Ras Alulah.

Das Gespräch, welches man nun lesen wird, wenn man sehr unvorsichtig ist, ward in einem mit dem feinsten Tapeziergeschmack möblierten Salon geführt. Ein Herr und eine Dame. Brauche ich erst noch zu sagen, daß sie am Kamin saßen? Wenn es durchaus nötig ist, so sage ich es hiermit. Die interessante Witwe (ich müsste mich verachten, wenn sie nicht interessant, sondern verheiratet und Mutter von sechs Kindern wäre) starrte voll herkömmlicher Elegie in die Glut. Sie befand sich in dem Alter, wo die Frauen anfangen, geistreich zu werden. Dagegen war der Cognac, den sie führte, wirklich von Martell. Darum liebte er es, mit ihr zu plaudern. Er war von Beruf Gast. Nur um die Weihnachtszeit herum mied er die Gesellschaft; teils, weil er die Wehmut der Einsamkeit künstlerisch genießen wollte, und teils, um die Geschenke zu ersparen. Der Dienerschaft gab er niemals Trinkgeld. Die hohe Stirn schmückte ihm eine schwärmerische Locke von sorgfältiger Ungezwungenheit. Wenn er eingeladen war, ließ er sich rasieren, also täglich. Er sprach manchmal nicht ohne Geist, aber immer durch die Nase. Kurz: ein reizender Mensch .... Hört, hört! . . .

Sie: So schweigsam, mein Freund?
Er: Ich denke nach.
Sie: Übertreiben Sie nicht! . . Und worüber, wenn man fragen darf?
Er: Man darf . . . Sie wissen, ich gehöre zu Jenen, die man meistens Bongvivangs nennt. Und wenn ich mit Ihnen, meine Gnädige, beisammen bin, was leider viel zu selten geschieht, für meine Wünsche . . .
Sie: Schäker!
Er: So wird es mir schwer, nicht „über Bildung“ zu reden. Obwohl ich das Bezigue oder die Liebe vorziehe.
Sie: Fahren Sie fort!
Er: Ich frage absichtlieb nicht: „Wohin?“
Sie: Sie überraschen mich. Das wäre eine muntere Dialogwendung gewesen. Besuchen Sie denn nie das Theater?
Er: Nein. Alles, was ich weiß, ist, daß die Meininger jetzt im Viktoriatheater spielen und daß die Jungfrau von Orleans ungeachtet ihrer herzoglichen Ausstattung noch immer keinen Gatten findet . . . Was ist Ihnen?
Sie: Oh nichts - eine Ohnmachtsanwandlung! . . Machen Sie nie mehr einen solchen Witz, ich beschwöre Sie!
Er: Sie verhöhnen mich grausam, meine Gnädige. Aber reizen Sie mich nicht, denn ich schrecke sonst vor dem Äußersten nicht zurück und mache Ihnen eine Liebeserklärung.
Sie: Ich bin ganz beruhigt.
Er: O, man kann das nie vorher sagen.
Sie: Mit der Erklärung allein sind Sie noch nicht weit. Denn ich halte Sie nicht für unwiderstehlich.
Er: Das werden Sie bereuen . . . Ich rechne übrigens nicht aus meine persönlichen Vorzüge, sondern . . .
Sie: Sondern?
Er: Auf den Zufall, auf das unvorhergesehene Ereignis, mit einem Wort: auf Ras Alulah!
Sie: Ras Alulah? Den abyssinischen General?
Er: Ganz richtig.
Sie: Auf den rechnen Sie? Kennen Sie ihn denn?
Er: Hab ihn nie gesehen; wusste noch vor acht Tagen nichts von seiner Existenz. Aber er ist die beste Verkörperung dessen, was ich meine . . . Die Welt ist ruhig. Wenn nicht die offiziösen Blätter mit einem europäischen Kriege drohten, wüsste man gar nicht, daß die Reichstagswahlen bevorstehen. Man ist sich ziemlich klar über die allgemeine Lage. Die Mächte sind so und so gruppiert. Plötzlich steht Ras Alulah auf. Italien wird nach Afrika abgelenkt. Die weiteren Konsequenzen sind unabsehbar. Oder auch nicht? Das schlägt in die hohe Politik . . . und täglich, stündlich, da, dort, überall kann sich irgend ein Ras Alulah erheben, der den Dingen eine jähe Wendung gibt. Für mich ist Ras Alulah eine allegorische Figur. Er stellt das unerwartete, das Ereignis dar. Ras Alulah ist die jüngste diplomatische Note, und Ras Alulah ist der neueste Damenhut. Ras Alulah bedeutet den Tod der Börsenjobber und das Leben der Journalisten. Er taucht auf und verschwindet.
Er tritt aus dem Dunkel in den Dünkel, wie jeder Parvenu. Gestern war er noch unbekannt. und morgen ist er schon vergessen. Wir kennen seine hastige Vergänglichkeit, und doch wartet Jeder von uns auf seinen Ras Alulah: die Jungfer auf den Gatten, der Dichter auf den Erfolg und die Konservativen aus den Wahlsieg, obgleich der Tag jetzt wieder im Zunehmen begriffen ist.
Sie: was Sie da sagten, mein Freund, war beinahe geistreich. Ihr „Ras Alulah“ klingt fast so dunkel und interessant, wie eine „These“ von Dumas Sohn.
Er: Ich leugne es nicht. Mag aber auch nur die Hälfte richtig sein, das Ganze blendet doch.
Sie: Es fehlt mir nur noch die Anwendung auf uns.
Er: Ich sagte, daß ich meine Hoffnungen auf Ras Alulah setze. Nehmen wir an, Sie hätten schon Appetit zum Nachtmahl . . .
Sie: Und Sie?
Er: Bei mir dürfen Sie das immer voraussetzen. Nehmen wir also an, Sie sagten: „Genug geplaudert! Zu Tisch!“ und wir äßen und tränken ausgibig. Beim Champagner wären Sie minder streng, als jetzt. Und so wäre unser Ras Alulah . . .
Sie: Der Champagner.
Er: Nein die Liebe!
Sie: Genug geplaudert! Zu Tisch! . . .
. . . Hier endet das Gespräch, meine viel geliebten Freunde. Ich bitte Euch ergebenst, nicht etwa zu glauben, dass ich mich über das elegante Proverbelustspiel mit altdeutschen Möbeln lustig machen wollte. Ich hatte wirklich nur die Absicht, einer jener schillernden und hohlen Seifenblasen nachzujagen, welche täglich entstehen und vergehen. Ihr Name ist Schall und Rauch. Nennen wir sie meinetwegen Ras Alulah.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.