jedes andre. Das Auge schaut, der Finger spürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weise, das Blut durchspritzt die Adern, jeder Sinn macht den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert ihr euch da und wollt ein Besonderes haben und sprecht von Seele, als sei die Seele wie ein Schmuckstück, das eine eitle Frau im Kästchen verschließt und gelegentlich an ihren Busen steckt, um beim Ball damit zu glänzen! Jeder ist im allgemeinen ausgeteilt und sein Zuschuß von Kräften ist kein Privileg, sondern nur eine Hoffnung. Oder dürfte der Adler die Seele für sich in Beschlag nehmen, weil er besser zu fliegen vermag als die Gans? Die Seele! Ihr Herren beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr sie leugnet oder ob ihr Bücher schreibt, um sie zu beweisen.“

Es entstand ein Schweigen. Er spricht wie ein Satan, dachte Daumer, und als er sich anschickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit höflicher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie lieben Caspar,“ sagte er mit veränderter Stimme, ernst und herzlich, „Sie lieben ihn brüderlich, und nicht Mitleid nährt diesen Trieb, sondern die schöne Begierde, die stets den Gott in der Brust des andern sucht und nur im Ebenbild sich selbst erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede haben für Ihre Liebe, das ist es. Muß ich Ihnen sagen, daß es keine tieferen Wunden gibt als die Enttäuschungen aus solchem Zwiespalt? Ich rate Ihnen, fliehen Sie den Anblick und die Gesellschaft dessen, der Ihnen nichts mehr zu bieten hat als Enttäuschung.“

„Also sind wir denn zu schwach, dem Erlebnis gegenüber so zu bleiben wie wir zu sein glaubten, indem wir es ersehnten!“ rief Daumer verzweifelt.

Der Fremde verzog sein faltig-altes Gesicht zu einer Grimasse des Bedauerns. Eine leichte Gebärde verriet, daß das Gespräch für ihn erschöpft sei, und sie mischten sich wieder unter die übrigen Gäste. Daumer, völlig aus der Fassung gebracht, wünschte nichts weiter, als den lärmenden Kreis zu verlassen. Er suchte Caspar und bemerkte ihn, blaß und schweigsam, mitten unter schillernden Roben und grauen und braunen Fräcken; Frau Behold saß auf einem niedrigen Schemel fast zu seinen Füßen, und ihr Gesicht sah hart und düster aus.

Der Abschied war umständlich. Als sie auf den vereinsamten Gassen schweigend ein Stück Wegs zurückgelegt hatten, schlang Daumer den Arm um Caspars Schulter und sagte: „Ach, Caspar, Caspar!“ Es klang wie eine Beschwörung.

Caspar, den es nach Belehrung dürstete und dessen Herz zum Überfließen voll von Fragen war, seufzte auf und lächelte seinem Lehrer in wiedererwachtem Vertrauen zu. Sei es nun, daß Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle seines Innern trafen, wo er sich unsicher und schuldig fühlte, sei es, daß die Nacht, die Einsamkeit, die quälenden Zweifel, das wunderliche Gespräch, das er eben geführt, seinen Geist zu übertriebener Inbrunst entzündeten, er blieb stehen, umarmte Caspar noch fester und rief mit emporgewandten Augen: „Mensch, o Mensch!“

Das Wort ging Caspar durch Mark und Bein. Ihm war, als eröffne sich ihm auf einmal, was dies zu bedeuten habe: Mensch! Er sah ein Geschöpf, tief unten verstrickt und angekettet, von tief unten hinaufschauend, fremd sich selbst, fremd dem andern, dem es das Wort Mensch zuschrie und der ihm nichts antworten konnte als eben diesen inhaltsvollen Ruf: Mensch.

Sein Ohr hielt den Klang fest, der durch die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles für ihn bekommen hatte. Am andern Morgen nahm er sein Tagebuch zur Hand, und die erste Eintragung, die er darin machte, waren die drei Worte: Mensch, o Mensch – für jeden andern natürlich eine sinnlose Hieroglyphe, für ihn aber ein deutungsvoller Hinweis, ein entschleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl- und Zauberspruch zur Abwendung von Gefahren. Es entsprach seinem kindischen Wesen, daß er von derselben Stunde ab das Tagebuch als eine Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich war, und in einer jener sehnsüchtigen und angstvoll traurigen Stimmungen, die ihn häufig befielen, faßte er den sonderbaren und folgenschweren Entschluß, daß kein andrer Mensch außer seiner Mutter jemals Einblick in dieses Heft erlangen, jemals lesen sollte, was er darin aufschreiben würde. Solche Vorsätze starrsinnig zu halten, dazu war er durchaus imstande.

