Bühnenkenntnis.

In meiner Jugend . . . Ich fühle, daß ich weich werde. Einen Augenblick, meine Herrschaften, ich muss mir die Tränen abwischen. Bitterkeit liegt in dem Gedanken, daß wir einmal jung waren - denn auch dieses eine Mal ist viel zu viel. Die Nachtigall duftet berauschend, die Fliederzweige schlagen, wenn sie in die geeignete Hand kommen, und mit unseren kostbarsten Gefühlen umhüllen wir eine Ladenmamsell, eine geringfügige Schauspielerin, oder sonst ein höheres Wesen zweiter Güte. Wenn wir sie zum ersten Mal am Arme des begünstigten Dragoners vorüberwandeln sehen, bricht uns zum ersten Mal das Herz. (Es fiele mir leicht, aus diesem noch fast ganz neuen Stoff eine längere Novelle anzufertigen, in welcher die Melancholie in Strömen flösse; aber ich bin und bleibe ein Verschwender.) Wir erfinden in dieser Zeit, die man übereingekommen ist eine goldene zu nennen, die fabelhaftesten Dingen zum Beispiel: den Frühling, die Liebe, die Begeisterung, die Freundschaft.

In meiner Jugend habe also auch ich bei den Illusionen gegen schlechte Bezahlung die Schweine gehütet . . . Eines schönem Tages - “schönen“ sage ich blos mechanisch - erwachte mir in der Jünglingsbrust die Gier nach Tantièmen, oder, wie wir uns milder ausdrücken: die Vocation zum dramatischen Dichter. Ausgerüstet mit der erforderlichen Unkenntnis des Lebens, habe ich denn auch eine größere Anzahl theatralischer Werke verfasst, über die ich aus begreiflicher Eitelkeit schweigen will. Erwähnt sei nur, daß ich so viele Backfische, schneidige Lieutenants, zerstreute Professoren, schüchterne Liebhaber, spät aber doch in die Heirat willigende Väter, junge Witwen, Schwiegermütter, Personen, die durch die Wiederholung einer bestimmten Redensart unendlich komisch wirken und andere glückliche Figuren schuf, daß man mit denselben ein Mädchenpensionat, ein Armeekorps, drei Universitäten, einen Kegelklub, zwölf Skattische, sechsundzwanzig Boudoirs, fünf Kaffeegesellschaften und ein ausgedehntes Irrenhaus verschwenderisch hätte ausstatten können. Dennoch fand ich bei den Theaterleitern keine Gegenliebe. Oft und oft bin ich die Treppe vom Herrn Direktor heruntergekommen, ein abgelehntes Röllchen unter dem Arm, und ich wusste lange nicht, warum die Röllchen immer so pünktlich abgelehnt wurden, da ja ihre Gedankenlosigkeit sie nur bestens empfehlen konnte. Doch einmal erbarmte sich meiner ein Menschenfreund, dem unter galonniertem Rock das Herz für Trinkgelder und verfolgte Unschuld schlug: der Theaterportier. Er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und sagte:


„Junger Mann, Sie haben Talent! Es fehlt ihnen nur die Bühnenkenntnis.“

Ich warf mich an die Brust des trefflichen Mannes, wobei ich mir an dem Silberbeschlag seines Bandeliers eine schwere Verletzung holte und schluchzte dankbar:

„Sie haben meine Stücke gelesen?“

„Nein,“ sagte er mit Entschiedenheit, und fügte hinzu: „Ich kann mich darin irren, wenn ich behaupte, daß Sie Talent haben. Das Andere ist jedenfalls richtig: es fehlt Ihnen an Bühnenkenntnis.“

„Ich bitte Sie, Herr Portier, was versteht man denn unter Bühnenkenntnis?.. rief ich jammernd.

Er holte tief Atem. Einen Augenblick schien es, als wollte er mich zur Türe hinaus weisen, um Ruhe zu haben. Dann entschloss er sich doch, mir eine Aufklärung zu Teil werden zu lassen. Sie war in jeder Hinsicht erschöpfend:

„Bühnenkenntnis ist, wenn man die Bühne kennt...

An dem Tage kamen wir nicht weiter. Ich dankte ihm warm dafür, daß er mir die Augen geöffnet, und ging. Ich kam wieder. Durch viele Jahre verband mich mit diesem Braven eine Freundschaft, die ihn nicht selten berauschte. Der Umgang mit bedeutenden Menschen wirkt immer befruchtend - kein Herausgeber von ,,Briefwechseln“ wird dies in Abrede stellen. So verdanke denn auch ich meinem Portier köstliche Anregungen. Er machte lauter triviale Bemerkungen, wie wenn er ein gefeierter Theaterkritiker gewesen wäre. Darin suche ich es ihm noch heute gleichzutun, wiewohl mich ihm mein späterer Hochmut entfremdete. Die nachfolgenden Aphorismen werden darthun, daß ich mir wirklich an seiner Seite Bühnenkenntnis erwarb. Diese Aphorismen werden eines Tages als Buch unter dem Titel „Bühnenkenntnis“ gesammelt erscheinen (das diene Jedermann zur Warnung) und ich nenne sie aus Bescheidenheit „Gedanken“.

I. „Gedanke“.
Ein Intendant hat immer Recht.

II. „Gedanke“.
Wenn man sich in einen Konflikt einlässt, hüte man sich lediglich davor, der Schwächere zu sein.

III. „Gedanke“.
Wenn ein Theaterdirektor etwas verspricht und es nachher dennoch hält, dann sinke man vor ihm aufs Knie, und küsse mit dankbarer Inbrunst den Saum seines Gewandes.

IV. „Gedanke“.
Die unbemalte Seite der Kulisse ist weniger hübsch.

V. „Gedanke“.
Interessant ist aber nur das, was hinter den Kulissen gespielt wird.

VI. „Gedanke“.
Man kann einem jungen Künstler keinen besseren Rat geben, als daß er sein Talent ängstlich vor Jedem verberge. Ist es durch einen beklagenswerten Zufall trotzdem ruchbar geworden, so möge der Unglückliche durch ein ganzes Leben voll Demut und Reue die Verzeihung seiner Kollegen zu verdienen suchen.

VII. „Gedanke“.
Den Souffleur sieht man fast nie.

VIII. „Gedanke“.
Ein erfolgreicher Autor hat immer Bühnenkenntnis. Immer!

IX. „Gedanke“.
Komiker verstehen keinen Spaß.

X. „Gedanke“.
Der kürzeste Weg zum Direktor führt über die Hintertreppe. Wenn Jemand das Betreten dieses Pfades missbilligt, so besorgt er sicherlich, daß man ihm einmal da begegnen könnte.

XI. „Gedanke“.
Wenn zweihundert Paar Hände klatschen, so nennt man dies Beifall.

XII. „Gedanke“.
Freunde schaden nicht immer.

XIII. „Gedanke“.
Der Gönner betrachtet Deine Misserfolge als die Deinigen, Deine Erfolge als die seinigen.

XIV. „Gedanke“.
Wenn Dir etwas gelungen ist, so bitte Deine Freunde unverzüglich um Entschuldigung. Ist Dir dies nicht möglich, so verreise, erkranke oder stirb!

XV. „Gedanke“.
Das Publikum will nicht sich selbst auf der Bühne sehen, sondern etwas Schönes.

XVI. „Gedanke“.
Es gibt unter den Bühnenschriftstellern auch geistreiche Leute.

XVII. „Gedanke“.
In der Wirklichkeit kann man gewahren, wie alle Lebensverhältnisse vom Gemüt beherrscht werden, und darum will das Publikum auch auf der Bühne die Gemütlichkeit sehen. Es begnügt sich mit der falschen Gemütlichkeit.

XVIII. „Gedanke“.
Hoch, hoch, hoch, die bürgerliche Rührung!

XIX. „Gedanke“.
Über Verlobungen lacht man im Theater immer herzlich, weil die Schadenfreude uns Allen angeboren ist.

XX. „Gedanke“
Es sind auch schon schlechte Stücke ausgezischt worden.

XXI. „Gedanke“.
Statt eines Grundgedankens durchzieht blos Infanterie, Kavallerie und Artillerie die erfolgreichsten Lustspiele.

XXII. „Gedanke“.
Wenn ein Stück durchdringt, behauptet sein Verfasser nie. daß diese Tatsache auf die Verständnislosigkeit und Urteilsroheit der „Menge“ zurückzuführen sei. Wie kommt das?

XXIII. „Gedanke“.
Der Realist will das Publikum ohrfeigen, der Idealist will dasselbe berauschen. Manche Leute ziehen einen Rausch einer Ohrfeige vor.

XXIV. „Gedanke“.
Dieser Mann war zu aufrichtig, um Freunde, zu anständig, um Feinde zu haben. Man schwieg ihn also tot.

XXV. „Gedanke“.
Hören Sie, lieber Freund, das habe ich nie verstanden. Man gratuliert zu einem Erfolg!
wie überflüssig! Der Erfolg ist ja schon die Freude, die nicht mehr übertroffen werden kann.“

„Ja. wer sagt Ihnen denn, daß man dem Andern gratuliert, um ihm Freude zu bereiten? Man will ihm lediglich zeigen, daß man sich nicht ärgert.“

XXVI. „Gedanke“
Das Publikum lässt sich nur von berühmten Leuten langweilen.

XXVII. „Gedanke“.
Wenn ein Bühnendichter originell ist, so hat er sich das nur selber zuzuschreiben.

XXVIII. „Gedanke“.
Hingegen werden die geistreichen Männer, die nicht dumm sind, anders verfahren: sie werden lediglich solche Mätzchen machen, die schon dagewesen sind. Denn in diesen kennt sich der Direktor aus. Er wird die Nase rümpfen, sich über das abgedroschene Stück lustig machen und es augenblicklich aufführen.

XXIX. ,,Gedanke“.
Junger Mann! Der Direktor ist von Deinem Drama entzückt? Ich beklage Dich. Er wird es niemals spielen.

XXX. „Gedanke“.
Junger Mann! Das Schaffen ist Dir verleidet, und Du willst in einer begreiflichen Aufwallung menschlichen Empfindens nunmehr auch Anderen das Schaffen verleiden - mit einem Wort: Du gehst unter die Rezensenten. So beherzige Folgendes! Gerechter Tadel macht Dich beim Publikum, gerechtes Lob bei den Künstlern beliebt. Wenn Du sie maßlos lobst, werden die Künstler sich Deine Huldigungen gefallen lassen und Dich tief verachten. Wenn Du sie aber maßlos tadelst, werden sie Dich hassen und anbeten, Tag und Nacht an Dich denken, vor Dir zittern. Dich vergöttern. Wähle!

XXXI. „Gedanke“.
Ein bereits renommierter Schauspieler, dem es auf zwei Zeilen Reklame mehr nicht ankommt. ist Journalisten gegenüber mit seinem hinreißenden Lächeln immer sparsam.

XXXII. „Gedanke“.
Der Schauspieler verachtet den Dichter, der Dichter verachtet den Zuschauer, der Zuschauer verachtet den Schauspieler. So ergeht es Jedem nach Verdienst.

XXXIII. ,,Gedanke“.
Grabschrift für einen Claqueur: ,,Der Vorteil liegt auf der Hand!“

XXXIV. „Gedanke“.
Dem, der uns verdrängt hat, vermögen wir Alles zu verzeihen, nur seine Vorzüge nicht.

XXXV. „Gedanke“.
Begabte Poeten werden in der Regel alt und grau, bevor sie das Licht der Bühnenwelt erblicken. Mittlere Talente machen immer durch eine Friseuse die Bekanntschaft jener gutmütigen Schauspielerin, deren Freund mit einem Gläubiger des Direktors auf vertrautem Fuß steht, und sie kommen auf die Bühne. Für die gänzlich Unfähigen aber sorgt Gott.

XXXVI. „Gedanke“.
Den Erfolg teilt der Dichter mit dem Dramaturgen, der sein Stück gelesen hat, mit dem Direktor, der es angenommen, mit dem Regisseur, der es eingerichtet, mit dem Dekorationsmaler, der die Prospekte geliefert, mit dem Tapezier, der die stimmungsvollen Möbel gedichtet, mit den Schauspielern, die die Rollen „geschaffen“, mit dem Schneider, der die Kostüme ersonnen, mit dem Inspizienten, der kein Stichwort versäumt, mit dem Souffleur, mit den Freunden im parterre, die zur rechten Zeit applaudiert, und den Feinden, die im unrichtigen Augenblick gezischt haben. Der Misserfolg gehört ihm allein.

XXXVII. „Gedanke“.
Ein Direktor klagte mir einst:
„Sie glauben gar nicht, wie viele Feinde ich habe. Jeder dieser „Verkannten“, deren Stücke ich nicht aufführe, trägt es mir lebenslänglich nach. Das sind die Leute, die in meinem Theater Lärm machen, weil ich ihre Stücke nicht spiele, feinden sie mich an. Wie finden Sie das?“

Ich lächelte sanft und demütig:

„Verehrter Freund, das ist nun einmal die Art der „Verkannten“, wie Sie sich so wunderbar ironisch ausdrücken. Bedenken Sie jedoch gütigst nur das Eine: Dafür, daß Sie ihre Stücke nicht aufführen, sind Ihnen die „Verkannten doch eigentlich nicht zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet!“

XXXVIII. „Gedanke“.
Einzelne schlechtgelaunte Moralisten behaupten, daß es keine hilfsbereiten Freunde gebe. O doch! Es gibt viele Leute, die Einem helfen, wenn man sie nicht mehr braucht.

XXXIV. „Gedanke“.
Junger Mann! Alle diese sogenannten Weisheitssprüche, die ich mit meinem Herzblut für Dich geschrieben, werden Dich nie und nimmer abhalten, ganz dieselben Narreteien zu begehen. Ich weiß es. Wär’ auch jammerschade, wenn es anders wäre. Die Torheit ist die ewige Jugend des menschlichen Geschlechts. Aber wenn Dich Dein Tatendrang schon nicht ruhen lässt, und Du um jeden Preis die Türen einrennen willst, so suche Dir zu diesem Zweck wenigstens die offenen aus.

XXXX. „Gedanke“.
Wenn mir nichts Gescheites einfällt, schreibe ich Weisheitssprüche.

Vorletzter „Gedanke“
Hör’ auf, so lange man Dir noch zuhört.

Letzter (versöhnender) „Gedanke“.
Nach uns fallen Andere hinein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.