An Wilhelm Petersen - Zürich, den 21. September 1882

Verehrter Freund!

Sie sehen, wie weit es kommt durch die Schreibverbote, die Sie den Freunden anlegen! Mißbrauch und Müßiggang sind aller Laster Anfang. Glücklicherweise steht jetzt der Umzugstrubel vor der Türe, und zum Aufräumen gehört auch das Abtragen der Briefschulden, damit die belasteten Gedanken frei werden und der nächsten Zukunft beispringen können ...


Sie haben auch vollkommen recht, wenn Sie bei mir Verständnis und Mitgenuß der Sommerherrlichkeit Ihres Landes voraussetzen, wie Sie dieselbe schildern, und ebenso recht haben Sie, wenn Sie weislich zur guten Jahreszeit dort bleiben, statt sich auf Bahnhöfen und in engen Berghotelzimmern herumzutreiben. Es will niemand mehr bei sich zu Hause im Sommer ›aufs Land‹ gehen und genießt so bald gar nichts mehr von der Natur.

Hier haben wir einen kompletten Regensommer; es sieht betrübt aus. Die Bauern sind vergrämt und wählen Leute in die Behörden, die den unreifen Trauben entsprechen, verwerfen alle Gesetze, die man vorlegt, und werden wahrscheinlich nächstens verlangen, daß die jährliche Festsetzung der Witterung jeweilig der Volksabstimmung unterbreitet werde, durch besondern Gesetzentwurf ...

Meine Schwester befindet sich seit dem Frühjahr wieder besser, was das Einzelbefinden angeht; sie bewegt sich herum und läßt niemand was machen. Allein die allgemeine Schwäche und Gebrechlichkeit ist geblieben und wird schwerlich mehr weichen. Sie hat eben den Teufel im Leib und will weder ruhen noch ›abgeben‹, aus dem falschen Instinkt, es würde dann fertig sein, und so kommen diese armen Geschöpfe aus dem circulus vitiosus nicht heraus. Trotzdem dankt sie bestens für Ihre freundlichen Grüße und erwidert dieselben geziemendlichst. Ich ersorge aus obigen Gründen die Umzugsgeschichte, da sie keine Idee davon hat, den ganzen Krempel jemandem zu übergeben und ihn ruhig machen zu lassen. Nachher, wenn ich erst im neuen Arbeitszimmer angesiedelt und eingerichtet bin, denke ich fest zu arbeiten und vor Torschluß noch etwas vor mich zu bringen. Nun will ich Sie, verehrter Freund, wieder Ihrem schönen musengesegneten Treiben überlassen und bitte Sie, mich Ihrer Frau Gemahlin samt Kindern in empfehlende Erinnerung zu bringen. Die Briefpausen sollen auch wieder kürzer werden.

Ihr grüßender
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe