Statisten.

Es gab eine Zeit, in der ich mich im Theater regelmäßig langweilte. Ich entfernte mich immer schon nach dem ersten oder zweiten Akt aus dem Hause. Nun ist das aber anders geworden. Ah. Ihr dürft nicht etwa glauben, daß in den letzten vierundzwanzig Stunden ein durchgreifender Umschwung zum Besseren auf unserer zeitgenössischen Bühne eingetreten sei. Nein, die vorgetragenen Leidenschaften sind nach wie vor plumpe Malerei auf Sackleinwand; die Personen sind aus Papiermache, und im allergünstigsten Falle sind lediglich die vorkommenden Möbel echt, naturgetreu. Wo ist er, der Dramatiker, der Wahre, Starke, der das Leben erfasst und unsere Seelen packt? Der so spricht, wie ihm und uns der Schnabel gewachsen, was eine ungewöhnlich wirksame Art zu reden ist; noch ist er nicht da. Aber er wird kommen. Ein Frühlingsbrausen wird sich vernehmen lassen; die Natur muss auch auf den Brettern, die jetzt alles Mögliche, nur nicht die Welt bedeuten erwachen. Es wird ein bitterer Tag sein für das Gesindel der Routiniers, Kompilatoren und Plagiatoren, wenn man einmal Wein auftischt, der aus wirklichen Trauben gewonnen ward - aus Trauben, die unter heißer Sonne im Freien reiften . . . Ich bitte tausendmal um Verzeihung: davon wollte ich eigentlich nicht reden.

Nein. Noch ist glücklicherweise Alles beim Alten. Der Backfisch plätschert immer noch im seichten Gewässer des Lustspieldialogs; der schüchterne Liebhaber; der Wüstling mit den edlen Regungen; der Vater, der nie vor dreiviertel zehn Uhr seine Einwilligung zur Heirat gibt: alle diese Figuren, die im Rothwälsch der Theater-Agenten „liebenswürdig“ genannt werden, sie existieren noch - vor dem Souffleurkasten. Und doch gehe ich jetzt nie vor Schluss weg, amüsiere mich sogar prächtig. Ich bin nicht engherzig, und will auch anderen Leuten das Mittel an die Hand geben, sich im Theater gut zu unterhalten. Vor Allem darf man der Handlung des Stückes, selbst wenn es eine solche hat, nicht folgen. Unaufmerksamkeit ist unerlässlich. Niemals darf man die im Vordergrund agierenden Personen betrachten. Wohl aber empfehle ich Euch, die Schauspieler, die unbeschäftigt aus dem zweiten Plan stehen und einander zuflüstern: „Der Buschmann spielt heute wieder einmal hundeschlecht!“ oder: „was diese Wimperg für eine affektierte Gans ist!“ Auch die kleine Choristin, welche dem Herrn in der ersten Sitzreihe Zeichen gibt, ist nicht zu verachten; wenigstens nicht vom rein menschlichen Standpunkte aus. Und dann die tausend unmerklichen kleinen Unglücksfälle, die in jeder Vorstellung sich ereignen; da, da steckt wirkliche Situationskomik, die selbst Denjenigen bezaubern muss, den das plötzliche Auftauchen einer Lustspiel-Schwiegermutter über den Ernst des Lebens nicht mehr hinwegzutäuschen vermag. Viel Wonne ist für mich enthalten in schlechtgeklebten Schauspielerbärten, die sich in der Hitze der Darstellung von schweißtriefenden Gesichtern lösen. Und wenn eine der begabten Künstlerinnen, die zu lebenslänglicher Naivität kontraktlich verpflichtet sind, ihre Rolle nicht auswendig weiß, so beseligt mich dies weit mehr, als wenn sie meine Neigung erwiderte.


Das alles aber verschwindet in meinen Augen bedeutungslos und glanzlos gegenüber der Komparserie. Ich kann es nicht heiß genug beklagen, daß man im gesprochenen Drama so unraisonnabel war. den Raisonneur an Stelle des Chores einzuführen. Vermögen die unglaublichsten Geistreichigkeiten des jüngeren Dumas mich für den Entgang dieser entzückenden Hampelmänner und Trampelweiber zu entschädigen, die vom Inspizienten zu Paaren auf die Bühne getrieben werden, um Vermählungen oder unerwarteten Todesfällen beizuwohnen, Freude und Bedauern, Furcht und Mitleid massenhaft auszudrücken? Ach, nur in der Oper und Operette finde ich sie noch, diese holden neapolitanischen Fischer und französischen Bäuerinnen, die auf ein Stichwort gleichzeitig, allzusammen die rechte Hand auf die linke Brustwarze legen und mit der linken Hand pathetisch zur letzten Galerie empordeuten, als wollten sie der Vermutung Ausdruck geben: die entführte Grafentochter könne sich nur da oben aufhalten. Ich will nun allerdings nicht leugnen, daß auch die Gesangschöre ein verdüstertes Gemüt aufheitern können; aber eigentlich sind sie nicht viel spaßiger, als irgend ein bürgerlicher Singverein, der zweihundertstimmig ein sanftes Liebeslied säuselt. Nicht diese Massengräber der Lyrik sind es, die ich verehre. Erst wenn ein Chor sich in Statisten auflöst, spricht er zu meinem Herzen.