Als wenige Tage nachher die Prinzessinnen von Kurland in Daumers Haus kamen, die mit Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme für Caspar hegten, kam zufälligerweise die Rede auf das Geschenk, das der Präsident seinem Schützling gemacht, und da Daumer erzählte, es befände sich in dem Büchlein ein sehr gutes Stahlstichporträt des Präsidenten, wünschten die Damen das Heft gern zu sehen. Zu aller Erstaunen weigerte sich Caspar, es zu zeigen. Daumer warf ihm erschrocken seine Unhöflichkeit vor, aber er blieb hartnäckig. Die Damen bestanden nicht weiter darauf, ja sie lenkten sogar die Unterhaltung taktvoll in eine andre Richtung, aber als sie fortgegangen waren, nahm Daumer den Jüngling ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund seiner Weigerung. Caspar schwieg. „Und würdest du auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen vorenthalten?“ fragte Daumer. Caspar sah ihn groß an und antwortete treuherzig: „Sie werden es gewiß nicht verlangen, bitte schön!“

Daumer war sehr betroffen und entfernte sich still.

Gegen Abend kam Herr von Tucher, bat Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, und als sie allein waren, sagte er ohne weitere Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kenntnis setzen, daß ich unsern Caspar zweimal beim Lügen ertappt habe.“

Daumer schlug stumm die Hände zusammen. Das fehlte nur noch, dachte er.

Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! Ei du gütiger Himmel, wie war das zugegangen!

Die Sache verhielt sich so: Am Sonntag sei er mit dem Bürgermeister in Caspars Zimmer getreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den Jüngling ersucht, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Da habe Caspar, der bei den Büchern gesessen, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe ihm verboten, das Haus zu verlassen. Dem Bürgermeister sei das gleich bedenklich erschienen, besonders da ihn Caspar kaum anzusehen gewagt, er habe sich unauffällig bei Daumer erkundigt, wie dieser sich wohl erinnern werde, und seinen Verdacht bestätigt gefunden. Am andern Tag seien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, während Daumer vom Hause fortgewesen, zu Caspar gekommen und hätten ihm seine Unwahrheit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblassen habe er sein Vergehen zugestanden, habe aber, wie ein gescheuchter Hase in die Enge getrieben und den ersten besten Ausweg ergreifend, albernerweise eine Geschichte erfunden von einer Dame, die bei ihm gewesen und die ihm ein Geschenk versprochen, weshalb er auf sie gewartet habe.

„Auf unser mehr bestürztes als strenges Zureden bekannte er sich auch dieser Unwahrheit schuldig,“ fuhr Herr von Tucher mit unerschütterlichem Ernst fort. „Er gab zu, daß er nur in Ruhe habe studieren wollen und daß ihm kein andres Mittel eingefallen sei, um die lästigen Störungen abzuwenden. Inständig flehte er uns an, Ihnen nichts von seinem Fehltritt zu erzählen, er wolle es nie wieder tun. Ich hab’ mir’s aber überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es besser ist, wenn Sie alles wissen. Es ist vielleicht noch Zeit, um das böse Laster mit Erfolg zu bekämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz schauen, doch ich glaube noch immer an die Unverdorbenheit seines Gemüts, wenngleich ich überzeugt bin, daß uns nur die äußerste Wachsamkeit und unerbittliche Maßnahmen vor gröberen Enttäuschungen bewahren können.“

Daumer sah vollkommen vernichtet aus. „Und das von einem Menschen, auf dessen heiliges Wahrheitsgefühl ich Eide geschworen hätte,“ murmelte er. „Wenn Sie es nicht wären, der mir das erzählt, ich würde lachen. Noch vor einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken erachtet, der mir gesagt hätte, Caspar sei einer Lüge fähig.“

„Auch mir ist es nahgegangen,“ versetzte Herr von Tucher. „Aber wir müssen Geduld haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen offen, warten Sie auf den nächsten gegründeten Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit wuchtiger Hand.“

Eine Lüge; nein, zwei Lügen auf einmal! Der arme Daumer, er wußte sich keinen Rat. Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher nimmt den ganzen Vorgang zu schwer, sagte er sich; Herr von Tucher ist eine sehr gerechte Natur, aber ohne Zweifel ein Mann mit vielen Vorurteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit allen verfehmenden Zeichen der Übeltat auszustatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben nicht, das unsereinen unterscheiden lehrt zwischen dem, was schlecht ist und was der Andrang gebieterischer Umstände auch dem Redlichsten entpreßt. Aber was geht mich Herr von Tucher an, hier handelt es sich um Caspar. Ich glaubte einst, von ihm fordern zu dürfen, was keiner sonst von keinem fordern darf. War es eine Verblendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen sehen; ich muß jetzt herausbekommen, ob er schon zu den Gewöhnlichen gehört oder ob sein Wille noch einer unhörbar rufenden Stimme zu gehorchen fähig ist. Hat sich sein Ohr jedem Geisterhauch und -schall schon verschlossen, dann ist seine Lüge eine Lüge wie jede andre, kann ich aber noch übersinnliche Kräfte des Verstehens in ihm wecken, dann will ich die Philister verachten, die immer gleich mit dem Bakel erscheinen.

