Blasiert.

Man ist es heutzutage mit zwanzig Jahren. Ich sage „heutzutage“ nicht etwa, um die früheren Zeiten herauszustreichen. Erfindungen, Entdeckungen haben die Menschen gewiss nicht dümmer gemacht, und auch nicht schlechter. Man vervollkommnet die Schießgewehre, aber als man noch mit Streitaxt und Morgenstern zu Felde zog, hatte man ebenso wenig die Absicht, dem Feinde das Leben zu verlängern oder es ihm süß zu machen. Vielleicht brennen die treulosen Kassierer gegenwärtig schneller durch, aber man holt sie auch viel schneller ein. Was mich selber betrifft, so ziehe ich die Zeit, in der ich lebe, jeder andern vor, weil mir dieser sonnige Tag gestattet, mich mit einem getrüffelten Kapaun und einem sehr geistreichen Burgunder zu unterhalten Die Vergangenheit lässt mich kalt, und an die Zukunft zu glauben kann ich mich nicht entschließen. Der gestrige wie der morgende Tag sind die jüngsten meiner Sorgen. Ich liebe nur die Gegenwart.

Wegen dieser rein persönlichen Mitteilung bitte ich vielmals um Entschuldigung. Sie sollte lediglich dartun, daß ich nicht als geschworener Feind meiner Zeit gegenüberstehe, wie dies leider von vielen Moralisten, Aphoristen, Plauderern, Beobachtern, Philosophen und anderen Denkern beliebt wird. Ich hege die unerschütterliche Ansicht, daß Alles immer so war und immer so sein wird, wie es zur seligen Stunde ist. Mit einem eisernen Inventar von Torheit behelfen sich alte Jahrhunderte. Wie Obst in Essig, findet man in den Schriften uralter Satiriker Narrheiten aufbewahrt, die denen vorn Tage verblüffend gleichen. Wir haben gar keinen Grund, stolz oder beschämt zu sein - es war immer so.


Wenn ich nun sage: man ist heutzutage mit zwanzig Jahren blasiert, so will ich damit den jungen Leuten die sich in dieser erfreulichen Lage befinden, nichts Unangenehmeres gesagt haben, als wenn ich beispielsweise konstatierte, daß man die Leibröcke jetzt wieder länger und die Westen tiefer ausgeschnitten trägt. Blasiertheit und lange Schöße, Beides gehört zur Garderobe, über Beides kann man scherzen oder ernsthaft reden. Die Schneiderseelen werden immerdar über die Seelenschneider lachen und umgekehrt. Auf nichts blicken wir hochmütiger herab, als auf das, was wir nicht verstehen. (Dies ist ein Aphorisma.) vielleicht lässt sich hieraus die Tatsache erklären, dass man umso stiller, bescheidener und demütiger wird, je mehr Dinge man verstehen gelernt hat.

So habe auch ich eines Tages die Blasiertheit der Jünglinge von zwanzig Jahren verstehen gelernt - und zwar in einem Zeitpunkte, wo ich selbst schon aufgehört hatte, ein Zwanzigjähriger zu sein. Es war das nach einer längeren Reise von der ich eben heimgekehrt war. Auf diese Reise hatte ich mich begeben, weil ich die langweiligen oder widerwärtigen Gesichter meiner Bekannten schon auswendig wusste und nach fremden Gesichtern lechzte. Ich war dann nach Monaten zurückgekehrt, weil ich die Fremden nachgerade ebenso satt bekam, wie vorher die Bekannten. Es gibt vielleicht nichts Köstlicheres, als die Heimkehr, wenn die Ausfahrt nicht doch noch schöner ist. Die Dinge, die wir zurückließen, gewinnen, während wir unterwegs sind. Wenn Einer sich auf die Wanderschaft auslässt, so tut er es eigentlich gar nicht für sich, sondern für eine Menge gleichgültiger Leute, welche dadurch interessant werden . . . Mein Erstes, als ich ankam, war, daß ich eine Gesellschaft besuchte. Zehrt oder zwölf Personen begrüßten mich überrascht und liebenswürdig mit den gleichen Worten: „Ah, da sind Sie ja! . . . Wo haben Sie so lange gesteckt?“ Worauf ich zehn- oder zwölfmal die gleiche Antwort gab: „Im Süden!“ und ein paar Städtenamen nannte. Dann hatte ich den Reiz der Neuheit bei diesen Freunden wieder eingebüßt und lungerte als ein Mensch, der nicht tanzt und den Damen nichts zu sagen hat, beschäftigungslos in den Ecken herum. Ab und zu erhaschte ich, ohne es zu beabsichtigen, einige Gesprächsfetzen: Klatsch, Verlobungs- oder Ehescheidungsgerüchte; „Wohin gehen Sie morgen?.. oder „Fräulein, wie Sie heute wieder reizend aussehen!“ und dergleichen. Wie oft hatte ich das Alles schon gehört, selber gesagt! . . .

In dem Augenblicke, wo meine Selbsterkenntnis so weit war, hörte ich hinter mir jemanden sagen: „Ja, ich bin blasiert!“. . .

Das Zusammentreffen war komisch. Ich wandte mich halb um und schielte nach dem Sprecher. Und ich hätte beinahe auf gelacht Das war ein hübscher, junger Mensch mit roten Wangen und glänzenden Augen der einem gläubigen Backfischchen seine Blasiertheit vortrug. Sie glaubten Beide daran. Zum Glücke entdeckten sie den Horcher nicht und ich konnte dem drolligen Bekenntnis weiter lauschen. Er teilt ihr ausführlich mit, was Alles in der Welt ihn nicht mehr interessiere: Tanz, Theater, Gesellschaften – nichts, nichts mehr! Es war zu traurig. Er war von Allem enttäuscht. Enttäuscht! Mit welcher Grabesstimme er das vorbrachte! und wie interessant er ihr und sich selbst vorkam! Das war ergreifend komisch und dabei lächerlich rührend. Rührend, wie ein plärrender Refrain, wie ein verschollenes Kinderlied, das plötzlich aufklingt. Wie oft hatte ich das Alles schon gehört und - und selber gesagt! . . .

Die beiden Leutchen hinter nur hopsten dann zu Tode bekümmert im Walzertakte fort und unterhielten sich königlich weiter. . .

Das ist sie, die rotbäckige und elegische Zeit! Ich finde sie sehr, sehr liebenswürdig, obwohl ich sie um keinen Preis der Welt noch einmal durchleben wollte. Und die Blasiertheit der Zwanzigjährigen finde ich auch liebenswürdig, reizend bezaubernd. Dass es eine Pose ist, verstimmt mich gar nicht, denn es ist keine der schlimmsten. Es ist keine jener infamen Posen, die auf Gewinn abzielen. Die Leute, die sich begeistert stellen, sind nämlich viel widerwärtiger, als Diejenigen, welche Skeptizismus heucheln. . . . Was sagt denn der ,,blasierte“ junge Mensch? Er sagt: ,,Die Welt, die ich soeben kennen lerne, gefällt mir nicht. Es gibt in ihr keine Riesen und Zwerge, keine Gespenster und keine Feen. Das heroische oder romantische Ideal ist in der Wirklichkeit ebenso wenig zu finden, wie jene Gestalten des Kindermärchens. Die Welt ist nicht so farbig, wie ich mir sie gedacht. Sie ist grau, nüchtern, abstoßend. Ich will von ihr nichts mehr wissen. Ich bin blasiert . . .“ Und darum gefällt mir die Blasiertheit der Zwanzigjährigen so gut, wenn auch Viele sie als eine unausstehliche Affektiertheit ansehen wollen. Nein, sie zeugt von vorhergegangenen farbigeren Träumen, deren nur die Bessern fähig sind. Die Träume zerfließen.

Aber auch die junge Blasiertheit vergeht. Wie Alles, was man oft sagt, wird sie endlich nicht wahr oder unwahr. Denn ich spreche nur von derjenigen Blasiertheit, die ursprünglich aufrichtig gemeint gewesen. Der dumme Junge, der auf einem Balle nicht tanzt, um sich dadurch größer zu machen, er interessiert mich gar nicht. Er ist innerlich entweder einfältig schüchtern oder ganz einfach borniert. Es verlohnt sich nicht der Mühe, von ihm zu reden. Seine „Blasiertheit“ ist reine Albernheit. Nur scheinbar gleicht seine gelangweilte Geberde der müden meines gekränkten kleinen Idealsuchers, der jungen Mädchen sein Weltleid klagt. Jener ist eine groteske Charge, die mit einem einzigen Federstrich erschöpfend charakterisiert ist. Dieser dagegen eine wahrhaft humoristische Figur, die eine liebevolle und eingehende Schilderung verdient und verlangt. Jener findet die Trauben, die zu hoch hängen, sauer. Dieser beklagt, daß die sauren Trauben nicht hoch genug hängen, man könnte sich dann immerdar einreden, sie wären süß. Jener ist der gierige und gemeine Philister. Dieser der Poet, auch wenn er merkwürdiger Weise keine Gedichte macht. Jener ist mit einem spöttischen Lächeln vollständig abgetan. Diesen bringt uns unser gerührtes Lächeln näher. Die Pose des Ersteren hat keine Milderungsgründe für sich., die Pose des Letzteren beruht auf einem edlen Schmerz, den sie falsch ausdrückt.

Es ist der Schmerz der Poeten.

La poésie passe. Mit ihren Freuden verlassen uns, wie sich s gebührt, auch ihre Schmerzen. Der kleine Zwanzigjährige wird älter. Seine großen Erwartungen hat er gänzlich aufgegeben - wenigstens bildet er sich das ein. Er wünscht nicht mehr das Unmögliche und kränkt sich darum auch nicht, wenn es ausbleibt. Er fordert nicht vom unfruchtbaren Meere, dass es Rosen hervorbringe; er wirft ganz einfach seine prosaischen Netze aus, wie die Anderen es tun, oder fährt mit seiner Schiffsladung von Küste zu Küste. Er beginnt zu arbeiten. Und allgemach kommt eine unerwartete, rätselhafte Seligkeit über ihn: das Glück der Arbeit! . . Mit dreißig Jahren ist man nicht mehr blasiert.

Nur schade, daß man nicht immer arbeiten kann. Man wird von der Arbeit ebenfalls müde, wie vom Müßiggang, wenn auch viel später. Oder wenn man noch nicht müde ist, so hat man doch schon genug. Das Erwerben muss auch einmal ein Ende nehmen, damit man sich des Erworbenen freue. Wenn aber das Hervorbringen so beglückend war, wie muss es erst das Hervorgebrachte sein! . . . Schwerer Irrtum! Jedes Werk hat Fehler, die nur sein Erzeuger kennt; jeder Reichtum hat Lücken, die nur sein Besitzer sieht. Schwerer ist diese Erfahrung. als es jene jugendliche war. Denn damals wurden die Träume von der Wirklichkeit umgebracht und es gab noch eine Zuflucht: zur Arbeit. Jetzt wird die Arbeit von ihrem eigenen Ergebnis Lügen gestraft, aber es sind keine rosigen Träume mehr vorhanden von denen man sich trösten lassen könnte.

Und jetzt erst ist man blasiert. Ohne Pose, ohne überschwängliche Geberde – wortlos, still,
kalt . . .


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.