Die Naturgeschichte des Statisten ist noch zu schreiben. An gelegentlichen Bemerkungen über ihn fehlt es ja nicht; einer oder der andere Humoristiker hat wohl schon hübsche kleine Züge des Bildes festgehalten. Der Typus - um mich gelehrt auszudrücken - scheint aber noch nicht fixiert zu sein. Und ich traue mir keineswegs die Kraft zu, dieses Werk zu vollbringen. Nur im Vorüberstreifen möchte ich mir anzudeuten erlauben, was den Statisten in meinen Augen charakterisiert. Nämlich: er nimmt seine Sache sehr ernst, und er selber ist nicht ernst zu nehmen. Nicht Jeder, der keine Rolle spielt, ist ein Statist. Noch lange nicht. In dieser akademischen Zeit, da man die Mimen wie Bakterien züchtet, darf behauptet werden: zum genialen Künstler wird man erzogen. Zum Statisten dagegen wird man geboren. Ich kann mir kein Konservatorium für Statisten denken, und doch, oder gerade darum tragen sie etwas wie einen Götterfunken in der Brust, diese Proletarier, diese ewig Enterbten der Kunst. Genie zu haben, ist heutigen Tags ein lukrativer Erwerbszweig. Was den Statisten in meinen Augen erhebt, ist, daß er keines hat. Er macht die überraschende Mitteilung, daß die Pferde gesattelt seien, mit pathetisch erhobener Stimme, wahrhaft ergriffen von der Größe des Augenblicks. Und wenn er zur Stummheit verurteilt ist, als „ein Herr“ oder „Hofkavalier“, so weiß er den Teppich der Dichtung mit farbenstrahlenden Blumen wunderbar zu durchweben. Er promeniert mit der gleichfalls namenlosen „Dame des Gefolges“ im zweiten Salon auf und ab, und die Beiden bewegen mit täuschender Naturwahrheit die Lippen, wie wenn sie wirklich etwas zu sagen hätten. Sie sind nämlich von dem anmutigen und törichten Glauben erfüllt, das ganze Stück ruhe auf ihren Schultern. Und sie meinen, daß unausgesetzt Aller Augen auf sie gerichtet seien, bis der Vorhang fällt.

Wie drollig, wie drollig! Der Vorhang fällt und kein Einziger im ganzen Hause hat diese krampfhaften Bemühungen bemerkt. Keiner! Weder die Dame dort auf dem Eckfauteuil, die sich so stark geschnürt hat, daß sie nicht sitzen kann; noch auch der Zwischenaktsjüngling, der jetzt in so gewählten Posen dasteht und Umschau hält im Zuschauerraum. Der Herr da drüben, den man seiner geliebten Kartenpartie entrissen hat, nur ihm Kunstgenuss einzuträufeln, bemerkt diese armen Statisten natürlich ebensowenig, wie die Anderen alle es taten. Die Anderen alle, die gekommen sind, weil man dagewesen sein muss. Kunstfreunde zu Gesprächszweigen. Ein dreibändiges Buch lesen, ist eine zu riskierte Sache. Wie, wenn beim Galasouper in befreundeten Häusern doch nicht von der Tagesliteratur geredet werden sollte? He, was dann? Das Theater hingegen, der Theaterklatsch, damit ist immer etwas zu machen. Und übrigens: wenn man auch nicht immer viel zu sehen kriegt, so wird man doch gesehen! Das aber, das ist die Hauptsache. Und darum hat sich die Dame auf jenem Eckfauteuil so stark geschnürt, daß sie nicht sitzen kann. Darum steht der Zwischenaktsjüngling mit so gewählten Posen da. Darum ist es gelungen, den Herrn da drüben seiner geliebten Tarokpartie zu entreißen. Darum sind überhaupt die Meisten da.

Denn jeder Einzelne meint, daß Aller Augen unausgesetzt auf ihn gerichtet seien, bis der Vorhang wieder aufgeht und die Statisten jenseits der Prosceniumslampen ihre erfolglosen Mätzchen von Neuem beginnen. Ach, hüben wie drüben das Gleiche! Statisten da, Statisten dort . . . Im Theater nur? O nein. Auf den Promenaden und im Ballsaal und im Reichstag und in den Volksversammlungen und namentlich, namentlich im Salon - überall könnt Ihr sie entdecken, die urkomischen Komparsen des Lebens. Jeder durchdrungen von der unermesslichen Wichtigkeit seines Thuns und Lassens. Jeder erfüllt von dem anmutigen und törichten Glauben, auf seinen Schultern ruhe die ganze Komödie der Welt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.