Es bedurfte einer schlaflosen Nacht, um dem sonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gottesurteil in sich schließen sollte, auf die Beine zu helfen. Die Weigerung Caspars, sein Tagebuch zu zeigen, gab den Anstoß. Ich will ihn bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie eine metaphysische Kommunikation zwischen mir und ihm herstellen; ich werde ihn, ohne ein Wort zu sprechen, mit meinem geistigen Verlangen zu erfüllen trachten und werde eine Stunde festsetzen, innerhalb deren das nur Gewünschte zu geschehen hat. Kann er folgen, so ist alles gut; wenn nicht, dann ade, Wunderglaube, dann hat dieser beredsame Materialist recht gehabt, mir die Seele wegzudisputieren.

Am Morgen, so gegen neun Uhr, kam Anna zu ihrem Bruder und sagte, Caspar gefalle ihr heute ganz und gar nicht; er sei schon um fünf aufgestanden und es sei eine Unruhe in ihm, die sie noch nie wahrgenommen; beim Frühstück habe er fortwährend ängstlich um sich herumgeschaut und keinen Bissen gegessen.

Daumer lächelte. Sollte er jetzt schon spüren, was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und seine Stimmung wurde mild und zuversichtlich.

Ein schicklicher Vorwand, die Frauen aus dem Haus zu schaffen, fand sich ungezwungen; Frau Daumer mußte ohnehin auf den Markt, Anna wurde überredet, einige Besuche zu machen. Um elf Uhr machte sich Caspar an seine Schularbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen. Er setzte sich, das Gesicht gegen Caspars Platz gerichtet, ein wenig hinter der Schwelle auf ein Stühlchen, und es gelang ihm alsbald, mit erstaunlicher Energie all seine Gedanken auf das eine Ziel zu richten, auf dem einen Punkt zu sammeln. Im Haus war es sehr still, kein Laut störte das wunderliche Beginnen.

Bleich und gespannt saß er also und beobachtete, daß Caspar häufig aufstand und zum Fenster trat. Einmal öffnete er das Fenster, das andre Mal schloß er es wieder. Dann begab er sich zur Tür und schien zu überlegen, ob er hinausgehen solle. Sein Auge war ohne Stetigkeit und sein Mund eigentümlich gramvoll verzogen. Aha, es rumort in ihm, frohlockte Daumer, und immer, wenn Caspar sich dem Schränkchen näherte, in dem das blaue Heft wahrscheinlich lag, bekam der unglückliche Magier vor Erwartung Herzklopfen.

Wie weit war Caspar davon entfernt, auch nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu ahnen, daß in dieser Stunde sein Geschick und Wesen vor ein Tribunal gestellt wurde!

Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war ihm so bang, daß er ein paarmal die ganz bestimmte Vorstellung hatte, es würde ihm etwas Schlimmes zustoßen. Ja, er hatte das unabweisbare Gefühl, daß einer unterwegs sei, der ihm etwas zuleide tun werde. Erstickend lag die Luft im Raum, die Wolken am Himmel blieben lauernd stehen; wenn durch die Baumkronen vor dem Fenster eine Schwalbe strich, sah es aus, als ob eine schwarze Hand pfeilschnell auf- und niedertauche; das Deckengebälk bog sich niedriger, hinter dem Getäfel der Wand knackte es unheimlich.

Caspar ertrug es nicht mehr. Sein Blick stach, eine kühlschaurige Angst floß ihm durch die Haare, die Brust wurde eng, es trieb ihn hinaus, hinaus ... Plötzlich verließ er mit fliehenden Gebärden das Zimmer.

Ruhig blieb Daumer sitzen und stierte vor sich hin wie einer, der aus dem Rausch erwacht. Vorüber, die Frist war verstrichen. Er schämte sich sowohl seiner Niederlage als auch seines vermessenen Unterfangens, denn er war ja ein gescheiter Kopf und hatte Selbstbesinnung genug, um die spielerische Willkür dessen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden.

Trotzdem ergriff ihn eine finstere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die sich noch vor kurzem an den Namen Caspar geknüpft, verursachte ihm einen schalen Geschmack auf der Zunge. Er faßte den unerschütterlichen Vorsatz, sein Leben wie ehedem dem Beruf, der Einsamkeit und den Studien zu widmen und die Kräfte des Geistes nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis und des Forschens jede Gabe sichtbar bezahlt wird.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens.