Die Schule der Liebe.

Jahraus, jahrein lesen wir von ihr und wenn wir den belletristischen Verschleißern menschlicher Vorkommnisse glauben dürfen, dreht sich Alles in der Welt um die liebe Liebe. Ich weiß nicht, macht es der eisige Wintertag, der mit fahlem Gesicht zu meinen Fenstern herein starrt, oder liegt die Schuld an dem albernen Maskenball von gestern, der mich eine wunderbare Nacht voll traumlosen Schlafes gekostet hat - ich habe heute katzenjämmerliche Gedanken über die Liebe.

Ich glaube einfach, das Ganze sei ein angenehmes Märchen für große Kinder, die an jene anderen rosenroten Lügen nicht mehr glauben können oder wollen. wenn ich um mich blicke in dieser von Vernunft verpesteten Welt, in der auf hundert Konvenienzheiraten blos ein Selbstmord aus Liebe kommt - und in Zeiten, wo die Erwerbsverhältnisse günstiger sind, vielleicht nur ein Selbstmordversuch auf hundert von Heiratsvermittlern angezettelte Verlobungen - wenn ich um mich blicke, meine teueren Freunde, so wandelt mich ein bösartiger Zweifel an.


In den Jünglingsjahren, die wir übereingekommen sind, die glücklichste Zeit unseres Lebens zu nennen, pflegt es sich freilich zu ereignen, daß wir ein dem anderen Geschlecht angehöriges Wesen anzubeten beschließen. Aber man hat so wenig ernste Dinge zu besorgen in jenen Jahrgängen, daß die sogenannte erste Liebe vielleicht lediglich dem Mangel an Taschengeld oder einer unüberwindlichen Abneigung gegen das Billardbrett ihr Dasein verdankt. Für diese Auffassung spricht die Tatsache, daß junge Leute, welche erwerben müssen sich die zärtlichen Gefühle meistens für ihre sorgenfreieren Jahre aufheben. Die Anderen, denen beispielsweise das Universitätsstudium volle Muße zu allerlei Nebenbeschäftigungen gönnt, widmen sich fast immer der Liebe, wenn sie den Skat nicht vorziehen. In den gebildeten Ständen ist eine unglückliche Liebe für den Anfang beinahe de rigueur. Woraus sie sich zusammensetzt? Aus gedankenlosen Stunden aus hastig zusammengelesenen Romanen, aus der Nachbarschaft irgend eines halbwegs geeigneten Gegenstandes. Zeitvertreib. Der süßliche Poet sagt: „Sie kommt, und sie ist da.“ Nicht wahr! Man zieht sie bei den Haaren herbei, und sie ist da. Man redet sich sie ein. Es ist so hübsch, was man von den Romanhelden gelesen hat, daß man sich aus purer Großmannssucht und kindischer Eitelkeit ebenfalls zu den „hohen“ Gefühlen emporschraubt. So ist sie sehr häufig, die berühmte unglückliche Liebe. Ihr dürft aber nicht meinen, daß ich mich über diese Liebe ohne Gegenliebe lustig machen wolle; denn sie ist die einzige, an die ich wirklich glaube. Sie ist so edel, so entzückend töricht, so selbstlos, so rein, und sie dauert so lange - bis man sich eines Besseren besinnt.
Das Schönste aber an der unglücklichen Liebe ist, daß sie Jedem zu Teil werden kann, man braucht sich nur einen unerreichbaren Gegenstand auszusuchen. Ganz anders freilich verhält es sich mit der nicht verstümmelten Liebe, mit dem großen Akkord von zwei atmenden Wesen; wo es sich nicht um sentimentalische Duseleien, nicht um blutlose Einbildungen handelt. Die stark ist und süß zugleich. Die in der Erde wurzelt und an den Himmel reicht. Die Einen zu Heldentaten, Verbrechen, Meisterwerken und Erbärmlichkeiten entstammen kann. Verzeihet mir dies abenteuerliche Pathos, aber ich spreche ja von einer fabelhaften Erscheinung. In unserer wohlpolizirten jetzigen Welt, auf unseren gepflasterten Straßen, in den parkettierten Salons ist die bloßfüßige Zigeunerin Liebe schwerlich zu finden. Wer behauptet, sie gesichert, umfangen zu haben, oder von ihr umfangen worden zu sein, der lügt aller Wahrscheinlichkeit nach. Belügt sich selbst oder die Andern.

Wenn es hoch kommt, genießen wir Surrogate: Cichorie statt des Kaffees, und Margarin das Butterstelle vertritt. Das Wohlfeile soll das Unbezahlbare ersetzen. Ihr kennt den Künstlerspaß, der aus Packpapier, alten Stiefeln, Regenschirmen, Würstchen, Schwämmen den Märchenleib einer Sphinx parodistisch herstellt. Gschnas nennen wir dergleichen. Vielleicht birgt sich eine feine Pointe von Wehmut hinter diesem lautlachenden Übermut? Viel Gschnas ist im Leben zu findend viel mehr, als wir uns eingestehen möchten, meine Freunde, wenn Don Quixote die Wirtshausmagd zur Edeldame seines Herzens erhebt, so tut er eigentlich nichts Anderes, als wir Alle. Das ist der Gschnas in der Liebe. Das wohlfeile Abenteuer auf dem Trottoir soll oder muss uns die holden Begegnungen ersetzen, von denen uns die Novellisten des Mittelalters so wunderschöne Geschichten erzählen. Ich bin nämlich sehr geneigt, jenen verschollenen Meistern aufs Wort zu glauben, daß dazumal die blaue Blume der Romantik auch im Leben berauschend blühte. Und ich denke dabei an eine alt-italienische Novelle: „Die Schule der Liebe“ die von einem köstlichen Hauche warmer und zärtlicher Leidenschaft durchweht ist. Möglich, daß auch jene Fabulisten von dem unveräußerlichen Poetenrecht zu lügen, Gebrauch machten, und daß es die Dinge, die sie beschrieben, nie gegeben hat. Möglich, daß auch damals Selbstsucht, niedrige Berechnung und eine Anzahl anderer schmutziger Regungen mittönten, wenn der große Akkord der Liebe angeschlagen wurde. Ich kann es nicht wissen.

Wohl aber weiß ich, dass jene rosige Sinnlichkeit, die so von der Sonne durchglüht war, nicht mehr vorhanden ist. Die Spekulation – philosophische, streberische und geschäftliche - hat unsere besten Säfte verdorben, unser Blut vergiftet, unser Herz verdorren gemacht. Und selbst wenn wir die Fähigkeit, zu lieben noch hätten - haben wir die Zeit dazu? Von der legitimen Liebe, die in der Zwangsjacke der Vernunftehe steckt, wollen wir ja nicht reden, sondern nur von jener ungebundenen, wilden und milden, die im Freien, in der Freiheit wohnt. Wenn uns jemals, zwischen zwei Geschäften, die Lust anwandelt, sie zu suchen, so gehen wir kläglich auf die Gasse und finden ihr Zerrbild - in der Gosse.

Oder, lüstern nach dem Unbekannten, begeben wir uns auf einen Maskenball. Haha, auch ein Zerrbild. Es ist erstaunlich, wie geschickt wir sind, die feinsten Dinge zu vergröbern, zu vergemeinern. Aus dem Tummelplatz zierlicher Intriguen ist eine Markthalle geworden, in der die gewöhnlichsten Katzen dadurch wertvoller gemacht werden sollen, daß man sie nur im Sacke kaufen kann. Und bei dem lauten Schall der Karnevalsmusik geben wir uns alle erdenkliche Mühe, uns selber weis zu machen, daß hinter der trivialen Larve da an unserer Seite sich nicht das noch viel trivialere Antlitz einer Berufsschönheit verberge. Die Gesichtsmaske, Hilfsmittel des liebenswürdigen Geheimnisses, ist zum Hilfsmittel weiblicher Öffentlichkeit erniedrigt. Duft und Glanz zu suchen zieht irgend ein verschwärmter Narr aus auf die Abenteuer und kehrt heim mit beseligenden Jagdtrophäen, die er - beim Wildprethändler eingekauft hat.
Ich erzähle Euch da nichts Neues zugegeben, zugegeben. Den Gschnas auf dem Maskenball kennt Ihr so gut wie ich: wisst auch daß die „Liebe“ an solchen Orten von der wirklichen - nämlich von der geträumten! - so verschieden ist, wie das Albakostüm aus der Leihanstalt von jenem, das der schlimme Herzog tatsächlich getragen. Wir werden von den interessantesten Masken lediglich darum angesprochen, weil diese aus der brillantenumsäumten Perle auf unserem Plastron folgern, daß ein getrüffelter Kapaun und zwei Flaschen Pommery uns nicht in die Flut zu jagen vermöchten. Tut nichts; die uneigennützige Zuneigung suchen wir ja nur in der Gesellschaft, in der „guten“. Da, jawohl, da kommt es vor, daß Jemand geliebt wird. nicht wegen seines Reichtums, seiner Stellung, seines Namens, oder aus ähnlichen äußerlichen Gründen; sondern weil er ein braver, gefühlvoller, verständiger Mensch ist.

Hahaha - und ich könnte mit Leichtigkeit noch ein paar Zeilen mit diesen Lachsilben ausfüllen, denn ich habe noch nie so gelacht. Dummköpfe reden sich selber ein, und Prahlhänse Anderen, dass sie die reine Liebe genossen hätten. Die reine Liebe - nicht zu verwechseln mit der platonischen - ist nämlich diejenige welche ganz frei ist von Eitelkeit, Selbstsucht, Rücksichten auf die Welt, frei von allen engherzigen, kleinen, niederen Nebenmotiven . . . Gibt es eine solche? Ich fühle meinen Lachkrampf wieder nahen. Und eine drollige, aber wahre Begebenheit fällt mir ein. Die reizende Frau eines liebenswürdigen Mannes betrog ihn mit einem siechen, verarmten, hässlichen, alten Legationsrat außer Dienst. Dieser beglückte Greis dürfte doch an reine Liebe glauben? Auch nicht. Sie brauchte einen Aufputz für ihren Salon, einen Herrn mit glaubwürdigen Ordenszeichen im Knopfloch. Anders war er nicht zu haben.

Ich übertreibe nicht; ich gebe mir vielmehr Mühe, die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit zu sagen. Die Leute, welche über die Liebe reden oder schreiben, kümmern sich - wie mir scheint - nur selten um diese Wahrheit, die gar nicht „liebenswürdig“ ist . . Wenn Ihr mich aber fragt, wie ich mich in der Praxis zu der Sache stelle, über die ich in den vorstehenden Zeilen so wenig Illusionen hatte, so muss ich Euch ein beschämendes und reumütiges Geständnis machen. Ich - ich gehe immer auf den Leim, wie jeder andere Gimpel. Alte Kokette oder halbwüchsiger Backfisch - mich kriegt Jede herum. Sie braucht es nicht einmal sonderlich fein anzufangen. Ich bin dem Domino von gestern (von dem ich Euch kein Wort erzähle) ebenso blindlings in das plumpe Netz gegangen, wie ich dies heute und morgen und allezeit tun werde, töricht, rettungslos. Und findet Ihr den Widerspruch zu grell, und lacht Ihr über meine alberne Klugheit, so will ich Euch ein Wort ins Gedächtnis rufen, das einst eine geistreiche Frau gesagt. Ein Wort, in welchem man eine Seele zittern fühlt, die vom Zweifel gepeinigt war und nach dem Glauben sich sehnte: ,,So oft ich liebe, schlägt mein Herz, und ich bin so glücklich, wenn mein Herz schlägt.“

Die so gesprochen, warum habe ich sie nicht gekannt? Ich würde sie geliebt haben . . . Hm, vorausgesetzt, daß sie keine Warze auf der Nase hatte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.