Zum schwarzen Kater.

Ein Pariser Frühlingstag haftet mir im Gedächtnisse, einer jener Tage, an denen ich aus dem Paris der Fremden die weitere Reise in das Paris der Einheimischen versuchte. Das eine liegt über dem anderen, wie die Schriften auf einem Palimpfest; Eile oder Gewohnheit sieht immer nur das Oberflächliche. Zwei grundverschiedene Städte, man hat es oft gesagt. Gemeinsam ist beiden nur der Straßenrausch. Das ist jene süße Schwere, die uns im Schlendern überkommt. Wirre Gerüche, Töne, Farben umgarnen uns von allen Seiten. Grüne Bäume wachsen aus dem Macadam, die Häuser sind bis ans Dach mit riesigen, in der Sonne blitzenden Goldbuchstaben der Firmen besetzt; auf dem Holzpflaster des Fahrdamms rollen die schwerfälligen, gelben Omnibuswagen, der Kutscher mit glänzendem Lackhut hoch über seinem Dreigespann; eidechsenhaft beweglich schlüpfen die kleinen Droschken vorüber; man hört kein Wagengerassel, nur den dumpfen Knall aufschlagender Pferdehufe. Längs des Bürgersteiges gleiten die Karren der Grünzeughändler hin, unter Schreien und Gesang. Und auf dem Trottoir trottet hastiges Volk, dem das Geschäft ein Vergnügen zu sein scheint, sowie die Andern, denen das Vergnügen ein Geschäft. In keiner Stadt des Südens ist eine so immerwährende und lachende Bewegung im Freien. Und der holdeste Ton in dieser großen Symphonie des Straßenlebens ist das Weib - nein, die Pariserin, die jung oder alt, blond oder braun, schön oder hässlich sein mag - auf der Gasse ist sie verführerisch. An warmen Frühlingstagen muss man sie sehen, wie sie vorbeitänzelt mit ihrem sonderbaren, schaukelnden Hüftengang, gehoben von der Wonne ihres neuen leichten Kleides, das immer ein Säumchen des blütenweißen Unterrockes zu verraten gewandt ist. Ihr vorübergaukeln genügt, uns mit einer lächerlichen Glücksempfindung zu erfüllen, gleichwie uns die silberne Ruderfurche im Wasser bezaubert.

Hinter dem anmutigen Weibe das uns entgegenkommt oder vor uns her flieht, bleibt in der Luft auch eine Furche zurück: von Düften, die trunken machen. Das ist die süße Schwere, der Straßenrausch, dem Einheimische und Fremde unterworfen sind in dieser immerdar verliebten Stadt Paris.


Die Poeten und auch die gewöhnlichen Müßiggänger bewahren den Duft solcher Begegnungen ewig in der Erinnerung - ob er nun den aristokratischen Falten eines Seidenkleides entquoll, oder von einer lachenden kleinen Hutmacherin ausgeatmet wurde, die keinen anderen Parfum besaß, als den ihrer Jugend. Da ist Mürger der Meister. Ein unverblichener Glanz liegt auf den Gestalten seiner Boheme, die sich in der Wirklichkeit längst verlaufen hat, spurlos verschwunden ist. Vielleicht existiert sie doch noch, und wartet nur daß ihrer geänderten Erscheinung wieder ein Geschichtsschreiber erstehe, wie jener war. Vielleicht wird uns in zehn oder zwanzig Jahren ein Großgewordener, dem man in diesem Augenblicke noch die „unverwendbaren“ Manuskripte zurückgibt, erzählen, wie die Stätten und die Genossen seiner Jugend beschaffen waren. Denn von dieser berühmten Jugend erfährt man nie, wie sie ist, sondern lediglich, wie sie war.

Was ich auf der Entdeckungsreise, von der ich spreche, kennen lernte, war eine lächerliche Karikatur. Wohl gibt es auch jetzt noch ein Zigeunertum der Kunst. Noch immer gibt es Leute, die nach dem Muster des biblischen Helden in der Länge des Haupthaares ihre Kraft suchen. Aber diese Ungekämmtheit ist eine sehr gekünstelte Frisur. Die Nachlässigkeit ist überaus gesucht. Die Geberden sind auf den Zuschauer berechnet. Das Zigeunertum wird als Kostüm getragen und in malerische Falten gelegt. Und ihre Zelte haben sie beim „schwarzen Kater“ aufgeschlagen.

Das ist die Herberge der Genialität. Sie befindet sich auf dem Boulevard Rochechouart, dicht neben dem Tanzlokal „Elysée Montmartre“, wo wir Söhne ernsthafterer Länder in sittlicher Entrüstung so gerne den Cancan betrachten. Die Taverne „zum schwarzen Kater“ ist nicht zufällig so weit entfernt vom linken Ufer der Seine, vom ehemaligen „lateinischen Land“. Denn eine Völkerwanderung der leichtsinnigen Stämme hat sich vollzogen. Man überließ das Stadtviertel der Universität, den Rumänen, Russen, Amerikanern, die an der Sorbonne und in den umliegenden Kaffeehäusern mit weiblicher Bedienung studieren. Fort, hinauf nach den billigeren Höhen von Montmartre! Auch da kann man Gedichte und Schulden machen, Philister prellen, nichts lernen, Liebschaften anknüpfen, die Haare lang tragen, sich über das Cliquewesen ärgern, genial sein. Dem Frühlingsrausch der Müßiggänger kann man sich auf diesen Straßen ebenfalls ergeben Auch da müssen sich Vereinigungspunkte für die Mitstrebenden finden, wie es einst die Tafelrunde der Boheme gewesen. Da entsteht im geeigneten Moment der „schwarze Kater“.

Der Gründer dieser Kneipe, halb Gastwirt und halb Kraftgenie - sein deutsch klingender Name ist mir entfallen - erlässt einen Aufruf. „Was war Montmartre bisher? Nichts!“ heißt es da, in sinniger Nachbildung der revolutionären Flugschrift des Abbé Sieyés; „was soll es werden? Alles!“ und der Mittelpunkt dieser neu zu etablierenden Welt soll die Schenke „au chat noir“ sein. Sie wird „gothisch“ möbliert, Butzenscheiben füllen die Fensterrahmen aus, und die Wände bemalt der bizarre junge Künstler Willette. Das Hauptmotiv ist die gekrümmte Figur des schwarzen Teufelskaters. Die große Wand ziert ein übermütig schauerlicher Totentanz auf dem Boulevard. und andere solche Scherze. Das ist die „incohärente“ Kunst, die Kunst der Ungereimtheit. Zuweilen ist sie lustig, aber niemals absichtslos. Sie hascht nach dem Effekt, wie der Wirt in der Sammtjoppe und im spanischen Bart; wie die lärmenden Gäste, die sich um den Herbergsvater bald versammeln.

O, er will sie lärmend haben. Die Ruhigen würfe er vielleicht hinaus. Ihr Lärm ist sein Geschäft - und auch das ihrige. Alle diese jungen Maler, Bildhauer, Musiker und Dichter wollen gesehen und gehört werden, Aufmerksamkeit erregen, ihren Weg machen. Das beste Mittel zu diesem Zweck ist: sich exzentrisch gebärden. Als klassisches Vorbild dient immer noch der Charlatan, der in abenteuerlichem Anzug und mit krausen Reden auf dem Markt seine Ware feilhält. Die Stammgäste vom „schwarzen Kater“ wissen nämlich schon sehr genau, wie es in der Welt zugeht. Sie sind nicht mehr so jung und auch keine solchen Idealsucher, wie sie sich geben. Sie überlegen ihre Unbesonnenheiten reiflich, und echt ist nur ihre Entrüstung ob der Langsamkeit des Vorwärtskommens. Wenn man allein ist, geht es überhaupt nicht. Man muss sich vereinigen. Dazu ist der „schwarze Kater“ wie geschaffen. Die „Bewegung“ wird eines schönen Tages gegründet, an dem fünf oder sechs junge Leute sich sagen, daß man nur höflichen Bitten nicht durch das Gedränge komme. Man muss die Ellbogen gebrauchen, schreien, donnern, wettern. Aber fünf oder sechs mittelmäßige Köpfe können, jeder für sich nicht viel ausrichten. Sie thun sich zusammen. Da werden sie eine Macht. Sie ziehen zu Felde. Gegen wen? Gegen die „Alten“. gegen Alle, die etwas gelten, sind oder haben. Der Kriegsfall ist immer gegeben. Die Fünf oder Sechs ernennen sich zur „Jugend“! Es ist Trompetenton in diesem Rufe. Platz! Stehet doch endlich auf, wir wollen uns setzen! . .

