Götter zweiten Ranges.

Am leichtesten ertragen wir diejenigen Ungerechtigkeiten des Lebens, die Anderen widerfahren!

Wie schön und wahr ist dieses Aphorisma, das ich soeben scheinbar mühelos niedergeschrieben - es ist von mir. Gefunden habe ich es im Straßenschmutz, „in der Fußspur eines Pferdes“, wo man dergleichen Wertvolles sonst nicht findet, wie die Franzosen sagen. Dieses Pferd, ein mageres, war vor ein Wägelchen gespannt. Auf dem Wägelchen befanden sich einige Kisten und Koffer, einige Bündel und Ballen, einige leinwandüberzogene Latten und Stangen. Neben dem Wägelchen, im aufgeweichten Boden, schritten regentriefend einige Herren, die sich gewiss erst vor acht Tagen die Schnurrbärte hatten rasieren lassen. Ich will es lieber gleich sagen: Schauspieler! Hinter dem Wägelchen drei Liebhaber der Landstraße, wo sie am tiefsten ist: zwei Gassenjungen und ich. So zogen wir in feierlichem Gepränge durch die lange Zeile der Ortschaft. Ich wandelte als erster Leidtragender hinter dem Sarge - was sage ich? - hinter der Wiege der Schauspielkunst dieses Ortes. Die Regentropfen rannen mir wie Tränen in den Bart, und ich gab mich gleich dem erstbesten Helden eines in Fortsetzungen erscheinenden Familienblatt-Romans trüben Reflexionen hin. (Reflexionen sind in der Regel trüb, selbst wenn sie mit fünfzehn Mark per Spalte honoriert werden.)


„Am leichtesten ertragen wir diejenigen . . .“

Die im Übrigen götterlose, gottlose moderne Zeit beugt sich noch vor einem Erhabenen: vor der Kunst. Man braucht nur einmal ins Theater zu gehen, wenn eine schöne Balletttänzerin auftritt, um dies für immer zu wissen. Ungerechtigkeiten des Lebens! Vor mir klatschten in zerrissenen Stiefeln durch die Nässe des Weges ein paar unzweifelhafte Götter, wenn auch zweiten Ranges, von denen gewiss Jeder das Zeug in sich hatte, in der darstellenden Kunst jene Vollendung zu erreichen, die zu lebenslänglichem Engagement an einer Hofbühne führt. Was fehlte ihnen? Ein bisschen Förderung, ein bisschen Glück und Sonnenschein. Die Erfolglosigkeit macht unsicher, und es gibt Leute, die, nachdem sie Anerkennung gefunden. Talent zeigen, wenn auch noch so wenig. In der Wärme taut man auf, wie die neuesten Forschungen der Gelehrten festgestellt haben. Die Fähigkeiten erwachen dann aus ihrem Schlaf, die Saaten schießen in die Halme, und Götter zweiten Ranges schwingen sich plötzlich in die erste Reihe. So sind wir Alle. In der trostlosen Nässe des Weges aber erwerben wir leicht einen chronischen Schnupfen. Als meine Gedanken bis zu dieser Tiefe vorgedrungen waren, nieste ich unwillkürlich. Viele sind der Ansicht, daß eine solche Äußerung der Schleimhäute eine Bestätigung enthalte.

Unterdessen - wie gewandte Erzähler sagen - waren wir vor dem Wirtshause angelangt, in dessen Hofraum das Theater sich erhebt. Letzteres ist ein im Barackstyle gehaltener Bau. Vier Holzwände, darüber ein Dach; das genügt. Ohne erst zu fragen, begann ich mich am Abladen der Gepäcksstücke zu beteiligen. Da rief mir einer der Künstler, ein Mann von ehemaliger Korpulenz und gebieterischem Aussehen, zu:

„Sie, ich zahle dafür nichts!“

„Herr Direktor,“ war meine Antwort; „ich bin, so sehr der Schein auch gegen mich sprechen mag, ein Kunstfreund!“

,,So?“ sagte er gedehnt. Seine Zurückhaltung bewies, daß er wirklich der Theater-Direktor war. Ich kenne das aus meiner dramatischen Dichterzeit. Ich hielt es für geboten, sein Misstrauen gänzlich zu zerstreuen: „Kann ich vielleicht noch einen Sperrsitz in der vordersten Bank bekommen, Herr Direktor?“ und dabei griff ich mit einer Geste, die nicht ohne Großartigkeit war, in meine Westentasche.
„Der Sitz kostet fünfzig Kreuzer,“ meinte der Chef der Truppe, noch immer zögernd, indem er mich mit einem meine Zahlungsfähigkeit sorgfältig prüfenden Blicke vom Kopfe bis zu den Füßen maß.

Erst nachdem er mir auf einen Gulden - unter Hinweis aus die Seltenheit der Scheidemünze - siebenunddreißig Kreuzer herausgegeben hatte, waren wir Freunde. Nun aber auch fürs Leben. Ich glaube jedoch, daß ich dies weniger dem schnöden Gelde, als meinem bei aller Bescheidenheit festen Auftreten zu danken hatte. Nicht umsonst habe ich mit den Großen dieser Erde verkehrt. Ich bin einst aufrecht vor einem Regisseur des Wiener Burgtheaters gestanden, habe ein anderes Mal dem ersten Liebhaber während eines ganzen Nachmittags beim Dominospiel zugeschaut, allerdings ohne dareinzureden.

Diesmal durfte ich aktiv teilnehmen an der Arbeit der Musenpriester. An den kleineren Tempeln ist die hierarchische Abgrenzung der Funktionen nicht so schroff, wie an den großen. Mancher schiebt selber die Coulissen, die er später in der edlen Wallung des Spieles niederreißt. Die Friseuse schminkt auch die Coulissen. Der Direktor ist hier immer zu sprechen, und, zuweilen lässt er sogar mit sich reden. - wir plagten uns rechtschaffen; zimmerten, hobelten, kleisterten, malten, zogen Schrauben aus, schlugen Nägel ein, sägten, hämmerten und erzählten einander unsere Lebensgeschichten im Schweiße unserer Angesichter. Der Naturbursche, Herr Baum, schwor immer wieder, das sei „eine verflixte Arbeit,“ und regelmäßig erwiderte ihm der „Bongvivang,“ Herr Busch, die Worte aus „Weh’ dem, der lügt“: „Das Fehrdehöten öst eun adölich Geschöft!“

Ich fühlte, wie richtig dies war; am meisten, als die Damen der Gesellschaft anlangten. Keine von ihnen, die da in nassen Mänteln, nassen Plaids, nassen Kleidern, nassen Jacken, nassen Hüten, wie eine allegorische Darstellung der Regenwolken hereintraten - keine von ihnen verachtete mich, weil ich wie ein Handwerker schaffte. Das Pferdehüten ist ein adelig Geschäft, Herr Busch hatte Recht. Geschieht es doch für einen hohen Zweck, den wir Alle lieben: Für die Kunst! Idealer Sinn, hier ist dein letzter Zufluchtsort: bei den verkannten, vom Erfolg ewig Verbannten, bei den Göttern zweiten Ranges! So dachte ich, und meine Hacke sauste, meine Säge raste durch das Holz. Meine tätige Begeisterung erzwang mir endlich die allgemeine Hochachtung. Die Herren legten das Werkzeug weg, die Damen gruppierten sich anmutig, und Alles sah mir zu. Der Direktor gab mir seine Anweisungen in immer zufriedenerem Tone, was mich zu ungeahnten Anstrengungen aufstachelte. Ich leistete Hervorragendes; darüber waren sämmtliche Herren, denen ich meine Zigarrentasche zur Verfügung gestellt hatte, einig. Herr Busch sagte jedes Mal, bevor er sich eine meiner Trabuccos anbrannte, wohlwollend: „Nurr so weuter! Das Fehrdehöten öst eun adölich Geschöft, Herrr!“ Das R rollte noch lange in den Bergwänden der Umgebung nach. Dann setzte er sich wieder gemächlich hin. Ich glaube, man ging einen Augenblick lang mit der Absicht um, mich zu engagieren; aber die Erwägung, daß ich als zahlender Zuschauer dem Theater doch noch weit größere Dienste leisten könne, scheint schließlich die Oberhand gewonnen zu haben. So viel steht fest: ich war ein Faktor geworden, mit dem man an dieser Bühne rechnete. Möge es mir nicht als eitle Prahlerei ausgelegt werden, wenn ich hier mitteile, daß die erste Liebhaberin, Fräulein Wimperg, auch schon ein Auge auf mich geworfen hatte, und zwar das linke, denn sie schielt nicht unbeträchtlich.

Ich war am Abend dieses Tages zu müde, um von meinem selbstgezimmerten Sitz in der ersten Bank den Vorgängen auf der Bühne mit Aufmerksamkeit folgen zu können. Die undeutliche Aussprache meiner Arbeitgeber machte es mir zudem schwer genug, den Dialog auch nur stellenweise zu verstehen. Wenn ich dem Theaterzettel Glauben schenken darf, gab man den „letzten Brief“ von Dumas. (Ich weiß ganz gut, daß „Der letzte Brief“ nicht von Dumas, sondern von Feuillet, dem Erfinder des gleichnamigen Feuilletons ist, aber so stand es auf dem Zettel.) Über diese Vorstellung, wie über die anderen, denen ich in meinem - so darf ich wohl sagen - Theater beiwohnte, werde ich nur auf allgemeines Verlangen referieren. Mein Urteil wird freilich kein unbefangenes sein, denn ich war mit diesem Hause eine gewisse Zeit hindurch zu sehr verwachsen. Und ehe Andere dies denunzieren, will ich selbst der Öffentlichkeit bekannt geben, daß Fräulein Wimperg, so oft sie auf der Szene war, das eine oder das andere ihrer Augen auf mir ruhen ließ. Das verwirrt. Ja, wenn ihre vertretenen weißen Atlasschuhe weniger braun gewesen wären, so hätte mich ihre Koketterie vielleicht sogar beseligt.

Vielleicht, in der ersten Zeit wenigstens. Denn nachher, allmälig, gewöhnte ich mich an den Glanz dieser Götter zweiten Ranges. So merkwürdig es erscheinen mag, wahr ist, daß nicht nur die Großen, sondern auch die Kleinen bei näherer Bekanntschaft verlieren. Eine Desillusion mehr, meine Freunde! Nicht jeder unbekannte Dichter ist ein Genie; nicht Jeder, der gegen Windmühlen kämpft, ein Don Quixote; nicht jeder herumreisende Komödiant zweiter Güte ist ein so reiner Idealist, wie ich am Anfang dieser Betrachtung in jugendlicher Überschwänglichkeit geglaubt hatte. Ich habe bei „meinem“ Theater Erfahrungen der betrübendsten Art gemacht. Einer trachtet dem Andern nach der Rolle, nach dem Brod, man kann sagen: nach dem Leben. Man freut sich, wenn der Kollege ausgezischt wird; missgönnt ihm den Applaus. Neid. gegenseitige Verachtung, schmutzige Kabale und unreine Liebe wuchern unter ihnen, wie wenn sie lauter berühmte Künstler wären. Fräulein Schwepple hat mir im tiefstem Misstrauen mitgeteilt, daß Fräulein Wimperg nur darum die guten Rollen bekomme, weil sie mit dem Direktor ein Verhältnis habe. Aus angeborener Schamhaftigkeit verschweige ich, was mir Fräulein Wimperg wieder von Fräulein Schwepple erzählte. Von Herrn Busch erfuhr ich, daß nur Arbeitsscheu den Herrn Baum zum Künstler gemacht. Und dieser Naturbursche schilderte mir das vorleben des Bongvivangs in so düsteren Farben, daß ich Herrn Busch von da ab keine Trabucco mehr verabreichte.

Ich kam nach und nach zu dem Entschlusse, kein Billet mehr, wohl aber meine Beziehungen zu lösen. Ein Vorfall der jüngsten Tage hat die Entscheidung herbeigeführt. Herr Baum nämlich, mit dem ich in wahrhaft aufopfernder Weise verkehrte - ich spielte z. B. täglich Billard mit ihm, obgleich er mir darin bei weitem überlegen war - Herr Baum hatte sein Benefice. War ihm die Einnahme von siebzehn Gulden oder der Beifall in den Kopf gestiegen - genug, am nächsten Tage erwiderte er meinen Gruß in einer so verletzend hochmütigen Unmanier, daß ich geradezu sprachlos blieb. Später ging er Arm in Arm mit dem „Bongvivang,“ Herrn Busch, an mir vorüber, und Beide fixierten mich höhnisch. Ah, Ihr Götter zweiten Ranges, jetzt erkenne ich Euch! Ein bisschen Förderung, ein bisschen Glück und Sonnenschein, und das Unkraut schießt in die Höhe: Dünkel, Hoffart, Übermut, Undankbarkeit!

Denn so sind wir Alle.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.