Die Stammgäste vom „schwarzen Kater“ bringen selten eine Idee mit, zuweilen eine neue Form, und immer eine Formel, ein Schlagwort. Sie predigen immer eine Revolution. Was wären sie auch, wenn sie nicht Umstürzler wären? Will es der Zufall, so kämpfen sie auch für etwas Großes: für die Freiheit des dritten Standes, für Romanticismus oder Naturalismus in der Dichtung, für „Plein air“ in der Malerei. Unumgänglich nötig ist das freilich nicht. Sie geben sich immer den Anschein, als wollten sie die Welt vorwärts bewegen; aber sie sind schon sehr zufrieden, wenn sie nur selber vorwärts kommen. Und das geschieht. Vor der Taverne „zum schwarzen Kater“ hält eines Tages ein Chroniqueur auf der Stoffsuche. Das absonderliche Treiben lockt ihn an. Er betrachtet die ungeberdigen Leutchen in der Nähe, entdeckt an ihnen einen Zug von Originalität, und erzählt ihn weiter. Oder es gelingt Einem von der Gesellschaft, durch ein Pamphlet, wenn nicht gar durch ein tüchtiges Werk Aufmerksamkeit zu erregen. Sie geben übrigens auch ein fauchendes Witzblatt heraus, welches „le chat noir“ heißt und über die anerkannten Größen herfällt. Die Gaffer bleiben stehen. Der Zulauf beginnt. Die alten Zöpfe wackeln, und von den Perücken, die man klopft, fliegt der Staub auf. Der schwarze Kater fängt an, ein gefährliches Raubtier zu werden. Die er zerfleischt hat, leben zwar alle noch; aber sein Ansehen wächst dennoch bei den Ängstlichen. Die Bestie ist vielleicht kein Löwe; sicherlich ist sie aus dem Löwenstamm. Furcht macht Spalier. Im Handumdrehen ist in das Gewühl eine Gasse gelegt, durch welche grotesk erhobenen Hauptes der schwarze Kater schreitet ....

Die Ankunft! man langt eines Tages an. Das ist das triviale Ende der „Jungen“ und auch der Jugend. Die Leute vom „chat noir“ steigen den Abhang des Montmartre hinunter nach den üppigeren Bezirken der Stadt. Die Maler unter ihnen, Willette voran, richten sich Ateliers ein mit persischen Teppichen, alten Waffen und jungen Weibern. Die neurasthenischen Dichter der „Bewegung“ finden Verleger. Der Verschleiß ihrer schönen Gefühle und empörten Aufwallungen gestaltet sich einträglich. Man wäscht sich die Zigeunerschminke ab, schlüpft in den einst verachteten Frack, knüpft Verbindungen an, söhnt sich mit den vormals Geschmähten aus, lässt die ursprünglichen Forderungen fallen, paktiert, schließt Frieden, findet Alles viel rosiger, geht in die Gesellschaften, macht eine reiche Partie und lässt sich vorher die Haare scheren. Das Leben ist doch schön. Zur richtigen Auffassung der Dinge gelangt man erst, wenn man nicht mehr auf der Gasse steht. Ein Haus sieht sich eben von innen ganz anders an, als von außen! Um diese tiefe und überraschende Wahrheit zu erkennen, mussten die Stammgäste vom „schwarzen Kater“ erst das Thor in Trümmer stoßen und hineindringen.

Kaum sind sie drin, so beginnen sie auch schon, den Zugang zu verrammeln. Das ist nur recht und billig. Man muss sich in dem mühsam errungenen Besitze festigen. Sie greifen die „Alten“ nicht mehr an. Das geht ja nicht; man verkehrt mit diesen, trifft sie im Salon und auf dem Markt. Der Kater zieht die Krallen ein - nun hat er eine Sammetpfote. Die Zeit des Lobens ist gekommen. Die emporgekommenen Gründer der jungen Bewegung sagen einander alles Gute nach. Das ist eine ihrer merkwürdigsten Leistungen. Denn sie haben sich gegenseitig nie ausstehen können, und mit Recht. Jetzt werden sie nervös und reizbar, und sehr empfindlich gegen jeden Unabhängigem der sie nicht bedingungslos gelten lässt.

Die Männer vom „chat noir“ haben es sich eben bequem gemacht in den eroberten Quartieren - da wird vor dem wohlverschlossenen Tor ein plötzlicher Ruf laut: „Platz den Jungen!“ . . . Wie? Das muss ein Irrtum sein! Die Jungen haben ja schon Platz genommen. Es ist doch Alles zum Besten bestellt in der besten der Welten. Da kommt nun solche eine lärmende Cohorte, die in der Taverne „zum grünen Krokodil“ oder „zur rohen Gewalt“ ihre genialischen Zusammenkünfte abhält, und prahlt mit großen Worten. Das kennen wir . . .

Und wie die Alten sungen –
Also zwitschern die Jungen. . .


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.